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IV. Der neue Commis des Hauses Fromont.

Es war bereits heller Tag, als Fromont junior erwachte. Zwischen dem Drama, das sich unter ihm abspielte, und dem Feste, das über ihm jauchzte, hatte er die ganze Nacht mit krampfhaft geschlossenen Fäusten in jenem Todtenschlafe gelegen, wie ihn Verbrecher am Tage vor ihrer Hinrichtung, besiegte Feldherrn am Abend ihrer Niederlage schlafen – ein Schlaf, aus dem man nie wieder erwachen möchte, und der in Folge des Mangels jeglicher Empfindung dem Tode gleicht.

Das grelle Licht, welches, durch den hohen Schnee im Garten und auf den benachbarten Dächern noch verstärkt, durch die Vorhänge fiel, rief ihn in die Wirklichkeit zurück. Er fühlte sich wie von einem Stoße zu Boden geschmettert und hatte, selbst bevor er noch einen Gedanken fassen konnte, jenes unklare Gefühl von Traurigkeit, das vergessene Unglücksfälle zurückzulassen pflegen. Das wohlbekannte Arbeitsgeräusch der Fabrik, das dumpfe Schnauben und Stampfen der Maschinen tönte zu ihm herüber. Die Welt stand also noch! Und nach und nach erwachte in ihm der Gedanke an die auf ihm lastende Verantwortlichkeit.

»Heute ist der Tag« – – – murmelte er mit einer unwillkürlichen Bewegung nach dem Dunkel des Alkovens hin, als ob er Lust hätte, wieder in den frühern langen Schlaf zurückzusinken.

Die Fabrikglocke läutete, ihr folgten andere Glocken in der Nachbarschaft, dann erklang das Angelus von den Thürmen.

»Schon zwölf Uhr! ... Wie lange ich geschlafen habe!« ...

Er fühlte einige Gewissensbisse, aber auch eine große Erleichterung, daß das Drama des Zahltages sich ohne ihn abgespielt hatte. Wie hatten sie es unten angefangen? Warum hatte man ihn nicht gerufen?

Er stand auf, schob die Vorhänge auseinander und bemerkte nun Risler senior und Sigismund, die im Garten mit einander sprachen, sie, die so lange nicht mit einander geredet hatten. Was war denn nur geschehen? ... Als er zum Hinuntergehen fertig war, fand er Clara an der Thür seines Zimmers.

»Du brauchst nicht hinunter zu gehen,« sagte sie.

»Warum nicht?«

»Bleib da ... Ich werde dir alles erklären.«

»Aber was giebt's denn? ... Ist jemand von der Bank gekommen?«

»Ja – die Tratten sind eingelöst.«

»Eingelöst?«

»Risler hat Geld angeschafft ... Er läuft seit dem frühen Morgen mit Planus herum ... Seine Frau muß prachtvolle Schmucksachen gehabt haben ... Das Diamantenhalsband allein ist für zwanzigtausend Franken verkauft worden ... Er hat auch das Haus in Asnières mit allem Inventar veräußert, da aber die Registrirung des Kaufvertrages zu viel Zeit erforderte, haben Planus und seine Schwester die Summe vorgeschossen« ...

Sie wandte sich beim Reden von ihm ab. Er seinerseits hielt den Kopf gesenkt, um ihren Blick zu vermeiden.

»Risler ist ein ehrenhafter Mann,« fuhr sie fort, »und als er erfuhr, von wem seine Frau all diesen Luxus hatte« – – –

»Wie?« unterbrach sie Georges entsetzt. »Er weiß?« – –

»Alles« ... entgegnete Clara leise.

Der Unglückliche erbleichte und stammelte:

»Dann aber – – – Und du?«

»O, ich – ich wußte es eher als Risler. Erinnere dich, gestern beim Nachhausekommen sagte ich dir, daß ich da draußen in Savigny sehr bittere Dinge vernommen, und daß ich zehn Jahre meines Lebens darum geben würde, wenn ich die Reise nicht gemacht hätte.«

»Clara!«

Ein Aufflackern leidenschaftlicher Zärtlichkeit übermannte ihn, und er trat einen Schritt vor, um sich seiner Frau zu nähern. Aber ihr Gesicht war so kalt, ihre Miene so traurig entschlossen, und in ihrem ganzen Wesen prägte sich ihre Verzweiflung in der Gestalt unnahbarer Gleichgiltigkeit so deutlich aus, daß er sie nicht ans Herz zu drücken wagte, wie er Lust hatte, und nur leise murmelte:

»Vergieb! ... vergieb!« ...

»Du mußt mich sehr kalt finden,« sagte das muthige Weib, »aber ich habe gestern alle meine Thränen vergossen. Du mochtest meinen, ich weinte wegen unseres Ruins, du täuschtest dich. So lange man jung und kräftig ist wie wir, ist eine solche Feigheit nicht erlaubt. Gegen das Elend sind wir gewappnet, wir können es bekämpfen ... Nein, ich weinte über unser vernichtetes Glück, über dich, über die Thorheit, die dich um deine einzige, deine wahre Freundin brachte« ...

Sie war schön, als sie so sprach, schöner als Sidonie es je gewesen, denn der reine Glanz, der sie umfloß, schien von hoch oben auf sie herabzustrahlen wie die Helle eines tiefblauen, wolkenlosen Himmels, während die unregelmäßigen Züge Sidoniens immer aussahen, als ob sie ihren Glanz und ihren herausfordernd frechen Reiz dem Lampenlichte irgend eines Winkel-Theaters verdankten. Das Kalte und Unbewegliche, das sich früher in Claras Physiognomie gezeigt hatte, war jetzt unter dem Einfluß der Sorgen, der Zweifel und aller Qualen der Leidenschaft lebendig geworden, und wie jene Goldbarren, die ihren Werth erst dann haben, wenn der Münzstempel sie getroffen hat, so hatte dies schöne, mit dem Bilde des Schmerzes gezeichnete Frauengesicht vom vorigen Tage her einen unverwischbaren Ausdruck bewahrt, der seine Schönheit vervollständigte.

Georges schaute sie bewundernd an. Sie erschien ihm wärmer, weiblicher und der Hindernisse wegen, die jetzt zwischen ihnen lagen, auch begehrenswerther. Reue, Verzweiflung und Scham regten sich jetzt gleichzeitig mit dieser neuen Liebe in seinem Herzen, und er wollte sich vor ihr niederwerfen.

»Nein, nein, steh' auf,« sagte Clara. »Wenn du wüßtest, woran du mich erinnerst, wenn du wüßtest, welches lügnerische, haßglühende Gesicht ich diese Nacht zu meinen Füßen sah.«

»O, ich, ich lüge nicht« ... erwiderte Georges bebend. »Clara, ich flehe dich an, im Namen unseres Kindes« – –

In diesem Augenblicke wurde an die Thür geklopft.

»Steh' doch auf. Du siehst, das Leben macht seine Forderungen an uns geltend« ... sagte sie leise und mit bitterm Lächeln. Dann erkundigte sie sich, was man von ihnen wolle.

Herr Risler ließ den Herrn nach unten ins Comptoir bitten.

»Gut,« erwiderte sie. »Sagen Sie nur, man würde sogleich kommen.«

Georges wollte gehen, sie aber hielt ihn zurück:

»Nein, laß mich gehen. Er darf dich noch nicht sehen.«

»Aber« – – –

»Bleib', ich will's. Du weißt nicht, in welchem Zustande von Zorn und Entrüstung sich der Unglückliche befindet, den ihr betrogen habt. Wenn du ihn diese Nacht gesehen hättest, wie er seiner Frau die Handgelenke zerquetschte« ...

Sie sah ihm bei diesen Worten mit einer für sie selbst grausamen Neugier in die Augen, aber Georges gab kein Zeichen von Erregung und begnügte sich, zu erwidern:

»Mein Leben gehört diesem Manne.«

»Es gehört auch mir, und ich will nicht, daß du hinunter gehst. Es hat nun im Hause meines Vater genug Scandal gegeben. Bedenke doch, daß die ganze Fabrik Kenntnis von dem hat, was vorgeht. Man belauscht, man belauert uns. Heute Morgen bedurfte es der ganzen Energie der Werkmeister, um die Arbeit in Gang zu bringen und alle diese neugierigen Blicke an ihre Verrichtung zu fesseln.«

»Aber es wird aussehen, als ob ich mich versteckte.«

»Und wenn das! Das ist so recht Männerart. Vor dem größten Verbrechen: die Gattin zu täuschen, den Freund zu betrügen, scheuen sie nicht zurück, der Gedanke aber, man könne sie der Feigheit beschuldigen, verletzt sie mehr als alles ... Höre übrigens. Sidonie ist fort, für immer fort. Wenn du nun ausgehst, so werde ich denken, du willst sie aufsuchen.«

»Gut denn, ich bleibe,« sagte Georges. »Ich werde alles thun, was du verlangst.«

Clara ging hinunter und trat in das Kassenzimmer.

Wer jetzt Risler senior so ruhig wie gewöhnlich mit den Händen auf dem Rücken hier hätte auf- und abschreiten sehen, der würde nie geahnt haben, was alles seit dem gestrigen Tage im Leben desselben vorgegangen war. Was Sigismund anbetrifft, so strahlte derselbe vor Glück, denn er sah von alledem nur den zur bestimmten Stunde bezahlten Wechsel und die unversehrte Ehre des Hauses.

Als Frau Fromont erschien, lächelte Risler traurig und schüttelte den Kopf.

»Ich dachte mir's wohl, daß Sie statt seiner kommen würden, aber nicht mit Ihnen habe ich jetzt zu thun. Ich muß ihn durchaus sehen und mit ihm sprechen. Wir sind heute Morgen unsern Verpflichtungen nachgekommen, das Schlimmste ist überstanden, aber wir haben uns noch über viele Sachen zu verständigen.«

»Risler, bester Freund, ich bitte Sie, warten Sie noch ein wenig.«

»Warum, Madam Schorsch? Es ist keine Minute zu verlieren ... O, ich weiß, Sie fürchten, ich möchte mich vom Zorne fortreißen lassen ... Beruhigen Sie sich ... beruhigen Sie sich ... Sie wissen, was ich Ihnen gesagt habe: es giebt eine Ehre, die mir höher steht als meine eigene, die Ehre der Firma Fromont. Durch meine Schuld ist dieselbe bloßgestellt. Ich muß vor allem das Übel wieder gut machen, das ich angerichtet habe oder doch habe geschehen lassen.«

»Ihr Benehmen uns gegenüber ist bewunderungswürdig, bester Risler, ich weiß es wohl.«

»O, Madame ... wenn Sie ihn sähen! ... er ist ein Heiliger« ... sagte der arme Sigismund, der, da er seinen Freund nicht mehr anzureden wagte, ihm wenigstens seine Reue zeigen wollte.

Clara fuhr fort:

»Aber fürchten Sie nicht – – –? ... Die menschlichen Kräfte haben eine Grenze ... Vielleicht möchte beim Anblick dessen, der Ihnen soviel Leid angethan hat« – – –

Risler ergriff ihre Hände und schaute ihr mit aufrichtiger Bewunderung tief in die Augen.

»Holdes Wesen, das nur von dem Bösen spricht, das man mir angethan hat ... Sie wissen also nicht, daß ich ihn ebenso sehr wegen des Verrathes hasse, den er an Ihnen begangen hat? ... Doch für mich existirt von alledem in diesem Augenblicke nichts. Ich bin jetzt nur ein Kaufmann, der sich mit seinem Associé zum Besten des Hauses verständigen will. Er mag also ohne Furcht herunter kommen, und wenn Sie einen Ausbruch meinerseits befürchten, so bleiben Sie bei uns. Ich werde nur die Tochter meines ehemaligen Prinzipals anzusehen brauchen, um mich sofort meines Wortes und meiner Pflicht zu erinnern.«

»Ich glaube Ihnen, mein Freund,« entgegnete Clara und ging hinauf, um ihren Gatten zu holen.

Der erste Augenblick der Zusammenkunft war fürchterlich. Georges war bleich, erregt, gedemüthigt. Hundertmal lieber hätte er sich auf zwanzig Schritt der Pistole dieses Mannes gegenüber befunden und den Schuß erwartet, während er jetzt gezwungen war, als nicht bestrafter Verbrecher vor ihm zu erscheinen, und sich genöthigt sah, seine Gefühle zu bändigen und zur Alltagsruhe einer geschäftlichen Unterredung herabzudrücken.

Risler stellte sich, als sähe er ihn nicht, und fuhr fort, mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.

»... Unser Haus macht eben eine furchtbare Krisis durch,« sagte er. »Heute haben wir die Katastrophe noch abgewendet, nur ist das nicht der letzte Wechsel ... Diese verfluchte Erfindung hat mich zu lange von den Geschäften abgezogen. Zum Glück bin ich aber jetzt wieder frei und kann mich nun darum bekümmern. Aber auch Sie müssen wieder Hand ans Werk legen. Die Arbeiter und Commis sind ein wenig dem Beispiel der Prinzipale gefolgt. In der Fabrik ist eine unbeschreibliche Saumseligkeit und Nachlässigkeit eingerissen. Heute Morgen hat man sich seit Jahresfrist zum ersten Male zur richtigen Zeit an die Arbeit gemacht. Ich rechne darauf, daß Sie das alles wieder in Ordnung bringen. Was mich anbetrifft, so werde ich mich wieder ans Zeichnen machen. Unsere Muster sind veraltet. Wir brauchen neue für die neuen Maschinen. Ich habe zu unsern Druckpressen großes Vertrauen. Alle Versuche damit sind über Erwarten geglückt. Wir haben daran sicher etwas, womit wir unserm Geschäfte wieder aufhelfen können. Ich habe Ihnen das nicht früher gesagt, weil ich Ihnen eine Überraschung bereiten wollte, jetzt aber haben wir einander keine Überraschung mehr zu bereiten – nicht wahr, Georges?«

Seine Stimme klang so herzzerreißend ironisch, daß Clara einen Ausbruch fürchtete und zusammenbebte. Risler aber fuhr in ruhigem Tone fort:

»Ja, ich glaube Ihnen die Versicherung geben zu können, daß die ›Risler-Presse‹ in sechs Monaten prächtige Resultate ergeben wird. Nur werden diese sechs Monate schwere Mühe kosten. Wir müssen uns einschränken, die Unkosten vermindern und sparen, wo und wie wir können. Wir hatten bis jetzt fünf Musterzeichner, von heute ab werden es nur zwei sein. Indem ich meine Nächte zu Hilfe nehme, werde ich die übrigen drei ersetzen. Außerdem verzichte ich von diesem Monat ab auf meinen Antheil als Associé. Ich erhebe mein Gehalt als Werkführer wie früher, und weiter nichts.«

Fromont junior wollte einen Einwurf machen, eine Geberde seiner Frau aber hielt ihn zurück, und Risler senior fuhr fort:

»Ich bin nicht mehr Ihr Associé, Georges. Ich werde wieder Commis, was ich immer hätte bleiben sollen ... Vom heutigen Tage ab ist unser Gesellschaftsvertrag aufgehoben. Ich will's, verstehen Sie mich recht, ich will's. So wird unsere Stellung zu einander bis zu dem Tage bleiben, wo das Haus aus der Verlegenheit ist, und wo ich – – – Doch was ich dann thun werde, das geht nur mich an ... Das war's, was ich Ihnen zu sagen hatte, Georges. Sie müssen sich jetzt eifrig um die Fabrik bekümmern, man muß Sie sehen, die Gegenwart des Herrn fühlen, und ich glaube, es wird noch manches von unserm Unglück wieder gut zu machen sein.«

Während der nun folgenden Pause hörte man ein Geräusch von Rädern im Garten, und zwei große Möbelwagen machten an der Freitreppe Halt.

»Verzeihen Sie,« sagte Risler, »ich muß Sie einen Augenblick verlassen. Es sind die Wagen vom Auctionshause, die alles abholen sollen, was ich da oben habe.«

»Wie! Sie verkaufen auch Ihre Möbel?« fragte Frau Fromont.

»Gewiß ... bis aufs letzte Stück ... Ich gebe sie der Firma zurück, der sie ja gehören.«

»Aber das ist unmöglich,« warf Georges ein. »Das kann ich nicht dulden.«

Risler fuhr entrüstet herum:

»Was sagen Sie? Was können Sie nicht dulden?«

Claras bittende Geberde hielt ihn zurück.

»Es ist ja wahr ... ist ja wahr,« murmelte er und verließ schnell das Zimmer, um der Versuchung, seinem Herzen endlich Luft zu machen, aus dem Wege zu gehen.

*

Das zweite Stockwerk stand verödet. Das schon am Morgen abgelohnte und entlassene Gesinde hatte die Wohnung völlig in der durch das Fest verursachten Unordnung zurückgelassen, und so bot dieselbe in allen Theilen den eigentümlichen Anblick eines Ortes dar, an welchem sich ein Drama abgespielt hat, und der nun gleichsam zwischen den geschehenen und den kommenden Ereignissen in der Schwebe bleibt. Die offenen Thüren, die in den Winkeln aufgehäuften Teppiche, die mit Gläsern beladenen Präsentirbretter, die Zurüstungen für das Souper, die gedeckte und noch völlig unberührte Tafel, der beim Tanzen aufgewirbelte Staub auf den Möbeln, der Geruch von Punsch, Puder und verwelkten Blumen, der die Luft erfüllte – alle diese Einzelheiten stürmten gleich beim Eintritt auf Rislers Seele ein.

Im Salon, in welchem das Unterste zu oberst gekehrt schien, stand noch das Klavier offen, auf dem Notenpult lag das Bacchanal aus »Orpheus in der Unterwelt« aufgeschlagen, und die buntfarbigen Tapeten, die über dieser Unordnung schimmerten, sowie die umgestürzten, gleichsam vor Schreck durch einander geworfenen Sessel, gaben dem ganzen das Aussehen eines Salons an Bord eines schiffbrüchigen Packetboots in einer jener entsetzlichen Nächte, wo man mitten im Gewirr eines heitern Festes plötzlich vernimmt, daß das Schiff ein Leck bekommen und das Wasser von allen Seiten hereinstürzt.

Man begann die Möbel hinunter zu schaffen.

Risler sah dem Treiben der Träger mit gleichgiltiger Miene zu, als befände er sich bei einem Fremden. Dieser Luxus, der ihn früher so stolz und glücklich gemacht hatte, flößte ihm jetzt einen unüberwindlichen Ekel ein. Dennoch empfand er eine eigenthümliche Aufregung, als er das Zimmer seiner Frau betrat.

Es war ein großes Gemach in blauer Seide mit weißen Spitzen, ein echtes Cocotten-Nest. Zerrissene und zerknitterte Tüll-Volants, Schleifen, gemachte Blumen lagen hier und dort umher. Die Wachskerzen vor dem Toilettenspiegel waren völlig niedergebrannt und hatten die gläsernen Leuchtereinsätze zersprengt. Das von blauseidenen Spitzen und Behängen verschleierte Bett mit seinen aufgezogenen und zurückgeschlagenen Gardinen war bei dem Wirrwarr unberührt geblieben und glich dem Lager einer Todten, einem Paradebette, in welchem niemand mehr schlafen sollte.

Rislers erste Empfindung beim Eintreten war eine Regung fürchterlichen Zorns: er hätte über diese Sachen herfallen und alles zerreißen, zerbrechen, zermalmen mögen. Nichts gleicht einem Weibe mehr als ihr Zimmer. Selbst wenn sie abwesend ist, lächelt uns ihr Bild noch aus den Spiegeln an, die es aufgefangen haben. Eine Kleinigkeit von ihr, von ihrem Lieblingsparfüm bleibt an allem zurück, was sie berührt hat. Auf den Kissen des Divans findet man noch ihre Stellungen wieder und folgt zwischen dem Teppichmuster der Spur ihrer Schritte vom Spiegel zum Toilettentisch. Was hier besonders an Sidonie erinnerte, war eine mit kindischen Nippsachen beladene Etagère: kleine, nichtssagende Spielereien aus chinesischem Porzellan, mikroskopische Fächer, Puppengeschirr, vergoldete Schühchen, kleine Schäfer und Schäferinnen, die einander gegenüber standen und sich kalte, blitzende Porzellan-Blicke zuwarfen. Diese Etagère war Sidoniens Seele, und ihre immer alltäglichen, eitlen, kleinlichen, inhaltslosen Gedanken glichen diesem albernen Tand. Ja wahrhaftig, hätte Risler im Zorne der vergangenen Nacht dies kleine, gebrechliche Köpfchen zerschmettert, so würde man statt des Hirns eine Unmenge von diesem Etagèren-Tand haben auf den Boden rollen sehen.

Beim Geräusche der Hammerschläge und beim Ab- und Zugehen der Träger dachte der arme Mann traurig über alle diese Dinge nach, als plötzlich ein tappender, wichtig thuender Schritt sich hinter ihm hören ließ und außer Athem, roth und flammend Herr Chèbe, der kleine Herr Chèbe, erschien. Wie immer, behandelte er seinen Schwiegersohn auch heute von oben herab.

»Was ist denn das? Was höre ich? Ah, Sie ziehen also aus?«

»Ich ziehe nicht aus, Herr Chèbe – ich verkaufe.«

Der kleine Mann machte einen Sprung wie ein Karpfen im siedenden Wasser.

»Sie verkaufen? Und was denn?«

»Alles,« entgegnete Risler mit dumpfer Stimme, ohne ihn auch nur anzusehen.

»Ei nun, Schwiegersohn, ein bißchen Vernunft. Mein Gott, ich behaupte nicht, daß Sidoniens Aufführung – – – Übrigens weiß ich nichts davon. Ich habe nie etwas davon wissen wollen ... Ich erinnere Sie nur an Ihre Würde. Was Teufel, man wäscht seine schmutzige Wäsche zu Hause! Man macht sich nicht den Leuten zum Schauspiel, wie Sie es seit heute Morgen thun. Sehen Sie doch diese Menschheit an den Fenstern der Werkstätten – und nun gar erst am Thor! ... Aber Sie sind im Munde des ganzen Viertels, mein Lieber.«

»Um so besser. Ist die Schande öffentlich gewesen, so mag es auch die Sühne sein.«

Diese anscheinende Ruhe, diese Gleichgiltigkeit gegen alle seine Bemerkungen brachten Herrn Chèbe zur Verzweiflung. Er änderte plötzlich das Verfahren und sprach zu seinem Schwiegersohn in jenem ernsten, dictatorischen Tone, in welchem man zu Kindern und Narren spricht.

»Wohlan! Nein, Sie haben gar nicht das Recht, irgend etwas von hier fortschaffen zu lassen. Ich widersetze mich dem in jeder Form, mit ganzer Manneskraft, mit all meiner väterlichen Autorität. Glauben Sie denn, ich lasse mein Kind von Ihnen aufs Stroh setzen? ... O nein ... gewiß nicht! Genug der Thorheiten. Es kommt nichts mehr aus der Wohnung heraus.«

Und Herr Chèbe schloß die Thür und pflanzte sich in heroischer Haltung vor derselben auf. Zum Teufel auch, hier stand ja sein eigenes Wohl mit auf dem Spiele. Wenn seine Tochter einmal aufs Stroh gesetzt war, wie er sich ausdrückte, so lief er große Gefahr, auch nicht mehr auf Federn zu schlafen. Er war herrlich in seiner Haltung als entrüsteter Vater, leider aber behauptete er dieselbe nicht lange. Zwei Hände, zwei Schraubstöcke, hatten ihn plötzlich bei den Handgelenken gepackt, und mit einem Male befand er sich wieder mitten im Zimmer und ließ den Möbelträgern die Thür frei.

»Chèbe, mein Junge, achten Sie genau auf meine Worte,« sagte Risler und beugte sich zu dem kleinen Manne herab. »Meine Geduld ist zu Ende ... Seit heute Morgen mache ich unerhörte Anstrengungen, um an mich zu halten, aber es gehört nicht viel dazu, um meinen Zorn zum Ausbruch zu reizen, und dann wehe dem, der mir unter die Hände kommt. Ich bin der Mann dazu, jemand todtzuschlagen ... Ich rathe Ihnen also, machen Sie sich schleunigst aus dem Staube« ...

Diese Worte wurden in einem solchen Tone gesprochen, und die Weise, in der sein Schwiegersohn ihn beim Sprechen schüttelte, war so beredt, daß Herr Chèbe auf der Stelle von der Wahrheit seiner Rede überzeugt war. Er stotterte sogar Entschuldigungen. Gewiß hatte Risler recht, daß er so verfuhr. Alle braven Menschen mußten ihm beipflichten ... Und dabei wich er langsam, Schritt für Schritt, nach der Thür zurück. Dort angelangt, fragte er schüchtern, ob die kleine Pension für Frau Chèbe noch ferner ausgezahlt werden würde.

»Ja,« entgegnete Risler, »aber gehen Sie nie über dieselbe hinaus, denn meine Stellung hier ist nicht mehr die nämliche. Ich bin nicht mehr Associé des Hauses.«

Herr Chèbe riß starr vor Staunen die Augen auf und machte ein so dummes Gesicht, daß man in der That glauben konnte, der Unfall, der ihn in seiner Jugend betroffen – wie man weiß der nämliche, der dem Herzog von Orleans zugestoßen war – sei kein Märchen seiner eigenen Erfindung. Er wagte aber nicht die geringste Bemerkung zu machen. Ganz entschieden, man hatte ihm seinen Schwiegersohn vertauscht. War denn dieser Tiger, der beim geringsten Worte borstig wurde und von nichts Geringerem sprach, als die Leute umzubringen – war das wirklich Risler?

Er machte sich demnach aus dem Staube, fand erst unten an der Treppe seine sichere Haltung wieder und schritt mit triumphirender Miene über den Hof.

Als alle Zimmer ausgeräumt und leer waren, machte Risler ein letztes Mal die Runde durch dieselben, nahm dann den Schlüssel und stieg zur Kasse hinunter, um ihn Frau Fromont einzuhändigen.

»Sie können nun die Wohnung vermiethen,« sagte er. »Das wird ein weiterer Zuschuß für die Fabrik sein.«

»Aber Sie, mein Freund?«

»O, ich für meinen Theil brauche nicht viel. Ein Feldbett da oben in einer der Mansarden – das ist alles, was ein Commis nöthig hat. Denn, ich wiederhole es, von heute ab bin ich nur noch Commis ... ein guter, wackerer, zuverlässiger Commis, über den Sie nicht zu klagen haben werden, das schwöre ich Ihnen.«

Georges, der mit Planus Rechnungen durchsah, wurde von diesen Worten des Unglücklichen so ergriffen, daß er hastig von seinem Stuhle aufstand. Heftiges Schluchzen erstickte ihn fast. Auch Clara war tief bewegt, und indem sie sich dem neuen Commis des Hauses Fromont näherte, sagte sie:

»Risler, ich danke Ihnen im Namen meines Vaters.«

»An ihn habe ich auch während dieser ganzen Zeit gedacht, Madame,« entgegnete er einfach.

In diesem Augenblicke trat der alte Achille ein und brachte die Post.

Risler nahm diesen Stoß von Briefen entgegen, öffnete ruhig einen nach dem andern und reichte sie dann in derselben Weise Sigismund hin.

»Da eine Ordre aus Lyon ... Warum hat man nach Saint-Etienne keine Antwort ertheilt?« ...

Mit aller Kraft versenkte er sich in diese geschäftlichen Einzelheiten und entwickelte dabei eine Verstandesschärfe, die gerade dem beständigen Streben seines Geistes nach Ruhe und Vergessenheit entsprang.

Plötzlich entdeckte er unter diesen großen, mit Firmenstempeln versehenen Couverts, deren Papier und Form die Comptoirarbeit, die Eile der Abfertigung verriethen, einen kleinern, sorgfältig mit einem Siegel verschlossenen Brief, der so heimlich zwischen den übrigen steckte, daß er ihn anfangs gar nicht bemerkt hatte. Er erkannte diese feinen, langgestreckten, festen Schriftzüge auf der Stelle: » Herrn Risler. – Persönlich,« das war Sidoniens Hand. Beim Anblick dieser Schrift empfand er dieselbe Wallung, die ihn vorhin oben im Zimmer seiner Frau ergriffen hatte.

All seine Liebe, all der Zorn des betrogenen Gatten loderten in seinem Herzen mit jener Stärke der Entrüstung auf, die zum Mörder macht. Was schrieb sie ihm? Welche neue Lüge hatte sie erfunden? Er wollte den Brief öffnen, dann aber hielt er inne. Er begriff, daß es um seinen Muth geschehen sein würde, wenn er das las, und beugte sich daher zu dem Kassirer hinüber.

»Sigismund, alter Freund,« sagte er leise, »willst du mir einen Dienst erweisen?«

»Ob ich will!« ... rief der brave Mann begeistert. Er war überglücklich, den Freund wieder im alten, herzlichen Tone reden zu hören.

»Sieh, da ist ein Brief für mich, den ich jetzt nicht lesen mag, denn ich bin sicher, das würde mich am Denken und am Leben hindern. Du wirst ihn mir aufheben und ebenso das hier« ...

Dabei zog er ein kleines, sorgfältig umschnürtes Päckchen aus der Tasche und reichte es dem Kassirer durch das Gitter zu.

»Das ist alles, was mir von der Vergangenheit, was mir von diesem Weibe bleibt ... Ich bin entschlossen, weder sie noch irgend ein Andenken an sie wiederzusehen, bevor ich nicht meine Aufgabe hier vollendet und gut vollendet habe ... Du begreifst, dazu habe ich meinen ganzen Verstand nöthig ... Zahle den Chèbes ihre kleine Rente aus ... Wenn sie selbst etwas verlangen sollte, so besorgst du das Nöthige ... Nie aber darfst du mir etwas davon mittheilen ... Und dies Depositum wirst du mir sorgfältig aufheben, bis ich es von dir zurückfordere.«

Sigismund verschloß das Packet und den Brief mit andern wichtigen Papieren in ein geheimes Fach seines Schreibtisches. Risler nahm sogleich die Durchsicht der Correspondenz wieder auf, aber während der ganzen Zeit sah er vor seinen Augen die feinen Schriftzüge tanzen, die eine Hand geschrieben, welche er so oft und so heiß an sein Herz gedrückt hatte.


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