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Viertes Buch.

I. Die Sage vom blauen Männchen.

Es steht jedem frei, nicht daran zu glauben – ich für meinen Theil aber glaube steif und fest an das blaue Männchen. Nicht daß ich es selbst jemals gesehen hätte, aber einer von meinen Freunden, ein Dichter, zu dem ich volles Vertrauen habe, hat mir sehr oft erzählt, wie er sich eines Nachts dem seltsamen kleinen Spukgeist von Angesicht zu Angesicht gegenüber befunden, und zwar unter folgenden Umständen.

Mein Freund hatte die Schwachheit begangen, seinem Schneider einen Wechsel zu geben, und sich, wie das allen Leuten mit lebhafter Einbildungskraft in solchem Falle zu ergehen pflegt, sogleich nach vollzogener Unterschrift seiner Schuld völlig ledig geglaubt und den Wechsel ganz und gar vergessen. Nun geschah es aber, daß unser Dichter plötzlich eines Nachts durch ein eigentümliches Geräusch geweckt wurde, das aus dem Kamin erscholl. Zunächst glaubte er, es sei ein fröstelnder Spatz, der die Wärme des erloschenen Feuers aufsuche, oder eine vom umspringenden Winde geneckte Wetterfahne. Aber als nach Verlauf einer Minute das Geräusch bestimmter wurde, unterschied er deutlich das Klimpern eines mit Thalern gefüllten Sacks und das Klirren Gott weiß was für einer Kette. Und gleichzeitig vernahm er ein feines Stimmchen, das ihm klar wie ein Hahnenruf und scharf wie der ferne Pfiff einer Locomotive vom Dache herab zuschrie: »Zahltag! Zahltag!«

»Guter Gott! ... mein Wechsel!« sagte der arme Junge zu sich selbst, denn nun fiel ihm plötzlich ein, daß die Schuld bei dem Schneider in acht Tagen fällig sei, und bis zum lichten Morgen wälzte er sich hin und her, suchte in allen Winkeln seines Betts den Schlaf und fand immer nur den Gedanken an das verruchte Stück Papier. In der nächsten, der dritten, der vierten und in allen folgenden Nächten wurde er um dieselbe Stunde und auf die nämliche Weise geweckt: immer vernahm er das Geldgeklimper, das Kettengeklirr und den spöttischen Ruf der feinen Stimme: »Zahltag! Zahltag!« Und je näher der Verfalltag kam, um so gellender, schneidender wurde der Ruf und drohte mit Pfändung und Haftbefehl.

Unglücklicher Dichter! nicht genug, daß er tagsüber sich abmühen und kreuz und quer durch die Stadt traben mußte, um sich Geld zu verschaffen, nun mußte ihm auch noch die grausame Stimme des Nachts Schlaf und Ruhe rauben. Wem gehörte sie denn nur an, diese gespenstische Stimme? Welcher boshafte Geist mochte wohl Vergnügen daran finden, ihn so zu quälen? Er wollte Klarheit darüber haben. Anstatt sich daher zu Bett zu legen, löschte er eines Nachts das Licht aus, öffnete das Fenster und wartete.

Ich brauche wohl nicht erst zu sagen, daß mein Freund in seiner Eigenschaft als lyrischer Dichter sehr hoch, dicht unterm Dache wohnte. Während mehrerer Stunden erblickte er nichts als das malerische Bild eng zusammengedrängter, gegen einander geneigter Dächer, deren weite Fläche in allen Richtungen von den Straßen wie von ungeheuren Abgründen durchschnitten und von den Schornsteinen und den im Mondschein hervortretenden Giebelspitzen phantastisch unterbrochen wurde. Das bildete über dem dunkeln, schlafenden Paris gleichsam eine zweite Stadt, eine Stadt in der Luft, die zwischen dem leeren Dunkel unten und dem glänzenden Mondlicht oben schwebte und schwankte.

Mein Freund wartete, wartete lange. Endlich, gegen zwei oder drei Uhr morgens, als die in die Nacht ragenden Glockenthürme einander die Stunde zuriefen, huschte ein leichter Schritt in seiner Nähe über die Ziegel und Schieferplatten und eine dünne, feine Stimme rief durch den Schornstein seines Kamins herab: »Zahltag! Zahltag!« ... Schnell beugte sich mein Poet ein wenig vor, und nun erblickte er den niederträchtigen kleinen Kobold, den Menschenschinder, der ihn seit acht Tagen am Schlafen hinderte. Über die Gestalt desselben konnte er mir nichts Bestimmtes sagen – das Mondlicht täuscht gar zu leicht durch die phantastischen Dimensionen, die es den Gegenständen und ihrem Schatten verleiht. Er bemerkte nur, daß das seltsame Teufelchen wie ein Bankbote gekleidet war, d. h. einen blauen Rock mit silbernen Knöpfen und Sergeantentressen auf den Ärmeln nebst einem Claquehut trug, und unter dem Arme eine Ledertasche hielt, die fast so groß war wie der Kobold selbst, und deren an einem langen Kettchen hangender Schlüssel bei jedem Schritte wahnsinnig klirrte, ebenso wie der Geldsack, den er in der andern Hand schwenkte. Auf diese Weise erblickte mein Freund das blaue Männchen, während es im Mondschein hastig vorüberhuschte, denn es schien sehr beschäftigt, sehr in Anspruch genommen, setzte mit einem Sprunge über die Straßen, eilte von einem Schornstein zum andern und glitt auf der First der Dächer entlang.

Die Kundschaft des vermaledeiten kleinen Kerls ist gar zu zahlreich. Es giebt gar zu viel Kaufleute in Paris, gar zu viel Menschen, denen ein Ultimo droht, gar zu viel Unglückliche, die eine Anweisung unterzeichnet oder quer auf einen Wechsel das Wort »Acceptirt« geschrieben haben. Allen diesen Leuten sandte das blaue Männchen im Vorübereilen seinen Weckruf zu. Es rief ihn über die Fabriken hin, die zu dieser Stunde stumm und öde standen, über die großen Paläste der Finanzwelt, die in der Stille ihrer prächtigen Gärten schlummerten, und über die fünf- und sechsstöckigen Häuser, über die unschönen, ungleichmäßigen Dächer der Armenviertel: »Zahltag! ... Zahltag!« ... In der kristallklaren Atmosphäre, welche die strenge Kälte und der helle Mondschein in der Höhe erzeugen, erscholl die feine, schrille, unbarmherzige Stimme von einem Ende der Stadt bis zum andern. Und überall, wohin sie drang, verscheuchte sie den Schlaf, erweckte sie die Sorge, ermüdete sie den Geist und die Augen und erzeugte in allen Stockwerken der Pariser Häuser ein Frösteln vor Unbehagen und Schlaflosigkeit.

*

Denkt von jener Erzählung, was ihr wollt, auf alle Fälle kann ich euch zur Bekräftigung der Mittheilung meines Freundes versichern, daß in einer Nacht gegen Ende Januar auch der alte Kassirer des Hauses Fromont junior & Risler senior in seinem kleinen Hause in Montrouge plötzlich durch die nämliche feine Stimme und das nämliche Kettengeklirr aus dem Schlafe geweckt wurde und ebenfalls den verhängnisvollen Ruf vernahm:

»Zahltag!«

– Das ist ja auch wahr, dachte der brave Mann, indem er sich im Bette aufrichtete, übermorgen ist ja Ultimo ... Und ich habe den Muth, zu schlafen!

Es handelte sich in der That um eine bedeutende Summe: gegen zwei Tratten waren hunderttausend Franken zu zahlen, und das in einem Augenblicke, wo die Kasse des Hauses Fromont seit dreißig Jahren zum ersten Mal kein Geld enthielt. Was sollte nun geschehen? Sigismund hatte mehrere Male den Versuch gemacht, mit Fromont junior darüber zu sprechen, dieser aber schien die schwere Verantwortlichkeit für das Geschäft fliehen zu wollen und schritt immer in fieberhafter Eile durch die Comtoirzimmer, ohne zu sehen und zu hören. Auf die besorgten Fragen des Kassirers gab er immer nur, an seinem seinen Schnurrbart kauend, zur Antwort:

»Schon gut ... schon gut, lieber Planus ... Machen Sie sich keine Sorge ... ich werde schon Rath schaffen« ...

Dabei aber sah er aus, als dächte er an ganz andere Dinge und sei im Geiste tausend Meilen weit von dem entfernt, was um ihn her vorging. In der Fabrik, wo sein Verhältnis zu Frau Risler für niemand mehr ein Geheimnis war, ging das Gerücht, daß Sidonie ihn täusche, ihn unglücklich mache. Und in der That, die Thorheiten seiner Geliebten beschäftigten seinen Geist weit mehr als die Sorgen seines Kassirers. Was Risler betrifft, so kam derselbe nie zum Vorschein: er verbrachte seine Zeit auf den Dachböden mit Überwachung der geheimnisvollen und anscheinend nie enden wollenden Herstellung seiner Maschinen.

Diese Gleichgiltigkeit der Prinzipale gegen die Fabrikangelegenheiten und der völlige Mangel an Aufsicht hatten allmählich eine allgemeine Desorganisation herbeigeführt. Arbeiter und Commis handelten ganz nach Belieben: sie kamen spät und stahlen sich frühzeitig wieder fort, ohne sich um die alte Glocke zu kümmern, die, nachdem sie so lange zur Arbeit geläutet, jetzt den Verfall einzuläuten schien. Man machte noch immer Geschäfte, weil ein angesehenes Handlungshaus in Folge der Kraft des ersten Anstoßes Jahre lang von selbst geht, aber welcher Wirrwarr, welche Unordnung verbarg sich hinter diesem anscheinend glücklichen Geschäftsstande!

Sigismund wußte das besser als irgend jemand, und darum eben hatte der Ruf des blauen Männchens ihn so plötzlich aus dem Schlummer aufgeschreckt. Gleichsam um diese Unzahl von schmerzlichen Gedanken, die in seinem Kopfe durch einander drängten, wirrten und wirbelten, besser zu übersehen, hatte der Kassirer den Wachsstock angezündet und saß nun aufrecht und sinnend im Bette ... Woher jene hunderttausend Franken nehmen? Das Haus hatte allerdings mehr Außenstände, als jene Summe betrug: da waren noch alte Rechnungen, die der Begleichung seitens der Kunden harrten, noch ein Restguthaben bei den Prochassons und andern – aber welche Demüthigung für ihn, alle diese verjährten Posten einziehen zu müssen. Dergleichen ist im Großhandel nicht Sitte – das sieht krämerhaft aus. Und doch war es immer noch besser als ein Protest ... O, wenn er daran dachte, daß der Bankbote mit sicherer, vertrauensvoller Miene an sein Gitter treten und ruhig seine Wechsel auf das Zahlbrett legen würde, und daß er, Planus, Sigismund Planus, dann genöthigt sein würde, ihm zu sagen:

»Nehmen Sie Ihre Tratten nur wieder mit ... Ich habe kein Geld, um sie zu honoriren« – – –

Nein, das war unmöglich! Dieser Demüthigung war jede andere bei weitem vorzuziehen.

»Wohlan, es muß sein ... morgen mache ich die Runde,« seufzte der arme Kassirer.

Und während er sich in dieser Weise ängstigte und quälte, ohne ein Auge zuthun zu können, setzte das blaue Männchen seine Runde fort und rüttelte seinen Sack und sein Kettchen über einer Dachstube des Boulevard Beaumarchais, wo der berühmte Delobelle mit seiner Frau seit dem Tode Désirées Wohnung genommen hatte.

»Zahltag! Zahltag!«

Ach! die kleine Lahme hatte sich in ihren Ahnungen nicht getäuscht. Nachdem sie geschieden war, hatte Mama Delobelle nicht mehr lange in Käfern und Vögeln für Modeartikel fortarbeiten können. Ihre Augen wurden durch die Thränen getrübt, und ihre alten Hände zitterten zu heftig, um die Kolibris, die trotz aller ihrer Bemühungen ein klägliches, elendes Aussehen behielten, in sicherer Anmuth hinzupflanzen. Sie hatte auf diese Arbeit verzichten müssen. Darauf hatte die unerschrockene Frau zu nähen angefangen. Sie besserte Spitzen und Stickereien aus und sank allmählich zum Range einer gewöhnlichen Näherin herab. Aber ihr immer geringer werdender Verdienst reichte kaum für die nothwendigsten Bedürfnisse hin, und Delobelle, den sein schrecklicher Beruf als Schauspieler in partibus beständig zu Ausgaben nöthigte, sah sich dadurch gezwungen, Schulden zu machen. Er schuldete seinem Schneider, seinem Schuhmacher, seinem Wäschelieferanten, am meisten aber beunruhigten ihn die berühmten Morgenimbisse, die er zur Zeit seiner Direction auf dem Boulevard zu sich genommen hatte.

Die Rechnung belief sich auf zweihundertundfünfzig Franken, zahlbar ultimo Januar, und diesmal ohne die geringste Hoffnung auf weitern Aufschub. Beim Rufe des blauen Männchens lief ihm daher ein Frösteln durch alle Glieder ...

Nur noch vierundzwanzig Stunden bis zum Zahltage! nur noch vierundzwanzig Stunden, um zweihundertundfünfzig Franken aufzutreiben! Wenn er sie nicht schaffte, wurde alles bei ihnen verkauft: verkauft die armseligen Möbel, die noch aus der ersten Zeit ihrer Ehe herrührten und zwar unzureichend und unbequem, ihnen aber theuer waren durch die Erinnerungen, die sich an die Schäden und die abgenutzten Ecken knüpften; verkauft der lange Tisch der Vögel und Käfer für Modeartikel, an welchem er zwanzig Jahre lang zu Abend gegessen hatte; verkauft der große Lehnstuhl Zizis, den man nicht ohne Thränen betrachten konnte, und der etwas von der Theuren, von ihren Geberden, ihrer Haltung, ihrer zusammengedrückten Stellung an den Tagen der Träumerei oder langer Arbeit bewahrt zu haben schien. Mama Delobelle mußte unfehlbar sterben, wenn sie alle diese theuern Andenken verschwinden sah ...

Als der unglückliche Künstler, den sein großartiger Egoismus doch nicht immer vor Gewissensbissen schützte, dies alles bedachte, wälzte er sich im Bette hin und her und stieß schwere Seufzer aus. Die ganze Nacht über schwebte ihm das bleiche Gesicht Désirées vor Augen mit jenem zärtlichen, flehenden Blick, mit dem sie ihn im Augenblicke ihres Todes angstvoll angeschaut, als sie ihn bat, er möge entsagen ... Wem sollte denn ihr Vater entsagen? Sie war gestorben, ohne es ausgesprochen zu haben, aber Delobelle hatte sie trotzdem zum Theil verstanden, und seitdem hatte in dieser unbarmherzigen Natur eine Unruhe, ein Zweifel Raum gewonnen, die in dieser Nacht grausam mit seinen Geldsorgen verschmolzen. –

»Zahltag! Zahltag!« ...

Diesmal rief das blaue Männchen seine düstere Mahnung im Vorübergehen in den Schornstein des Herrn Chèbe hinein.

Herr Chèbe hatte sich nämlich seit einiger Zeit in bedeutende Unternehmungen von zweifelhafter, sehr zweifelhafter Natur eingelassen, die sehr viel Geld verschlangen. Schon zu verschiedenen Malen waren Risler und Sidonie genöthigt gewesen, die Schulden ihres Vaters zu bezahlen und hatten dabei die ausdrückliche Bedingung gestellt, daß er sich fortan ruhig verhalten und keine Geschäfte mehr machen solle. Aber diese beständigen Sturzbäder waren für sein Dasein unerläßlich. Er stählte sich darin jedes Mal mit neuem Muthe und erwachte dann zu noch größerer Thätigkeit. Wenn er kein Geld hatte, gab Herr Chèbe seine Unterschrift. Er trieb sogar einen bedauernswerthen Mißbrauch mit dieser Unterschrift, denn er rechnete immer auf den Ertrag des Unternehmens, um damit seinen Verpflichtungen nachkommen zu können. Aber weiß der Teufel, dieser Ertrag zeigte sich nie, während die Accepte, nachdem sie ganze Monate lang Paris von einem Ende bis zum andern durchwandert hatten, mit einer ganz verzweifelten Pünktlichkeit wieder nach Hause zurückkamen, über und über mit schwarzen Hieroglyphen bedeckt, die sie unterwegs eingesammelt hatten.

Gerade der Januarwechsel war sehr hoch, und als er das blaue Männchen hatte vorüberkommen hören, war ihm plötzlich eingefallen, daß er keinen Sou zur Deckung im Hause hatte. O Schmach und Zorn! Er mußte sich also nochmals vor diesem Risler demüthigen, mußte Gefahr laufen, eine abschlägige Antwort zu bekommen, mußte gestehen, daß er sein Wort gebrochen ... Die Angst des armen Teufels bei dem Gedanken an diese Dinge wurde noch gesteigert durch die nächtliche Stille, in der das Auge keine Beschäftigung, der Geist keine Ablenkung findet, und durch die horizontale Lage, die, indem sie den Körper zur Unbeweglichkeit verurtheilt, den Geist waffenlos allen Schrecken und Sorgen preisgiebt. Herr Chèbe zündete alle Augenblicke die Lampe wieder an, griff zur Zeitung und bemühte sich vergeblich, zu lesen, zum großen Mißvergnügen der guten Frau Chèbe, die sich leise darüber beschwerte und das Gesicht der Wand zukehrte, um das Licht nicht zu sehen.

Und während dieser Zeit eilte das infernalische blaue Männchen, über seine Bosheit entzückt, lachend davon, um seinen Sack und sein Kettchen in etwas weiterer Entfernung von neuem klirren zu lassen. Da steht er nun in der Rue des Vieilles-Haudriettes auf dem Dache einer großen Fabrik, in der alle Fenster dunkel sind mit Ausnahme eines einzigen im ersten Stock da hinten im Garten ...

Trotz der vorgerückten Stunde hatte sich Georges Fromont noch nicht zu Bett begeben. Mit zwischen den Händen vergrabenem Kopfe saß er im Zustande stummen und blinden Hinbrütens, wie unersetzliche Verluste ihn erzeugen, am Kamin und dachte an Sidonie, an die abscheuliche Sidonie, die in diesem Augenblicke im Stockwerk über ihm schlief. Sie machte ihn geradezu wahnsinnig. Sie betrog ihn, davon war er überzeugt, sie betrog ihn mit dem Tenoristen aus Toulouse, jenem Cazabon, genannt Cazaboni, den Frau Dobson in das Haus eingeführt hatte. Seit langem flehte er sie an, diesen Menschen nicht mehr zu empfangen, aber Sidonie hörte nicht auf ihn und hatte erst noch heute anläßlich eines großen Balls, den sie geben wollte, rundweg erklärt, daß nichts sie hindern werde, ihren Tenor einzuladen.

»Aber er ist Ihr Liebhaber!« hatte Georges wüthend ausgerufen, indem er ihr scharf in die Augen sah.

Sie hatte nicht nein gesagt, hatte nicht einmal die Augen abgewandt. Nur hatte sie ihn eisig kalt wie immer und mit ihrem bösen, feinen Lächeln bedeutet, daß sie niemand das Recht zuerkenne, ihre Handlungen zu beurtheilen oder zu beeinflussen, daß sie frei sei, frei bleiben und so wenig von ihm wie von Risler tyrannisirt werden wolle. So hatten sie sich eine ganze Stunde lang im Wagen bei geschlossenen Vorhängen gezankt, sich geschmäht, sich fast geschlagen ...

Und dabei hatte er diesem Weibe alles geopfert, sein Vermögen, seine Ehre, sogar die reizende Frau, die da mit dem Kinde im Nebenzimmer schlief, ein Glück, das er in Händen gehabt, und das er dieser Bettlerin wegen verschmäht hatte! ... Jetzt erklärte sie ihm nun, sie liebe ihn nicht mehr, sie liebe einen andern. Und er, der Feigling, er zürnte deswegen noch. Was für einen Trank hatte sie ihm denn eingegeben?

Von der Entrüstung, die in seinem Innern kochte, emporgeschnellt, war Georges Fromont aus seinem Lehnstuhl aufgesprungen und ging fieberhaft hastig im Zimmer auf und ab. In der Stille des schlummernden Hauses widerhallte sein Schritt wie die lebendig gewordene Schlaflosigkeit ... Die andere da oben schlief. Sie schlief gemäß dem Privilegium ihrer gewissen- und sorglosen Natur. Vielleicht auch dachte sie an ihren Cazaboni.

Als dieser Gedanke ihm durch den Kopf fuhr, gerieth Georges in die wahnsinnige Versuchung, hinaufzustürzen, Risler zu wecken, ihm alles zu bekennen und sich mit ihr ins Verderben zu stürzen. Er war auch zu einfältig, dieser betrogene Gatte! Warum gab er nicht besser Acht auf sie? Sie war ja hübsch genug, vor allem aber schlecht genug, um Vorsichtsmaßregeln zu rechtfertigen.

Während er mit diesen grausamen, unfruchtbaren Gedanken rang, ertönte plötzlich durch das Geräusch des Windes der Weckruf des blauen Männchens:

»Zahltag! ... Zahltag!« ...

Der Unglückliche! In seiner Wuth hatte er nicht mehr daran gedacht. Und doch sah er ihn schon seit langem kommen, diesen schrecklichen Ultimo. Wie oft hatte er in der Zwischenzeit zwischen zwei Rendezvous, wenn seine Gedanken sich auf einen Augenblick von Sidonie losrissen und zum Geschäfte, zum wirklichen Leben zurückkehrten – wie oft hatte er da zu sich selbst gesagt: »Dieser Tag – das ist der Ruin!« Aber wie alle, die im Delirium der Trunkenheit leben, glaubte er in Folge seiner Feigheit, seiner Jämmerlichkeit, daß es zu spät sei, um noch wieder gut zu machen, und kehrte schneller und nachdrücklicher auf den bösen Pfad zurück, um zu vergessen, um sich zu betäuben.

Jetzt aber gab es kein Mittel zur Selbstbetäubung mehr. Er überschaute sein Unglück klar und deutlich bis auf den Grund, und vor ihm richtete sich die trockene, ernste Gestalt des alten Sigismund Planus auf mit den grob geschnittenen Gesichtszügen, deren trockne Strenge durch keine Miene gemildert wurde, und mit den klaren Augen des Deutsch-Schweizers, die ihn seit einiger Zeit mit einem so unerbittlichen Blicke verfolgten ...

Gut denn! Nein, er hatte sie nicht, die hunderttausend Franken, und wußte auch nicht, woher er sie nehmen sollte. Seit sechs Monaten hatte er, um die Kosten der dem Ruine entgegenführenden Einfälle seiner Geliebten bestreiten zu können, viel gespielt und bedeutende Summen verloren. Dazu kam noch der Bankerott eines Bankhauses und eine erbärmliche Bilanz ... Es blieb ihm nur noch die Fabrik, und in welchem Zustande!

An wen sollte er sich jetzt wenden, was anfangen?

Was ihm noch vor wenigen Stunden ein Chaos, ein Wirrsal erschien, in welchem er nichts deutlich unterscheiden konnte, und in dessen Unordnung sogar noch eine Hoffnung für ihn lag, zeigte sich ihm in diesem Augenblicke in entsetzlicher Klarheit. Leere Kassen, geschlossene Thüren, Wechselproteste, mit einem Wort: der Bankerott – das war's, was er erblickte, nach welcher Seite er sich auch wandte. Und da nun zu alledem auch noch der Verrath Sidoniens hinzukam, so stieß der Unglückliche, der nicht mehr wußte, an was er sich bei diesem Schiffbruch anklammern sollte, plötzlich einen Angstschrei aus, einen Seufzer, gleichsam einen Hilferuf an irgend eine Vorsehung.

»Georges, Georges, ich bin's ... Was hast du denn?«

Seine Frau stand vor ihm, seine Frau, die ihn jetzt jede Nacht erwartete und angstvoll seine Rückkehr aus dem Club belauschte, denn sie glaubte noch immer, daß er dort seine Abende zubringe. Als sie sah, daß mit ihrem Manne eine Veränderung vorging, daß er von Tag zu Tag düsterer wurde, meinte Clara, er müsse Geldsorgen haben, Spielverluste ohne Zweifel. Sie hatte erfahren, daß er viel spielte, und trotz der Gleichgiltigkeit, mit der er ihr begegnete, war sie seinetwegen besorgt, hätte sie gewünscht, daß er sie zur Vertrauten nähme, daß er ihr Gelegenheit gäbe, sich hochherzig und liebevoll zu zeigen. In dieser Nacht nun hatte sie ihn noch sehr spät in seinem Zimmer auf- und abgehen hören. Da das kleine Töchterchen viel hustete und alle Augenblicke ihre Sorge in Anspruch nahm, so hatte sie ihre Theilnahme zwischen dem Leiden des Kindes und dem des Vaters getheilt und, achtsam auf jedes Geräusch lauschend, eine jener schmerzlichen, anstrengenden Nachtwachen gehalten, bei denen die Frauen alle ihren Muth zusammenraffen, um die schwere Last vermehrter Pflichten zu ertragen. Endlich war das Kind eingeschlafen, und da Clara den Vater hatte weinen hören, war sie herbeigeeilt ...

O, welche verspätete, aber tiefe Reue ergriff ihn, als er sie so zärtlich, so besorgt und so schön vor sich stehen sah. Ja, das war die wahre Lebensgefährtin, die wahre Freundin. Wie hatte er nur von ihr lassen können? Lange, lange weinte er, an ihre Schulter gelehnt, ohne eine Wort hervorbringen zu können. Und es war gut, daß er nicht sprach, denn er würde ihr alles gestanden haben, alles. Der Unglückliche empfand das Bedürfnis, sein Herz auszuschütten, eine unwiderstehliche Lust, sich anzuklagen, um Verzeihung zu bitten und dadurch die Last der Reue zu vermindern, die ihm das Herz zusammenquetschte.

Sie ersparte ihm die Pein, ein Wort zu sagen:

»Du hast gespielt, nicht wahr? hast verloren? ... und viel?«

Er machte mit der Hand ein bejahendes Zeichen, und dann, als er die Sprache wiedergefunden hatte, gestand er ihr, daß er zu übermorgen hunderttausend Franken brauche und nicht wisse, woher er sie nehmen solle.

Kein Laut des Vorwurfs kam über ihre Lippen. Sie gehörte zu den Menschen, die einem Unglück gegenüber nur daran denken, wie es wieder gut zu machen sei, ohne mit Anschuldigungen und Klagen die Zeit zu verlieren. Ja, im Innersten ihrer Seele segnete sie sogar dies Mißgeschick, das ihn ihr wieder näher brachte und ein neues Band zwischen diesen beiden, so lange getrennten Existenzen wurde. Sie dachte einen Augenblick nach. Dann sagte sie mit einer Anstrengung, welche bewies, wieviel Mühe ihr dieser Entschluß gekostet hatte:

»Es ist noch nichts verloren. Ich gehe morgen nach Savigny und bitte den Großvater um das Geld.«

Er hätte ihr das nie vorzuschlagen gewagt. Nicht im Traume würde ihm das eingefallen sein. Sie war ja so stolz, und der alte Gardinois so hart! Ohne Zweifel war es ein großes Opfer, das sie ihm damit brachte, ein glänzender Beweis von Liebe, den sie ihm damit gab. Er wurde plötzlich von jener innern Wärme ergriffen, von jener Freudigkeit, die uns nach entschwundener Gefahr erfaßt. Clara erschien ihm wie ein übernatürliches Wesen, das die Gabe hatte, gut und ruhig zu machen, wie die andere da oben die Gabe besaß, toll zu machen und zu zerstören. Gern hätte er sich vor ihr auf die Kniee geworfen, vor ihr, vor diesem schönen Antlitz, das die herrlichen, zur Nacht aufgewundenen schwarzen Haare mit einem bläulichen Glorienschein umgaben, und dessen regelmäßige, etwas strenge Züge durch einen Zug wunderbarer Güte und Zärtlichkeit gemildert wurden.

»Clara, Clara ... wie gut du bist!«

Ohne zu antworten, führte sie ihn zur Wiege ihres Kindes.

»Küsse sie« ... sagte sie leise, und wie sie nun beide, im Musselin der Vorhänge verborgen, neben einander standen und mit vorgeneigtem Kopfe dem friedlichen, vom Unwohlsein noch ein wenig schweren Athemzug des Töchterchens lauschten, da fürchtete Georges, die Kleine zu wecken, und stürmisch küßte er statt ihrer die Mutter.

Das war sicher die erste Wirkung dieser Art, welche das Erscheinen des blauen Männchens je in einer Ehe hervorgerufen hat. Gewöhnlich trennt der abscheuliche Gnom überall, wohin er kommt, Herzen und Hände und macht den Geist den theuersten Neigungen abwendig, indem er tausend Sorgen erweckt durch das Klirren des Kettchens und seinen düstern Ruf:

»Zahltag! ... Zahltag!« ...


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