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V. Eine vermischte Nachricht.

Am Abend vor diesem unseligen Tage, einige Augenblicke nachdem Franz ganz verstohlen sein Zimmer in der Rue de Braque verlassen hatte, kam der berühmte Delobelle ganz niedergeschlagen und mit jener müden, enttäuschten Miene heim, die er immer bei widrigen Vorfällen anzunehmen pflegte.

»O mein Gott, armer Mann, was ist dir denn begegnet?« ... fragte auf der Stelle Mama Delobelle, die zwanzig Jahre einer theatralisch übertriebenen Mimik noch immer nicht abgestumpft hatten.

Der Exkomödiant, der nie ermangelte, den unbedeutendsten Worten etwas von dem früher für die Bühne einstudirten Mienenspiel vorauszuschicken, zog diesmal, ehe er antwortete, zum Zeichen grimmigen Abscheus die Mundwinkel herab, als ob er eben etwas Bitteres verschluckt hätte.

»Diese Rislers sind entschieden Undankbare oder Egoisten, sicher aber äußerst schlecht erzogene Menschen. Wißt ihr, was ich soeben unten beim Portier, der mich dabei schadenfroh von der Seite ansah, erfahren habe? ... Nun, Franz Risler ist abgereist. Er hat vor kurzem das Haus und jetzt vielleicht schon Paris verlassen, ohne mir auch nur zum Abschiede die Hand zu drücken und mir für den Empfang zu danken, der ihm hier zu Theil wurde ... Wie findet ihr das? ... Denn von euch hat er doch ebenso wenig Abschied genommen, nicht wahr? Und doch ist es noch keine vier Wochen her, da hat er – ohne ihm damit einen Vorwurf zu machen – Tag und Nacht bei uns gesteckt.«

Mama Delobelle stieß einen Ausruf tiefster Überraschung und wahrer Betrübnis aus. Désirée dagegen sagte kein Wort, machte keine Bewegung. Sie war immer der nämliche kleine Eiszapfen. Nicht einmal der Messingdraht in ihren gelenkigen Fingern zitterte ...

»Da glaube einer noch an Freundschaft,« fuhr der berühmte Delobelle fort. »Was habe ich denn nun dem gethan?«

Der Wahn, daß er von der ganzen Welt verfolgt werde, bildete einen Theil seines Dünkels. Es gehörte das zu seiner Stellung im Leben als Märtyrer der Kunst.

In sanfter Weise, mit fast mütterlicher Zärtlichkeit – denn es liegt immer etwas Mütterliches in der nachsichtigen, verzeihenden Liebe, welche solche großen Kinder einflößen – tröstete Madame Delobelle den Gatten, liebkoste sie ihn, fügte sie dem Diner einen Leckerbissen hinzu. Der arme Teufel war aber auch wirklich schmerzlich ergriffen: durch Franzens Abreise war das Amt eines steten Gastgebers, das früher Risler senior verwaltet hatte, abermals erledigt, und der Schauspieler dachte nun mit Wehmuth an die Annehmlichkeiten, die er fortan entbehren sollte.

Und nun gab es neben diesem egoistischen, oberflächlichen Kummer einen wahren, ungeheuren Schmerz, ein tödtliches Leid, und diese verblendete Mutter merkte nichts davon! ... Aber sieh doch dein Kind an, Unglückliche. Betrachte dies bleiche Gesicht, diese thränenlosen Augen, die in starrem Glanze strahlen als ob sich ihr Denken und ihr Blick auf einen nur ihnen sichtbaren Gegenstand concentrire. Laß diese kleine, verschlossene, leidende Seele sich dir erschließen. Befrage dein Kind. Bring' es zum Reden, und vor allem bring' es zum Weinen, um es von der Last zu befreien, die es erstickt, damit seine thränendunkeln Augen nicht mehr ins Leere, auf das fürchterliche, unbekannte Etwas hinstarren, an dem sie voller Verzweiflung haften.

O Gott! ...

Es giebt Frauen, in denen die Mutter die Gattin tödtet. Bei Mama Delobelle hatte die Gattin die Mutter getödtet. Als Priesterin des Gottes Delobelle, völlig von der Betrachtung ihres Idols in Anspruch genommen, meinte sie, ihre Tochter sei nur deshalb auf die Welt gekommen, um sich demselben Cultus zu widmen, um vor demselben Altare niederzuknieen. Beide sollten im Leben nur ein Ziel haben: für den Ruhm des großen Mannes zu arbeiten und das verkannte Genie zu trösten. Das Übrige existirte nicht für sie. Nie hatte sie das plötzliche Erröthen Désirées bemerkt, wenn Franz ins Zimmer trat, nie jene Schliche entdeckt, mit denen das verliebte Mädchen die Rede auf ihn zu bringen und seinen Namen bei jeder Gelegenheit in das Gespräch einzuschmuggeln wußte, und das seit Jahren, seit jener längst entschwundenen Zeit, wo Franz bei Tagesanbruch, wenn die Frauen eben die Lampe anzündeten, um ihr Tagewerk zu beginnen, sich nach der Ecole Centrale begab. Nie hatte sie jenes lange, tiefe Schweigen erforscht, in das die vertrauensselige, glückliche Jugend sich so gern mit ihren Zukunftsträumen verschließt. Und wenn sie, durch Désirées Schweigen gelangweilt, ja einmal fragte: »Was hast du nur?« – so brauchte das junge Mädchen nur zu antworten: »Nichts«, und die Gedanken der Mutter, die für einen Augenblick abgeschweift waren, wandten sich sogleich wieder ihrem Lieblingsgegenstande zu.

So hatte denn diese Frau, die im Herzen ihres Gatten, in der geringsten Falte seiner olympischen und nichtigen Stirne las, für ihre arme Zizi nie jenes liebevolle Verständnis gehabt, durch welches selbst die bejahrtesten, die lebensmüdesten Mütter sich bis zur schönen Zeit der Kinderfreundschaft verjüngen, um Vertraute und Rathgeberinnen zu werden.

Und das eben ist das Schlimmste an dem unbewußten Egoismus der Menschen wie Delobelle: er macht auch andere egoistisch.

Die Gewohnheit, die in gewissen Familien herrscht, alles auf ein einziges Wesen zu beziehen, läßt nothwendigerweise die Freuden und Leiden, welche für jenes Wesen gleichgiltig und ohne Vortheil sind, im Dunkeln.

Und nun frage ich euch, in welcher Weise konnte denn das schmerzliche Jugenddrama, das das Herz der armen Liebenden mit Thränen schwellte, für den Ruhm des großen Künstlers von Interesse sein?

Und doch litt sie sehr.

Seit beinahe einem Monat, seit jenem Tage, an welchem Sidonie Franz in ihrer Kutsche abgeholt hatte, wußte Désirée, daß sie nicht mehr geliebt werde und kannte auch den Namen ihrer Rivalin. Sie zürnte den beiden deshalb nicht, sie beklagte sie vielmehr. Aber warum war er zurückgekommen? Warum hatte er leichtfertigerweise eine trügerische Hoffnung in ihrem Herzen erweckt? Wie die Unglücklichen, die zur Finsternis eines Kerkers verdammt sind, ihre Augen an das Dunkel und ihre Glieder an den engen Raum gewöhnen, und dann, wenn man sie einen Augenblick an das Licht führt, bei der Rückkehr das Gefängnis um so trauriger, das Dunkel um so dichter finden, so hatte auch der plötzlich in das Leben des armen Kindes hereingebrochene Sonnenglanz, als er wieder schwand, ihr die neue Gefangenschaft um so düsterer erscheinen lassen. Wieviel Thränen hatte sie seit jenem Momente schweigend verschluckt! Wieviel Leiden den kleinen Vögelchen geklagt! Denn diesmal hatte sie noch die Arbeit aufrecht erhalten, die eifrige, unausgesetzte Arbeit, die durch ihre Regelmäßigkeit und Monotonie, durch die beständige Wiederkehr derselben Sorgen und derselben Bewegungen ihre Gedanken milderte.

Und wie unter ihren Händen die kleinen, todten Vögel scheinbar neues Leben gewannen, so schlugen auch ihre todten Hoffnungen und Illusionen, mit einem Gifte gefüllt, das feiner und tödtlicher war als jenes, welches um ihren Arbeitstisch stäubte, noch von Zeit zu Zeit krampfhaft ängstlich, aber auch schwungvoll auferstehungslustig mit den Flügeln. Franz war noch nicht völlig für sie verloren. Obgleich er sie nur noch selten besuchte, wußte sie doch, daß er da war, hörte sie ihn doch kommen, gehen, unruhig auf und ab schreiten und sah auch zuweilen durch die offen stehende Thür die geliebte Gestalt hastig über den Flur eilen. Er sah nicht glücklich aus. Welches Glück konnte denn auch seiner harren? Er liebte ja die Frau seines Bruders. Und bei dem Gedanken, daß Franz nicht glücklich sei, vergaß das herzige Geschöpf beinahe ihr eigenes Leid, um nur an das des Freundes zu denken.

Sie wußte wohl, daß er nicht mehr in Liebe zu ihr zurückkehren könne. Aber sie meinte, vielleicht würde er eines Tages verwundet und sterbend ins Zimmer treten, sich auf den kleinen, niedrigen Stuhl setzen, den Kopf auf ihre Knieen legen und ihr mit lautem Schluchzen sein Leid klagen und sie bitten: »Tröste mich« ...

Diese armselige Hoffnung erhielt sie drei Wochen lang am Leben. Sie bedurfte ja so wenig.

Aber nein. Selbst das ward ihr versagt. Franz war abgereist, abgereist ohne ihr einen Blick, ein Abschiedswort zu gönnen. Dem Verrathe des Geliebten folgte der Verrath des Freundes. Das war entsetzlich ...

Bei den ersten Worten fühlte sie sich in einen tiefen, eisigen, lichtlosen Abgrund gestürzt, in den sie mit rasender Schnelle und besinnungslos hinabsank, wohl wissend, daß sie nie zum Lichte zurückkehren werde. Sie erstickte. Sie hätte Widerstand leisten, sich sträuben, jemand zu Hilfe rufen mögen.

Aber wen?

Ihre Mutter würde sie nicht hören, das wußte sie.

Sidonie? ... O, sie kannte jetzt diese Freundin! Eher hätte sie sich an die kleinen Vögel mit dem glänzenden Gefieder wenden dürfen, deren feine Augen sie so gleichgültig heiter anblickten.

Das Schrecklichste war, daß sie auf der Stelle begriff, daß diesmal selbst die Arbeit sie nicht retten würde. Dieselbe hatte ihre wohlthuende Eigenschaft verloren. Die matten Arme hatten keine Kraft mehr, die müden Hände sanken müßig und muthlos herab.

Wer hätte sie nun in diesem Unglück aufrecht erhalten können?

Gott? Der sogenannte Himmel?

Sie dachte nicht einmal daran. In Paris, und zumal in den Arbeitervierteln, sind die Häuser zu hoch, die Straßen zu eng und die Luft zu dick, als daß man den Himmel erblicken könnte. Er verschwindet im Qualm der Fabrikschornsteine, im Nebel und Dampf, der von den feuchten Dächern aufsteigt. Und dann ist das Leben für die Mehrzahl dieser Leute so hart, daß diese, wenn ihnen in ihrem Elend der Gedanke an eine Vorsehung käme, derselben nur mit der Faust drohen und sie verfluchen würden. Das ist der Grund, weshalb so viele Selbstmorde in Paris vorkommen. Dies Volk, das nicht zu beten versteht, ist in jedem Momente zum Sterben bereit. Der Tod zeigt sich ihm als Ende aller Leiden, als Befreier und Tröster.

Ihn starrte die kleine Lahme so unverwandt an.

Sie hatte auf der Stelle ihren Entschluß gefaßt: sie wollte sterben.

Aber wie?

Während das dumme Leben um sie her seinen gewohnten Fortgang nahm, während ihre Mutter das Essen bereitete und der große Mann einen langen Monolog über menschliche Undankbarkeit hielt, saß sie unbeweglich in ihrem Stuhle und überlegte, welche Todesart sie wählen solle. Da sie beinahe nie allein war, so war an die Kohlenpfanne, die man anzündet, nachdem man die Ritzen an Fenstern und Thüren verstopft hat, nicht zu denken. Da sie niemals ausging, so war noch weniger an Gift zu denken, das man beim Apotheker kauft, ein kleines Päckchen mit weißem Pulver, das man zur Nadelbüchse und zum Fingerhut in die Tasche steckt. Allerdings hatte sie den Schwefel an den Streichhölzern zur Hand, den Grünspan an den Kupfermünzen und das große Fenster nach der Straße hinaus, aber der Gedanke, daß sie ihren Eltern das schreckliche Schauspiel eines selbstbereiteten Todes geben sollte, daß der Anblick ihrer Überreste, die man inmitten eines Volkshaufens auf der Straße auflesen würde, für dieselben entsetzlich sein müßte – dieser Gedanke veranlaßte sie, auf jene Mittel zu verzichten.

Es blieb noch der Fluß.

Das Wasser trägt einen wenigstens zuweilen so weit, daß niemand uns wiederfindet, und daß der Tod ein Geheimnis bleibt ...

Der Fluß!

Sie zitterte, als sie daran dachte. Aber nicht das Bild des tiefen, schwarzen Wassers erschreckte sie. Darüber lacht ein Pariser Mädchen. Man wirft die Schürze über den Kopf, um nichts zu sehen, und plumps! Aber sie mußte hinabsteigen, ganz allein auf die Straße gehen, und die Straße flößte ihr Furcht ein.

Während aber das arme Mädchen in tiefster Erregung dem Tode und dem Vergessen zustrebte und mit starren Augen, in denen bereits der Wahnsinn des Selbstmords leuchtete, von weitem den Abgrund musterte, beruhigte sich der berühmte Delobelle allmählich wieder und sprach weniger dramatisch. Da es außerdem beim Diner Kohl gab, sein Leibgericht, so gerieth er während des Essens in eine gerührte Stimmung, gedachte seiner frühern Triumphe, der Abonnenten von Alençon, des goldenen Kranzes, und begab sich dann, sobald er gespeist hatte, ins Odéon, um sich den »Misanthropen« anzusehen, in welchem sein Freund Robricart debütirte – geschniegelt und gebügelt, mit glänzend weißen Manschetten und einem neuen, blitzenden Hundertsousstück in der Tasche, das ihm seine Frau gegeben hatte, damit er nobel auftreten könne.

»Ich bin sehr zufrieden, daß Vater heute tüchtig gegessen hat,« sagte Mama Delobelle während des Abräumens. »Das hat ihn etwas getröstet, den armen Mann. Sein Theater wird ihn zerstreuen. Er hat es so nöthig« ...

... Ja, das war das Schlimmste, sie mußte allein über die Straße. Sie mußte warten, bis das Gas gelöscht wurde, mußte ganz leise die Treppe hinabsteigen, sobald die Mutter zu Bett war, sich die Thür öffnen lassen und dann ihren Weg quer durch dies Paris nehmen, wo man Männern begegnet, die einem frech ins Gesicht sehen, und an Cafés vorüber muß, die im hellsten Lichtglanz strahlen. Diese Furcht vor der Straße hegte Désirée schon seit ihrer Kindheit. Wenn sie als kleines Kind einer Besorgung halber hinabstieg, folgten ihr die Straßenjungen mit höhnischem Gelächter, und sie wußte nicht, was sie grausamer finden sollte, die Nachäffung ihres hinkenden Ganges, das Humpeln dieser frechen kleinen Blousenträger oder das Mitleid der Vorübergehenden, die voll Barmherzigkeit den Blick abwandten. Außerdem hatte sie Furcht vor den Wagen, den Omnibussen. Der Fluß lag weit entfernt. Sie mußte sehr müde werden. Und doch gab es kein anderes Mittel als dieses ...

»Ich gehe schlafen, Kind. Bleibst du noch auf?«

Ohne aufzublicken, erwidert das Kind, daß es aufbleiben werde. Es will sein Dutzend voll machen.

»Dann gute Nacht,« sagte Mama Delobelle, deren geschwächte Augen das Lampenlicht nicht mehr lange ertragen können. »Ich habe Vaters Souper ans Feuer gesetzt. Sieh noch einmal nach, ehe du zu Bett gehst.«

Désirée hat nicht gelogen. Sie will das Dutzend voll machen, damit der Vater es morgen früh forttragen kann, und wahrhaftig, beim Anblick dieses ruhigen kleinen Kopfes, der sich beim Schein der Lampe über die Arbeit beugt, würde nie jemand die düstern Gedanken ahnen, mit denen sich derselbe trägt.

Da endlich ist der letzte Vogel vom Dutzend fertig, ein prächtiges, kleines Vögelchen, dessen Flügel ganz grün schimmern mit einem saphirblauen Schein, als ob sie mit Meerwasser durchtränkt wären.

Sorgfältig, kokett befestigt Désirée ihn auf einem Messingdrahte in der reizenden Haltung eines Bewohners der Lüfte, der erschreckt davonfliegt.

O, er fliegt gut, der kleine, blaue Vogel. Wie leicht ist dieser Flügelschlag, wie scheint er sich im Raume zu verlieren. Wie fühlt man, daß es diesmal auf die große Reise geht, auf die Reise in die Ewigkeit, von der niemand zurückkehrt ...

*

Nun ist die Arbeit beendet, der Tisch aufgeräumt, die letzten Seidenfäden sorgfältig zusammengelesen und die Stecknadeln in das Nadelkissen gestoßen.

Der Vater wird beim Nachhausekommen beim Schimmer der herabgeschrobenen Lampe das Souper in der warmen Asche finden, und bei der Ordnung im Zimmer und der strengen Beobachtung aller seiner Gewohnheiten wird dieser schreckliche, unglückselige Abend ihm ruhig und friedlich vorkommen wie alle andern. Désirée öffnet leise den Schrank und nimmt ein kleines Shawltuch heraus, in das sie sich einhüllt. Dann geht sie.

Wie? Keinen Blick für ihre Mutter, kein stummes Lebewohl, kein Moment der Rührung? ... Nein, nichts. Mit dem furchtbaren Scharfblick der Sterbenden hat sie plötzlich erkannt, welcher egoistischen Liebe ihre Kindheit und ihre Jugend geopfert worden sind. Sie fühlt, daß ein einziges Wort ihres großen Mannes die dort Ruhende trösten wird, und grollt derselben beinahe, daß sie nicht erwacht, daß sie ihr Kind gehen läßt, ohne mit den geschlossenen Lidern zu zucken.

Wenn man jung stirbt, und sei es auch freiwillig, so geschieht das doch nie ohne Trotz, und so scheidet auch die arme Désirée aus dem Leben, über ihr Geschick empört.

Jetzt ist sie auf der Straße. Wohin soll sie sich wenden? Die Straßen sind bereits menschenleer. Diese tagsüber so belebten Stadtviertel werden abends schon frühzeitig still und öde. Man arbeitet hier zu viel, um nicht schnell einzuschlafen. Während das Paris der Boulevards noch voller Leben ist und den rothschimmernden Reflex einer fernen Feuersbrunst über die ganze Stadt wirft, sind hier die großen Thüren sämmtlich geschlossen und die Läden vor die Fenster gesetzt. Verspätetes Gehämmer, der Schritt eines Polizisten, den man hört, ohne ihn zu sehen, der in Folge des schwankenden Ganges öfter unterbrochene Monolog eines Betrunkenen stören die Stille nur von Zeit zu Zeit. Zuweilen fährt ein Windstoß von den benachbarten Kais herüber, klappert mit den Scheiben einer Laterne, rüttelt am morschen Seile einer Winde, läßt dann an der Biegung einer Straße nach und erlischt mit einem Pfeifen unter einer schlecht schließenden Thorschwelle.

In ihren kleinen Shawl gehüllt, schreitet Désirée mit erhobenem Haupte und trockenen Augen hastig dahin. Ohne den Weg zu kennen, geht sie geradeaus, immer geradeaus.

Die engen, düstern Straßen des Marais, in denen hier und da in weiten Abständen eine Laterne flackert, winden und durchkreuzen sich, und jeden Augenblick kommt sie bei ihrem fieberhaften Suchen auf den alten Fleck zurück. Immer wieder schiebt sich etwas zwischen sie und den Fluß. Und doch bläst der herüberwehende Wind ihr eine feuchte Frische ins Gesicht. Wahrhaftig, es ist gerade, als ob das Wasser zurückwiche und sich mit Schranken umgäbe, als ob dicke Mauern und hohe Häuser sich absichtlich zwischen sie und den Tod stellten. Aber die kleine Lahme hat ein tapferes Herz und schreitet auf dem holprigen Pflaster der alten Straßen weiter und weiter.

Saht ihr wohl einmal am Abend eines Jagdtages ein verwundetes Feldhuhn eine Furche entlang flüchten? Es duckt sich, streift hart an der Erde hin und schleppt sich mit dem blutenden Flügel einem Orte zu, wo es in Ruhe sterben kann. Der zögernde Gang dieses kleinen Schattens da, der dem Trottoir folgt und dicht an den Mauern hinstreift, macht ganz denselben Eindruck. Und zur selben Stunde irrt noch jemand voll Verzweiflung wartend und spähend fast im nämlichen Stadtheil ebenfalls durch die Straßen! O, wenn sie sich begegneten! Wenn sie ihn anredete, den fieberhaft Eilenden, wenn sie ihn nach dem Wege fragte:

»Entschuldigen Sie, mein Herr, wo geht es hier zur Seine?« ...

Er würde sie sofort erkennen:

»Wie? Sie sind's, Mamsell Zizi? Was thun Sie zu dieser Stunde außer dem Hause?«

»Ich will sterben, Franz. Sie haben mir die Lust zum Leben genommen.«

Dann würde er sie in tiefer Erregung umfassen, an sein Herz drücken, in seinen Armen davontragen und zu ihr sagen:

»Nein, nein, stirb nicht. Ich bedarf deiner, um mich zu trösten, um zu gesunden von all dem Leid, das die andere mir angethan hat.«

Aber das ist ein Poetentraum, eins von jenen Ereignissen, wie das Leben sie nicht zu erfinden versteht. Es ist viel zu grausam, das unerbittliche Leben! und wenn es, um ein Wesen zu retten, zuweilen nur einer Kleinigkeit bedarf, so hütet es sich doch, diese Kleinigkeit zu geben. Aus diesem Grunde sind die wahren Romane immer so traurig ...

Straßen und wieder Straßen, dann ein Platz und eine Brücke, deren Gaslaternen eine andere, strahlende Brücke auf die düstere Wasserfläche zeichnen. Das ist endlich der Fluß. Im leichten Nebel des feucht-milden Herbstabends erscheint ihr dies Paris, das ihr so unbekannt ist, in einer unbegrenzten Größe, die ihre Unkenntnis der Örtlichkeiten noch vermehrt. Hier ist der Ort, wo sie sterben muß.

Sie fühlt sich so klein, so einsam, so verloren in der Unermeßlichkeit der öden, matt erleuchteten Riesenstadt. Es ist ihr, als wäre sie bereits todt. Sie nähert sich dem Ufer, aber plötzlich hält ein Duft von Blattwerk, Blüten und frischer Erde eine Minute lang ihre Schritte auf. Zu ihren Füßen, auf dem am Wasser hinführenden Trottoir, stehen eine Menge strohumflochtener Stauden und Blumentöpfe in weißen Papierhüllen schon zum Markte für den folgenden Tag geordnet. In ihre Umschlagetücher eingehüllt, die Füße auf die Wärmpfanne stützend, lehnen die Verkäuferinnen in ihren Stühlen, vom Schlaf und der nächtlichen Kühle betäubt. Maßlieben von allen Farben, Reseda und Spätrosen füllen die Luft mit ihrem Dufte. Aus der Ferne hergeführt, dem mütterlichen Boden entrissen, stehen sie dort im Mondschein mit ihrem kleinen Schatten um sich her und harren der Laune des schlummernden Paris.

Arme kleine Désirée! Mit dem Dufte dieses ambulanten Gartens scheinen die Zeiten ihrer Jugend, die seltenen Tage des Glücks und ihre betrogene Liebe noch einmal in ihr aufzusteigen. Langsam schreitet sie zwischen den Blumen hin. Zuweilen rauschen die Stauden unter einem Windstoße wie die Zweige in einem Hochwald, und aus den Körben voll entwurzelter Pflanzen, die auf dem Trottoire stehen, steigt ein Geruch nach feuchter Erde auf.

Die Landpartie, die sie mit Franz gemacht hat, kommt ihr in den Sinn. Den Odem der Natur, den sie an jenem Tage zum ersten Mal geathmet hat, findet sie jetzt im Augenblicke des Sterbens wieder. – »Erinnerst du dich?« scheint er zu fragen, und sie sagt zu sich selbst: »O ja, ich erinnere mich wohl.«

Sie erinnert sich nur zu gut. Am Ende dieses wie zu einem Feste geschmückten Kais angekommen, steht der kleine Schatten an der Treppe still, die zum Flusse hinabführt – – –

Fast im selben Augenblicke entsteht auf der ganzen Länge des Kais lautes Geschrei und eiliges Rennen. »Schnell einen Kahn und Bootshaken!« Von allen Seiten eilen Schiffer und Polizisten herbei. Ein Boot mit einer Laterne am Vordertheil löst sich vom Ufer los.

Die Blumenhändlerinnen erwachen, und als eine von ihnen gähnend fragt, was denn los sei, erwidert ihr die Kaffeeverkäuferin an der Ecke der Brücke ruhig:

»Ein Frauenzimmer ist ins Wasser gesprungen.«

Doch nein, der Fluß hat dies Kind nicht gewollt. Er hat Mitleid gehabt mit so viel Anmuth und Güte. Im Schimmer der Laternen, die sich da unten am Wasser hin und her bewegen, bildet sich eine schwarze Gruppe und setzt sich in Marsch. Sie ist gerettet! ... Ein Sandbaggerer hat sie wieder herausgefischt. Stadtsergeanten tragen sie, umringt von Schiffern und Ausladern, und in der Stille der Nacht hört man eine grobe, heisere Stimme spotten: »Das Wasserhuhn hat mir wahrhaftig Mühe gemacht. Hättet sehen müssen, wie es mir durch die Finger ging! ... Ich glaube wahrhaftig, sie hätte mich gar zu gern um meine Prämie gebracht!« ... Nach und nach legt sich der Tumult, die Neugierigen zerstreuen sich, und während die schwarze Gruppe sich auf eine Polizeiwache zu bewegt, schlafen die Blumenverkäuferinnen wieder ein, und auf dem verlassenen Quai zittern die Maßliebchen im kühlen Nachtwind.

Armes Kind, du glaubtest, es sei so leicht, aus dem Leben zu scheiden, plötzlich zu verschwinden. Du wußtest nicht, daß der Fluß, anstatt dich schnell ins Nichts hinauszureißen, dich aller Schmach und allem Schimpfe eines mißlungenen Selbstmords überliefern würde. Zuerst die Wache, die häßliche Wache mit ihren schmutzigen Bänken und dem Fußboden, dessen durchnäßter Staub dem Straßenkothe gleicht. Dort mußte Désirée die Nacht zubringen. Man hatte sie auf ein Feldbett vor dem Ofen gelegt, den man in gutherziger Absicht stark geheizt hatte, und dessen ungesunde Hitze ihre schweren, vom Wasser triefenden Kleider zum Rauchen brachte. Wo war sie? Sie wußte sich keine rechte Rechenschaft davon zu geben. Die ringsum in gleichen Betten ruhenden Männer, die traurige Leere des weiten Raums, das Geheul zweier eingesperrten Trunkenbolde, die unter entsetzlichen Flüchen gegen die Thür im Hintergrunde schlugen – das alles sah und hörte die kleine Lahme nur undeutlich und ohne es zu begreifen.

In ihrer Nähe kauerte ein in Lumpen gehülltes Weib mit wirr auf die Schultern herabhängenden Haaren vor der Ofenthür, deren rother Reflex nicht im Stande war, ihrem bleichen, verstörten Gesichte einen Schimmer von Farbe zu verleihen. Es war eine Wahnsinnige, die man während der Nacht aufgegriffen hatte, ein armes Geschöpf, das maschinenmäßig den Kopf schüttelte und bewußtlos und fast ohne die Lippen zu bewegen unablässig die Worte wiederholte: »Ach ja, Noth, man darf es wohl sagen ... ach ja, Noth, man darf es wohl sagen« ... Dies düstere Klagelied inmitten des Schnarchens der Schläfer verursachte Désirée ein entsetzliches Weh. Sie schloß die Augen, um dies verstörte Gesicht nicht mehr zu sehen, vor dem sie sich entsetzte, als wäre es die Personification ihrer eigenen Verzweiflung. Von Zeit zu Zeit wurde die Thür nach der Straße zu geöffnet, die Stimme eines Vorgesetzten rief einige Namen, und zwei Polizisten gingen hinaus, während zwei andere hereinkamen und sich, ermüdet wie Wachtmatrosen, die die Nacht auf dem Verdeck zugebracht haben, quer auf die Betten warfen.

Endlich erschien der Tag mit jener kalten Helle, die für die Kranken so grausam ist. Désirée erwachte plötzlich aus ihrer Betäubung, richtete sich im Bette auf, warf den Matrosenmantel zurück, in den man sie eingehüllt hatte, und versuchte trotz der Mattigkeit und des Fiebers aufzustehen, um die Herrschaft über sich selbst und über ihren Willen wiederzugewinnen. Sie hegte nur noch den einen Gedanken, allen diesen Augen zu entschlüpfen, die sich um sie her aufthaten, und diesen schrecklichen Ort zu verlassen, wo der Schlaf einen so schweren Athem und so gezwungene Stellungen zeigte.

»Meine Herren, ich bitte Sie, lassen Sie mich zu Mama zurückkehren,« sagte sie zitternd.

So verhärtet diese braven Leute gegen die Pariser Dramen waren, sie begriffen doch, daß sie hier etwas Edleres, Ergreifenderes vor sich hatten. Nur konnten sie Désirée noch nicht zu ihrer Mutter zurückführen. Sie mußte vorher erst noch zum Commissar. Das war unerläßlich. Aus Mitleid für sie ließ man einen Fiaker kommen, aber sie mußte das Gebäude verlassen, und an der Thür stand eine Menge von Leuten, welche die kleine Lahme mit ihren durchnäßten, an den Schläfen klebenden Haaren und ihrem Matrosenmantel, unter welchem sie vor Kälte zitterte, vorübergehen sehen wollten. Im Commissariat ließ man sie eine dunkle, feuchte Treppe hinaussteigen, auf der ihr wahre Galgengesichter begegneten. Dann kam eine Flügelthür, die im dienstlichen Verkehr fortwährend geöffnet und geschlossen wurde, kalte, schlecht erleuchtete Zimmer, auf den Bänken schweigende, betäubte, schlaftrunkene Leute, Vagabunden, Diebe, Dirnen, ein mit einer alten grünen Decke bedeckter Tisch, an welchem »der Hund des Commissars« arbeitete, ein langer Teufel mit einem Bauernkopfe und im verschlissenen Überrock – dort war's.

Als Désirée eintrat, stand im Dunkel hinten ein Mann auf, kam ihr entgegen und reichte ihr die Hand. Es war der Mann mit der Prämie, der abscheuliche Mensch, der sie um fünfundzwanzig Franken willen gerettet hatte.

»Nun, Mütterchen,« sagte er mit cynischem Lachen und einer Stimme, bei deren Klang man unwillkürlich an neblige Nächte auf dem Wasser denken mußte – »nun, Mütterchen, wie geht's uns denn nach dem Sturzbad?«

Und nun erzählte er den Anwesenden, auf welche Weise er sie herausgefischt, wie er sie gefaßt hatte, so, und dann so, und daß sie ohne ihn jetzt schon sicherlich auf dem besten Wege nach Rouen wäre.

Die Unglückliche wurde vor Scham und Fieber purpurroth. Sie war so verwirrt, daß es ihr vorkam, als habe der Fluß einen Schleier vor ihren Augen, ein Brausen in ihren Ohren zurückgelassen. Endlich führte man sie in ein kleineres Zimmer, vor eine feierlich dreinschauende, mit Orden geschmückte Persönlichkeit, den Herrn Commissar selbst, der eben seinen Milchkaffee trank und die Gerichtszeitung las.

Während dieser ein Brötchen in den Kaffee tauchte, sagte er, ohne von seiner Zeitung aufzuschauen, in barschem Tone: »Ah! Sie sind's« ... und der Polizeisergeant, der Désirée hierher geführt hatte, begann nun sogleich seinen Rapport zu verlesen:

»Um elf drei Viertel Uhr machte die *** Delobelle, vierundzwanzig Jahre alt, Putzmacherin, wohnhaft Rue de Braque bei ihren Eltern, vor dem Hause Nr. 17 am Quai de la Mégisserie einen Selbstmordversuch, indem sie sich in die Seine stürzte, aus der sie jedoch von Herrn Parcheminet, Sandbaggerer, wohnhaft in der Rue de la Butte-Chaumont, wohlbehalten wieder herausgezogen worden ist.«

Der Herr Commissar hörte kauend und mit der ruhigen und gelangweilten Miene eines Menschen zu, den nichts mehr in Erstaunen setzt. Schließlich blickte er dann die *** Delobelle streng und strafend an und hielt ihr eine gewichtige Strafpredigt. Das war sehr schlecht, sehr erbärmlich, was sie da gethan hatte. Was hatte sie denn nur zu einer so schlechten That bewegen können? Warum wollte sie sterben? Nun, antworten Sie, *** Delobelle, warum?

Aber die *** Delobelle blieb verstockt und antwortete nicht. Es schien ihr, als besudle sie ihre Liebe, wenn sie sich an einem solchen Orte zu derselben bekenne. »Ich weiß nicht ... ich weiß nicht« ... sagte sie leise, vor Frost schaudernd.

Unwillig und ungeduldig erklärte der Herr Commissar, daß man sie zu ihren Eltern zurückführen werde – aber unter einer Bedingung: sie müsse versprechen, es nie wieder zu thun.

»Nun, wollen Sie mir das versprechen?« ...

»O! Ja, ja, mein Herr« ...

»Sie wollen es also nie wieder thun?« ...

»Nein! Gewiß nicht ... nie ... nie« ...

Trotz aller ihrer Betheuerungen schüttelte der Herr Polizeicommissar den Kopf, als glaube er diesem Eide nicht.

Endlich ist sie draußen, auf dem Wege nach Hause, nach ihrem natürlichen Asyl. Aber ihr Märtyrerthum war noch nicht zu Ende.

Im Wagen zeigte sich der Polizeibeamte, der sie begleitete, gar zu höflich, gar zu liebenswürdig. Sie that, als verstehe sie ihn nicht, rückte bei Seite, zog ihre Hand weg. Welche Marter! ... Das Schrecklichste aber war die Ankunft in der Rue de Braque, die Aufregung im Hause, die Neugier der Nachbarn. Schon seit dem frühen Morgen wußte man nämlich im ganzen Viertel, daß sie verschwunden sei, und es ging das Gerücht, sie wäre mit Franz Risler abgereist. Schon in aller Frühe hatte man den berühmten Delobelle mit verkehrt ausgestülptem Hute und zerknitterten Manschetten, den Anzeichen einer ungewöhnlichen Erregung, ganz verstört das Haus verlassen sehen, und die Portiersfrau hatte, als sie den täglichen Bedarf hinauftrug, die arme Mama Delobelle in halbem Wahnsinn angetroffen, wie sie von einem Zimmer ins andere lief und nach einer Zeile von dem Kinde, nach einer, wenn auch noch so geringen Spur suchte, die wenigstens zu einer Vermuthung führen könnte.

Der armen Frau war jetzt plötzlich, leider zu spät, ein Licht über das Benehmen ihres Kindes während der letzten Tage, über dessen Schweigen bei Franzens Abreise aufgegangen. »Weine nicht, Frau ... ich bringe sie zurück« ... hatte der Vater beim Weggehen gesagt, und seitdem er sich entfernt hatte, sowohl um Erkundigungen einzuziehen, als auch um dem Anblick ihres Schmerzes auszuweichen, eilte nun die Arme beständig vom Fenster zum Flur und vom Flur wieder zum Fenster. Bei dem geringsten Geräusch auf der Treppe öffnete sie mit Herzklopfen die Thür und stürzte hinaus, und wenn sie dann wieder zurückkam, zerfloß sie in Thränen beim Anblick des Zimmers, dessen beklemmende Einsamkeit der leere, halb dem Nähtisch zugekehrte Lehnstuhl Désirée noch vermehrte.

Plötzlich hielt ein Wagen unten vor der Thür. Im Hause erschollen Stimmen und Schritte.

»Mama Delobelle, hier ist sie! ... Ihre Tochter ist wieder da!«

Ohne Shawl und Hut, in einen großen, braunen Mantel gehüllt, stieg wirklich Désirée bleich und hinfällig am Arme eines Unbekannten die Treppe herauf. Als sie ihre Mutter erblickte, lächelte sie derselben mit einem fast einfältigen Ausdruck in den Zügen zu.

»Erschrick nicht, es ist nichts« ... versuchte sie zu stammeln, dann brach sie auf der Treppe zusammen. Nie hätte Mama Delobelle sich für so stark gehalten. Ihr Kind aufheben, es ins Zimmer tragen, aufs Bett legen – das alles war das Werk eines Augenblicks. Und dabei sprach sie mit ihm und küßte es.

»Endlich, endlich bist du wieder da. Woher kommst du nur, unglückliches Kind? Sag', ist's wahr, daß du dich hast ums Leben bringen wollen? Du hattest also ein großes Weh? ... Warum hast du mir das verhehlt?«

Als sie ihre Mutter in solchem Zustande, mit heißen Thränen in den Augen und in wenigen Stunden um Jahre gealtert sah, da fühlte Désirée heftige Gewissensbisse. Sie dachte daran, daß sie ohne Abschied weggegangen war, und daß sie sie im Grunde ihrer Seele der Lieblosigkeit geziehen hatte.

Der Lieblosigkeit!

»Aber dein Tod wäre auch der meine gewesen,« sagte die arme Frau. »O, als ich heute Morgen aufstand, als ich sah, daß dein Bett unberührt war, und dich auch nicht im Zimmer erblickte ... da drehte sich alles mit mir herum, und ich fiel zu Boden ... Bist du nun warm? ... Liegst du auch gut? ... Du wirst's nicht wieder thun, nicht wahr, du willst nicht mehr sterben?«

Und sie stopfte die Decken fester um sie, wärmte ihr die Füße, drückte sie ans Herz und wiegte sie wie ein kleines Kind.

Vor den geschlossenen Augen Désirées zogen jetzt all die Einzelheiten ihres Selbstmordes von neuem vorüber, all das Entsetzliche, was sie durchgemacht hatte, nachdem man sie dem Tode entrissen. Im Fieber, das sich jetzt steigerte, und in dem bleischweren Schlummer, in den sie zu versinken begann, quälte und ängstigte sie noch immer ihr toller Marsch quer durch Paris. Tausende von düstern Straßen thaten sich vor ihr auf, und am Ende einer jeden floß die Seine.

Der entsetzliche Fluß, den sie während der Nacht nicht zu finden vermochte, verfolgte sie nun im Traume.

Sie fühlte sich über und über mit seinem Schlamm und seinem Schmutze bespritzt, und während des entsetzlichen Alpdrückens, das sie quälte, flüsterte das arme Kind, das nicht mehr wußte, wie es diesen Erinnerungen entgehen sollte, leise der Mutter zu: »Versteck' mich ... Versteck' mich ... ich schäme mich!«


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