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V. Wie die Geschichte der kleinen Chèbe endete.

Inzwischen kam der September heran.

Die Jagd hatte eine zahlreiche, lärmende, gemischte Gesellschaft im Schlosse zusammengeführt. Alle diese reichen Spießbürger tafelten mit der Langsamkeit, Lässigkeit und Schläfrigkeit von Bauern. Zuweilen fuhr man in der Dämmerung der kühlen Herbstabende den Jägern auf der Landstraße entgegen. Auf den Stoppelfeldern stieg der Nebel auf, und während das aufgeschreckte Wild mit ängstlichem Geschrei über die Äcker streifte, schien langsam die Nacht aus den Gehölzen emporzusteigen, deren dunkle Massen sich weit über die Ebene hin erstreckten.

Man zündete die Wagenlaternen an und kehrte dann, in die entfalteten Decken gehüllt, eilig heim, wobei der scharfe Wind die Gesichter röthete. Der prächtig erleuchtete Saal füllte sich mit Lärm und Gelächter.

Clara Fromont, von der Ungeschliffenheit dieser Umgebung peinlich berührt, sprach nur wenig. Sidonie dagegen strahlte in all ihrem Glanz. Die Fahrt hatte ihre bleiche Gesichtsfarbe und ihre Pariser Augen belebt. Sie wußte vortrefflich zu lachen, verstand vielleicht ein wenig zu viel und schien den Leuten, die hier beisammen waren, das einzige anwesende Weib zu sein. Dieser Erfolg verdrehte Georges Fromont vollends den Kopf. Aber je mehr er sich ihr zu nähern suchte, desto zurückhaltender wurde sie. Seitdem war er entschlossen, sie zu heirathen. Er schwor sich das zu mit dem übertriebenen Pathos schwacher Charaktere, die immer im voraus die Einwürfe zu bekämpfen scheinen, denen sie, wie sie wissen, eines Tages nachgeben werden ...

Für die kleine Chèbe war dies die schönste Zeit ihres Lebens. Ganz abgesehen von ihrem ehrgeizigen Ziele, fand ihre kokette, verschlagene Natur schon einen eigenthümlichen Reiz an dieser Liebesintrigue, die sich geheimnisvoll inmitten der Feste und Gelage fortspann.

In ihrer Umgebung ahnte niemand etwas. Clara stand in jenem gesunden, reizenden Alter, wo der halberschlossene Geist in völliger Unkenntnis der Lüge und des Treubruchs sich mit blindem Vertrauen den Dingen hingiebt, die er kennt. Herr Fromont dachte nur an sein Geschäft. Seine Frau putzte wie unsinnig ihr Geschmeide. Nur der alte Gardinois und seine kleinen Bohraugen waren zu fürchten, aber Sidonie unterhielt ihn, und selbst wenn er etwas entdeckt hätte, so war er doch nicht der Mann, sie um ihre Zukunft zu bringen.

Sie triumphirte, als plötzlich eine unerwartete Katastrophe ihre Hoffnungen vernichtete.

Eines Sonntags morgens brachte man bei der Rückkehr vom Anstande Herrn Fromont tödtlich verwundet nach Hause. Ein auf ein Reh abgefeuerter Schuß hatte ihn in die Schläfe getroffen. Das Schloß gerieth in die größte Verwirrung.

Die Jäger, darunter auch der unbekannte Fehlschütz, brachen eilig nach Paris auf. Clara, vor Schmerz außer sich, entfernte sich nicht mehr aus dem Zimmer, wo ihr Vater mit dem Tode rang, und Risler, den man schleunigst von dem Unglücksfalle benachrichtigt hatte, kam, um Sidonie heimzuholen.

Am Abend vor ihrer Abreise hatte sie noch mit Georges am »Gespenst« ein letztes Stelldichein, ein peinliches, verstohlenes Abschiedsrendezvous, das die Nähe des Todes feierlicher machte. Dennoch schwor man sich ewige Treue und traf eine Verabredung, in welcher Weise man sich im Geheimen schreiben wolle. So trennten sie sich.

Traurige Heimkehr.

Von dem verzweifelnden Risler begleitet, für den der Tod seines geliebten Herrn ein unersetzlicher Verlust war, kehrte sie jetzt unvermittelt zu ihrem Alltagsleben zurück. Zu Hause angelangt, mußte sie ihre Erlebnisse bis auf die kleinsten Einzelheiten berichten, von den Schloßbewohnern, den Gästen, den Festen, den Diners, dem Unfall am Ende erzählen. Welche Marter war das für sie, die, immer nur einem einzigen Gedanken hingegeben, so sehr der Stille und Einsamkeit bedurft hätte! Aber das war noch nicht das Schrecklichste.

Franz hatte vom ersten Tage ihrer Rückkunft an seinen alten Platz wieder eingenommen, und seine Blicke, die nur sie suchten, seine Worte, die nur an sie gerichtet waren, schienen ihr nun von unerträglicher Zudringlichkeit.

Der arme Junge glaubte sich trotz seiner Schüchternheit und seines Mißtrauens gegen sich selbst als erklärter und ungeduldiger Liebhaber ganz in seinem Rechte, und die kleine Chèbe war gezwungen, auf ihr Traumleben zu verzichten, um diesem Gläubiger Rede zu stehen und den Verfalltag immer weiter hinauszuschieben.

Es kam jedoch ein Tag, an welchem keine Unentschiedenheit mehr möglich war.

Sie hatte versprochen, Franz zu heirathen, sobald er eine Stelle gefunden hätte, und nun bot man ihm einen Ingenieurposten im Süden, bei den Hochöfen von Grand' Combe an. Für einen bescheidenen Haushalt war das ausreichend.

Keine Möglichkeit, auszuweichen.

Sie mußte sich opfern oder einen Vorwand finden. Aber was für einen? ...

In dieser höchsten Noth dachte sie an Désirée. Obgleich die kleine Lahme sie nie ins Vertrauen gezogen hatte, kannte sie doch deren große Liebe zu Franz. Sie hatte das schon seit Langem mit ihren koketten Augen errathen, den klaren, wechselnden Spiegeln, die alle Gedanken der andern wiederstrahlten, ohne je die eigenen sehen zu lassen. Vielleicht hatte sogar der Gedanke, daß eine andere Frau ihren Bräutigam liebe, ihr Franzens Zuneigung zuerst erträglicher gemacht, und wie man Statuen auf die Gräber stellt, um deren Traurigkeit zu mildern, so hatte Désirées hübsches, kleines, bleiches Gesicht an der Schwelle ihrer freudeleeren Zukunft ihr dieselbe weniger düster erscheinen lassen.

Jetzt nun bot ihr das einen passenden und sogar ehrenden Vorwand, um sich von ihrem Versprechen frei zu machen.

»Nein, siehst du, Mama,« sagte sie eines Tages zu Frau Chèbe, »ich werde mich nie dazu verstehen, eine Freundin wie diese unglücklich zu machen. Mein Gewissen würde mir niemals Ruhe lassen ... Die arme Désirée! Du hast also gar nicht bemerkt, wie leidend sie seit meiner Rückkunft aussieht, wie sie mich oft flehend anblickt? ... Nein! ich will ihr nicht diesen Schmerz bereiten, will ihr ihren Franz nicht rauben.«

So sehr aber auch Frau Chèbe die Hochherzigkeit ihrer Tochter bewunderte, so fand sie dies Opfer doch übertrieben und machte Einwendungen dagegen.

»Sieh dich vor, mein Kind, wir sind nicht reich ... Ein Mann wie Franz findet sich nicht alle Tage.«

»Um so schlimmer! Dann heirathe ich gar nicht« ... erklärte Sidonie rundweg, und da ihr Vorwand ihr vortrefflich schien, hielt sie energisch daran fest. Nichts konnte sie von ihrem Entschlusse abbringen, weder Franzens Thränen, der über diesen Korb, für den man ihm nicht einmal die Gründe angeben wollte, ganz außer sich gerieth, noch die Bitten Rislers, dem Frau Chèbe unter dem Siegel der Verschwiegenheit diese Gründe mitgetheilt hatte, und der trotz alledem einem solchen Opfer seine Bewunderung nicht versagen konnte.

»Verdamme sie nicht! ... Sie ist ein Engel!« ... sagte er zu seinem Bruder und suchte ihn zu beruhigen.

»Ja, sie ist ein Engel,« bekräftigte Frau Chèbe seufzend, so daß der arme verrathene Liebhaber nicht einmal das Recht hatte, sich zu beklagen. Voll Verzweiflung beschloß er, Paris zu verlassen, und da ihm Grand' Combe noch zu nahe schien, erbat und erhielt er eine Inspectorstelle bei den Arbeiten am Suezcanal in Ismaïlia in Ägypten. Er reiste ab, ohne von Désirées Liebe etwas zu wissen oder wissen zu wollen. Und doch sah ihn die liebe Kleine, als er von ihr Abschied nahm, mit so süßen, schüchternen Augen an, mit Augen, in denen deutlich zu lesen stand:

»Ich, ich liebe dich, wenn auch sie dich nicht liebt« ...

Aber Franz Risler verstand die Schrift in diesen Augen nicht zu lesen.

Glücklicherweise besitzen die leidgewohnten Seelen eine unversiegliche Geduld. Nach der Abreise ihres Freundes machte sich die lahme Kleine mit jener reizenden Illusionskraft, die sie von ihrem Vater geerbt hatte, und von ihrer Frauennatur erleuchtet, muthig wieder an die Arbeit, indem sie zu sich sagte:

– Ich werde auf ihn warten.

Und seitdem breitete sie die Schwingen ihrer kleinen Vögel weit auseinander, als ob dieselben einer nach dem andern nach Ismaïlia in Ägypten fliegen sollten ... Und das war weit!

Von Marseille aus, kurz vor der Einschiffung, schrieb der junge Risler noch einen letzten, halb rührenden, halb komischen Brief an Sidonie, in welchem der unglückliche Ingenieur, technische Einzelheiten in den herzbrechenden Abschied einmischend, ihr erklärte, daß er gebrochenen Herzens auf dem »Sahib« abreise, »einem Dampfer von fünfzehnhundert Pferdekräften«, gerade als ob er gehofft hätte, eine so beträchtliche Anzahl von Pferdekräften müsse einen tiefen Eindruck auf die Ungetreue machen und sie mit ewiger Reue erfüllen. Aber Sidonie hatte ganz andere Dinge im Kopfe.

Georges' Schweigen fing an sie zu beunruhigen. Seit ihrer Abreise von Savigny hatte sie ein einziges Mal von ihm Nachricht erhalten, und dann nicht wieder. Alle ihre Briefe blieben ohne Antwort. Allerdings wußte sie von Risler, daß Georges mit Geschäften überhäuft sei, und daß der Tod seines Onkels, wodurch ihm die ganze Leitung der Fabrik aufgebürdet wurde, ihm eine Verantwortlichkeit auferlegt habe, die seine Kräfte überstieg – – – Aber kein Wort zu schreiben!

Vom Flurfenster aus, an welchem sie, da sie den Wiedereintritt in das Geschäft des Fräuleins Le Mire zu umgehen gewußt hatte, jetzt wieder auf ihren Beobachtungsposten zurückgekehrt war, suchte die kleine Chèbe ihren Liebhaber zu erspähen, überwachte sein Gehen und Kommen in den Höfen und Gebäuden und sah ihn abends, um die Abfahrtszeit des Zuges nach Savigny, in den Wagen steigen, um zu seiner Tante und seiner Cousine hinauszufahren, die die ersten Trauermonate bei dem Großvater auf dem Lande verlebten.

Das alles regte sie auf und erschreckte sie. Besonders aber machte die Nähe der Fabrik ihr die Trennung von Georges noch fühlbarer. Wenn man bedachte, daß ein etwas lauter Ruf ihn erreichen und veranlassen konnte, sich nach ihr umzuschauen! daß nur eine Mauer sie von einander trennte! Und dennoch befanden sie sich in diesem Augenblicke so fern von einander.

Entsinnst du dich noch jenes traurigen Winterabends, kleine Chèbe, wo der gute Risler mit strahlendem Gesichte in die Wohnung deiner Eltern trat und dabei ausrief: »Große Neuigkeiten!«?

In der That, große Neuigkeiten.

Georges Fromont hatte ihm soeben mitgetheilt, daß er, dem letzten Willen seines Onkels gemäß, seine Cousine Clara heirathen werde, und daß er, da er die Fabrik nicht allein leiten könne, entschlossen sei, ihn – Risler – zum Compagnon zu nehmen. Das Geschäft sollte fortan die Firma: Fromont junior & Risler senior führen.

Wie hast du es nur fertig gebracht, deine Fassung zu bewahren, kleine Chèbe, als du hörtest, daß die Fabrik dir entgehen, daß eine andere deinen Platz einnehmen sollte? ... Welch' trauriger Abend! ... Frau Chèbe saß mit einer Flickarbeit am Tisch, Herr Chèbe trocknete am Feuer seine bei einem weiten Gange vom Regen durchnäßten Kleider. O dies elende, trübselige, langweilige Heim! Die Lampe brannte schlecht, das hastig eingenommene Mahl hatte den Geruch vom Essen armer Leute im Zimmer zurückgelassen, und dieser Risler sprach so freudetrunken, erwärmte sich, machte Pläne!

Alles das preßte dir das Herz zusammen und ließ den Verrath noch abscheulicher erscheinen durch den Vergleich des Reichthums, der deiner schon ausgestreckten Hand entschlüpfte, mit dieser gemeinen Alltäglichkeit, in der du zu leben verdammt warst ...

Sie erkrankte davon ernstlich und lange.

Wenn die Scheiben, von irgend einem Geräusch erschüttert, hinter den Vorhängen klirrten, so meinte die Arme auf ihrem Lager immer, die Hochzeitswagen Georges Fromonts rollten unten auf der Straße vorüber, und sie verfiel in unerklärliche, lautlose nervöse Krämpfe, als ob ein Zornfieber sie verzehre.

Schließlich wurden die Zeit, die Jugendkraft, die Sorge der Mutter und namentlich die Pflege Désirées, die jetzt um das Opfer wußte, das man ihr gebracht hatte, zwar der Krankheit Herr, aber Sidonie blieb noch lange äußerst schwach, zum Sterben traurig und zu nervösen Weinkrämpfen geneigt.

Zuweilen sprach sie davon, Paris zu verlassen, zu reisen. Ein andermal wollte sie ins Kloster gehen. Alle waren um sie bekümmert, man suchte nach der Ursache dieser eigenthümlichen Stimmung, die noch beunruhigender war, als die Krankheit. Da plötzlich vertraute sie ihrer Mutter den geheimen Grund ihrer Schwermuth an.

Sie liebe Risler senior ... Sie hatte es nie zu gestehen gewagt, aber nur ihn hatte sie immer geliebt, nicht Franz.

Diese Nachricht setzte alles in Erstaunen, und Risler selbst mehr als jeden andern. Aber die kleine Chèbe war so hübsch, sie sah ihn mit so süßen Blicken an, daß der gute Junge sich augenblicklich rasend in sie verliebte. Vielleicht hatte auch diese Liebe schon seit langem unbewußt in seinem Herzen geschlummert ...

*

Und so kam es, daß die junge Frau Risler in ihrem weißen Hochzeitskleide am Abend ihres Hochzeitstages mit triumphirendem Lächeln das Flurfenster betrachtete, das gewissermaßen zehn Jahre ihres Lebens umrahmte. Dies stolze Lächeln, in welchem sich tiefes Mitleid und ein wenig Verachtung malte, wie sie nur immer ein Emporkömmling gegen seine anfängliche Stellung hegen kann, war augenscheinlich an das arme, abgezehrte Kind gerichtet, das sie da oben sich gegenüber in der Tiefe der Nacht und der Vergangenheit zu erblicken glaubte, und dem sie, indem sie auf die Fabrik deutete, zuzurufen schien:

– Was sagst du nun, kleine Chèbe? ... Du siehst, jetzt bin ich hier ...


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