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Vorwort.

Von den unzähligen Romanen der neuesten französischen Literatur haben namentlich vier: Flaubert's » Madame Bovary«, Goncourt's » Germinie Lacerteux«, Zola's » Assommoir« und Daudet's » Fromont jeune et Risler aîné«, die Aufmerksamkeit des Publikums wie der Kritik gefesselt. Sie scheinen berufen, als Charakteristica der genannten vier Hauptvertreter der realistischen Schule auf die Nachwelt zu kommen, denn einerseits haben die Autoren an diesen Producten ihre ganze Kunst erschöpft, und andererseits markirt die Ähnlichkeit des Gegenstandes die Verschiedenheit der Behandlung in solchem Grade, daß sich mit größter Sicherheit aus ihnen eine vollständige Charakteristik der Auffassungs- und Darstellungsweise der Verfasser entwickeln ließe.

Obschon nun der Kunstwerth dieser Romane ein nahezu gleicher ist, haben dieselben doch eine merklich verschiedene Aufnahme und Verbreitung gefunden: während » Madame Bovary«, anfangs von der Kritik aufs heftigste befehdet, jetzt fast nur noch von dieser gekannt und studirt wird, während » Germinie Lacerteux«, nur bei den literarischen Feinschmeckern volle Würdigung gefunden hat, hat » L'Assommoir« einige achtzig Auflagen erlebt und ist » Fromont jeune et Risler aîné«, der akademische Preis zu Theil geworden, der es in die Reihe der salonfähigen Werke erhebt. Dieser Unterschied ist die Folge der persönlichen Haltung der Autoren den Lesern und Kritikern gegenüber: Flaubert und die Goncourt verachteten dieselben, Zola trotzt ihnen, Daudet aber ist Hofmann und weiß allen gerecht zu werden. In seinen Schriften findet sich kein Wort, das nicht unbedenklich in jeder Gesellschaft ausgesprochen werden dürfte, kein Satz, der nicht salonfähig wäre – er ist nicht umsonst Secretär des Grafen Morny gewesen.

Wie fast alle neuern französischen Schriftsteller ist Daudet Realist, aber nicht von der strengen Observanz. Die Schonungslosigkeit, mit der diese Schule auch das Widerlichste ans Licht zerrt, die Unbarmherzigkeit, mit der sie die Wunden und Geschwüre der Gesellschaft unter die Lupe nimmt, die Härte, mit der sie bei allem nach dem unumwundensten Ausdruck sucht, ist ihm fremd, ja anscheinend antipathisch. Immer weiß er dem Häßlichen auszuweichen oder ihm durch Einflechten einer Schönheit ein wohlthuendes Gegengewicht zu geben, und seine Darstellung, wie schon erwähnt, ist immer decent. Man vergleiche z. B. nur die Schilderung, die er (im dritten Kapitel des ersten Buches des vorliegenden Romans) von der Lehre der kleinen Chèbe giebt, mit dem leider nur zu wahren Bilde, das Zola im elften Kapitel des » Assommoir« von dem Treiben in dem Atelier entwirft, in welchem Nana ihre Lehrzeit absolvirt: Zola ist wahrer und deshalb abschreckend, Daudet verschwiegener und deshalb angenehm; denn wenn es auch keine gefährlichen Wahrheiten giebt, so giebt es doch sehr häßliche. Namentlich durch diese Discretion im Gegensatze zu der Zola'schen Verwegenheit hat sich Daudet die Gunst des zartfühlendern Theils des Publikums erworben.

Auch noch in einer andern Beziehung hat er sich von den Regeln der realistischen Schule emancipirt. »Des trocknen Tons bin ich nun satt,« scheint seine südlich-lebendige Natur zuweilen auszurufen, und dann erblüht mitten im eintönig grünen Walde des Realismus eine phantastische Blume der Romantik, wie z. B. im vorliegenden Falle die »Sage vom blauen Männchen« zu Anfang des vierten Buches. Allerdings hat auch Zola einmal, in der » Faute de l'abbé Mouret«, seiner Phantasie die Zügel schießen lassen und Flaubert seine gewaltige Einbildungskraft in » Salammbô« bethätigt. Aber bei Zola ist das eine Ausnahme, und Flaubert's Phantasie stützt sich auch beim höchsten Fluge immer auf etwas Thatsächliches, während Daudet's Einbildungskraft sich mit ächt poetischer Freiheit bewegt und zierliche Arabesken um die gerade Linie der Fabel schlingt.

Denn bezüglich der eigentlichen Fabel hält sich Daudet streng an das realistische Recept: sie ist stets von der größten Klarheit, ohne alle jene Windungen und Verschlingungen, die z. B. aus vielen Wachenhusen'schen Romanen einen Irrgarten machen, in dem der Leser sich nur mit Mühe zurecht findet. Für die Wirkung des Ganzen ist diese Einfachheit von großem Belang: sie concentrirt die Aufmerksamkeit auf die Charaktere, stellt jede Einzelheit ins Licht und ersetzt dadurch aufs vortheilhafteste die Reflexionen des Autors, die immer störend wirken, mögen sie auch noch so gut und treffend sein.

Daudet vereint also in gewisser Weise die Vorzüge der realistischen Manier mit dem feinen Tact der klassischen Schule und einem Hauche von Romantik, der seinen Schriften einen eigenen Reiz verleiht. Es ist daher sehr erklärlich, weshalb »Fromont junior & Risler senior« gleich beim Erscheinen das größte Lob erntete und überall einstimmig als Meisterwerk anerkannt wurde. Eine deutsche Ausgabe erschien bereits 1876 bei E. Grosser, Berlin. Die nachstehende Blumenlese aus dieser autorisirten(!) Übersetzung, deren Thäter sich nicht genannt hat, wird zur Bildung eines Urtheils über dieselbe hinreichen. Ich citire den Text des Originals und der Übertragung mit Angabe der betreffenden Seitenzahl.
... » des volubilis, dont la fleur – s'ouvrant tout à coup dans les caprices d'un dessin« etc. (p. 45) ... »Winden, deren Blume – die sich vermöge einer Laune des Geschicks plötzlich öffnet« u. s. w. (S. 49).
» On n'entendait plus que les pattes des chiens de garde sur le sable, ou leur arrêt au pied d'un arbre en haut duquel soufflait quelque chouette« (p. 129). »Man vernahm nichts als das Knurren der Wachthunde im Garten oder ihr Anschlagen, wenn vom Wipfel eines Baumes eine Lerche sang« (S. 142).
... » depuis les années de révolution où l'on se battait dans les cours de la fabrique« (p. 162) ... »seit der Revolution, wo in den Höfen der Fabrik die tolle Prügelei stattfand« (S. 181).
» On a fermé les larges vitres où l'ombre se plaque avec des luisants de papier verni« (p. 229). »Die großen Scheiben sind geschlossen, man sieht nur noch den Glanz von schwarzem Lackpapier« (S. 253).
» Un bateau se détache du bord, une lanterne à l'avant« (p. 248). »Ein Kahn wird vom Ufer gelöst, eine Laterne fährt hinaus« (S. 273).
» Enfin, vers les deux ou trois heures du matin, comme tous les clochers dressés dans la nuit se passaient l'heure l'un à l'autre« (p. 277). »Endlich gegen zwei oder drei Uhr morgens, als gerade die Nachtdroschken einander ablösten« (S. 304).
Ich glaube, diese Beispiele, deren Zahl sich verdrei- und vervierfachen ließe, geben eine hinreichende Vorstellung von dem Werthe einer Übersetzung, die sich mit dem Epitheton »autorisirt« schmückt.

Wie bereits angedeutet, ist der Roman ein Seiten- oder vielmehr Gegenstück zu »Frau Bovary«. Daudet selbst weist darauf hin, indem er von der kleinen Chèbe sagt: » Ce n'était pas une de ces sentimentales à la Bovary qui reviennent du spectacle avec des phrases d'amour toutes faites, un idéal de convention.« Nein, Sidonie hat nicht die geringste Ähnlichkeit mit der Frau des Landarztes: sie ist eine gemeine Dirne ohne einen Funken von Geist und Gemüth, während die Bovary trotz ihrer Verirrungen immer noch einen gewissen Adel der Gesinnung bewahrt und deshalb auch ihre Vergehen mit freiwilligem Tode büßt. Für Emma Bovary kann man immer noch Mitleid empfinden, Sidonie aber flößt nur Abscheu und Widerwillen ein, und fast möchte man Daudet beschuldigen, er habe seine Heldin gar zu schwarz geschildert. Hat doch nicht einmal Zola seine Nana in solchem Grade jedes bessern Gefühls zu entkleiden gewagt, Nana, die so nahe mit der Chanteuse Sidonie verwandt ist, daß Zola's berüchtigter Roman die natürliche Fortsetzung des Daudet'schen bildet und der vollkommenste Abschluß desselben sein würde, wenn Nana nicht zufällig an den Blattern, sondern folgerichtig an der Krankheit ihres Handwerks stürbe. Überhaupt ist Daudet trotz der mildern Form im Grunde genommen weit unbarmherziger als Flaubert und selbst Zola: er läßt Clara Fromont und Risler die Sünden Sidoniens büßen, während diese selbst und ebenso der jämmerliche Georges Fromont so zu sagen frei ausgehen, da bei ihrem Charakter an Reue und Gewissensbisse nicht zu denken ist. Die Lectüre des Romans würde daher auch – da noch dazu auch Risler senior nicht von Schwäche freizusprechen ist – aufs tiefste verstimmen und niederdrücken, wenn nicht neben Clara Fromont Désirée Delobelle und Sigismund Planus ein Gegengewicht bildeten. Namentlich die Gestalt Désirée's ist mit all dem Zauber umkleidet, den Daudet's Feder zu verleihen im Stande ist, und wirkt daher wahrhaft tröstend und erhebend. Durch diese drei Gestalten söhnt uns Daudet wieder mit der Menschheit aus.

Über diesen Hauptfiguren sind die Nebenfiguren keineswegs vernachlässigt worden. Der große Schauspieler und Optimist Delobelle und der kleine Spießbürger und Pessimist Chèbe sind wahre Cabinetstücke. Unter andern Verhältnissen würde uns der crasse Egoismus dieser beiden Menschen empören, gegenüber der Herzlosigkeit Gardinois', der Erbärmlichkeit Fromont juniors und der noch größern Erbärmlichkeit Franzens aber erscheint er uns wie Kinderspiel und ergötzt uns. Franz ist neben Sidonie der am wenigsten sympathische Charakter des Romans. Georges Fromont ist schwach bis zur Niederträchtigkeit, Franz ist mehr als das: er ist feig bis zum Verbrechen. Nachdem er von der herzlosen Dirne die schmählichste Behandlung erfahren, räumt diese Waschlappennatur in feiger Flucht das Feld und giebt die Ehre des Bruders, den Ruf der Firma, die Ruhe Clara's und das Glück der armen Désirée preis, um sich schmählich zu verkriechen. Eötvös hat nur zu recht mit seinem Ausspruch: »Was je Böses auf der Welt geschah – nicht die Bösen allein haben es verschuldet, sondern die schwachen Menschen, die das Übel ruhig geduldet.«

Und die Moral des Ganzen? höre ich fragen. Ganz recht, jedes Kunstwerk predigt eine Moral, und auch Daudet's Roman enthält eine solche. Der Schlußsatz: »Dirne! Dirne!« ... rief er, indem er drohend die Faust ballte, und man wußte nicht, meinte er das Weib oder die Stadt – läßt erkennen, daß Daudet die Civilisation anklagt. Aber wessen klagt er sie an? Der Zerstörung des Pflichtbewußtseins in den Individuen! In der That scheint die Civilisation, indem sie den Kreis der Pflichten und der Rechte, der an und von dem Menschen gestellten Ansprüche ins Unendliche erweitert, einerseits die Erkenntnis der Pflicht zu erschweren (Risler, Delobelle, Chèbe) und andererseits das Gefühl für dieselbe zu untergraben (Sidonie, Georges Fromont, Franz). Mangel an Pflichterkenntnis und Pflichtgefühl ist die Krankheit unserer Zeit. Die einen suchen dieselbe durch die Religion, andere durch geistige Bildung, noch andere durch Gesetze zu heben, aber bis jetzt hat noch niemand die Unfehlbarkeit seines Mittels beweisen können. Auch der Dichter läßt uns hier im Stich – mit Recht, denn er könnte nur eine subjective Lösung geben. Sein Zweck war, uns die Frage von neuem ans Herz zu legen und zur Mitwirkung bei der Lösung derselben zu ermuntern – mag auch diese Übertragung jenem Zwecke dienen.

Randau, im Mai 1882.
Robert Habs.


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