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III. Zahltag! ...

Auf der großen Thurmuhr der Kirche Saint-Gervais schlug es ein Uhr nach Mitternacht. Es war so kalt, daß der feine, durch die Luft wirbelnde Schnee im Herabfallen gefror und das Pflaster mit einem weißen, krachenden Überzuge bedeckte.

Risler kam, in seinen Mantel gewickelt, aus der Brauerei und schritt schnell durch das menschenleere Marais. Er war zufrieden, der gute Risler. Soeben hatte er in Gesellschaft der beiden getreuen Borger Chèbe und Delobelle seinen ersten freien Abend gefeiert, das Ende der schier endlosen Abgeschiedenheit, in der er mit allen den Zweifeln, Freuden und Enttäuschungen des Erfinders die Herstellung seiner Druckpresse überwacht hatte. Und das hatte lange, sehr lange gedauert. Noch im letzten Augenblicke hatte man einen Fehler entdeckt. Die automatische Vorrichtung zum Aufhängen der Tapeten arbeitete noch nicht ohne Anstoß, und er hatte daher seine Zeichnungen und Berechnungen von neuem durchsehen müssen. Heute endlich hatte man die neue Maschine geprobt. Alles war nach Wunsch gelungen. Der brave Risler triumphirte. Es schien ihm, als habe er eine Schuld abgetragen, indem er dem Hause Fromont diese neue Erfindung schenkte, die die Mühe und die Arbeitsstunden der Arbeiter vermindern und die Einkünfte und den Ruf der Fabrik verdoppeln mußte. Daher umgaukelten ihn auch schöne Träume, als er so dahinschritt. Von der glücklichen Gestalt seiner Gedanken geregelt, widerhallte sein Schritt fest und stolz auf dem Pflaster.

Wieviel Entwürfe, wieviel Hoffnungen!

Nun konnte er das Schweizerhäuschen in Asnières – das Sidonie bereits eine »Baracke« zu nennen begann – durch ein kleines Landgut zehn oder fünfzehn Stunden von Paris ersetzen, konnte Herrn Chèbe eine etwas größere Pension gewähren, seinem Freunde Delobelle, dessen unglückliche Frau sich bei der Arbeit aufrieb, öfter unter die Arme greifen und endlich seinen Bruder Franz zurückkommen lassen. Das war sein Lieblingsplan. Unablässig dachte er an den armen Jungen, der in ein fremdes, ungesundes Land verbannt und der Willkür einer tyrannischen Direction preisgegeben war, die ihre Beamten auf Urlaub schickte, um sie dann ohne jede Erklärung beinahe auf der Stelle wieder zurückzurufen. Denn Risler hatte immer noch die eilige, ihm unbegreifliche Abreise Franzens beim letzten Besuche und die kurze Anwesenheit desselben auf dem Herzen, die, ohne ihm Zeit zu geben, sich seiner zu freuen, alle die Erinnerungen an ihr trautes gemeinsames Leben wieder bei ihm wachgerufen hatte. Auch rechnete er darauf, wenn nur erst die Maschine im Gange war, in der Fabrik ein kleines Plätzchen zu finden, wo Franz sich nützlich machen und sich eine sichere Zukunft schaffen könne. Wie immer dachte Risler nur an das Glück der andern. Seine einzige egoistische Genugthuung bestand darin, daß er jeden in seiner Umgebung lächeln sah.

So gelangte er an die Ecke der Rue des Vieilles-Haudriettes. Eine lange Reihe von Wagen hielt vor dem Hause, und das sonst so öde, stille Viertel wurde vom Schein ihrer Laternen, sowie den Schatten der Kutscher belebt, die in den Winkeln und hinter den vorstehenden Ecken, welche diese alten Paläste der geraden Linie der Trottoirs zum Trotze bewahrt haben, vor Wind und Wetter Schutz suchten.

– Richtig, das ist ja auch wahr, dachte der brave Mann, bei uns ist ja heute Ball. Er entsann sich, daß Sidonie eine große musikalische Soirée mit Ball gab, von der sie ihn übrigens dispensirt hatte, »da sie wohl wüßte, daß er zu beschäftigt wäre.« Bei seinen Plänen, bei seinen Träumen von großmüthig verwandtem Reichthum machte ihn dies Fest, dessen Widerhall bis zu ihm herüberdrang, vollends vergnügt und stolz. Mit einer gewissen Feierlichkeit stieß er die schwere Pforte auf, die der Gäste wegen nur angelehnt war, und erblickte nun die ganze glänzend erleuchtete zweite Etage des Hauses da hinten im Garten.

Hinter dem wallenden Schleier der Vorhänge schwebten Schatten hin und her, und das Orchester, das man am Auf- und Abfluten erstickter Töne errieth, schien der Bewegung dieser flüchtigen Erscheinungen zu folgen. Man tanzte. Risler heftete seinen Blick einen Moment lang auf diese Phantasmagorie des Balls und erkannte in einem kleinen Zimmer neben dem Salon die Silhouette Sidoniens.

Sie stand im vollen Ballschmuck mit der stolzen Haltung einer hübschen Frau vor ihrem Spiegel. Ein kleinerer Schatten hinter ihr – ohne Zweifel Frau Dobson – ordnete etwas an dem Kleide und knüpfte die Schleife eines um den Hals geschlungenen Bandes fester, dessen lange Enden auf die leichte Schleppe herabwallten. Das alles war nur undeutlich zu sehen, aber in diesen kaum angedeuteten Linien verrieth sich die ganze Anmuth der Frau, und Risler stand lange in Bewunderung versunken.

Auffällig aber war der Gegensatz, in welchem das erste Stock zum zweiten stand. Dort brannte kein Licht, mit Ausnahme einer kleinen Lampe, die die hellblauen Tapeten des Schlafzimmers beleuchtete. Dem braven Risler fiel das auf, und da die kleine Fromont einige Tage vorher krank gewesen war, wurde er besorgt, noch dazu, da er sich der eigentümlichen Aufregung erinnerte, in der Frau Fromont am Nachmittage an ihm vorübergegangen war. Er kehrte deshalb um und begab sich nach der Loge des alten Achille, um sich zu erkundigen.

Die Loge war gedrängt voll. Die Kutscher saßen, in eine Tabakswolke eingehüllt, lachend und schwatzend um den Ofen und wärmten sich. Als Risler an der Thür erschien, entstand eine tiefe Stille, ein neugieriges, beredtes, lauerndes Schweigen. Man mußte eben von ihm gesprochen haben.

»Ist das Kind bei Fromonts noch immer krank?« ... fragte er.

»Nein, nicht das Kind, aber der Herr.«

»Herr Georges ist krank?«

»Ja, er ist heute Abend beim Nachhausekommen plötzlich unwohl geworden. Ich habe sogleich den Arzt geholt ... Der sagte aber, es sei nichts, der Herr habe nur Ruhe nöthig.«

Und während Risler die Thür wieder schloß, fügte der alte Achille mit jener halb furchtsamen, halb verwegenen Dienstbotenfrechheit, die zugleich gehört und doch kaum verstanden werden möchte, halblaut hinzu:

»Ja, meiner Treu, im ersten Stock lassen sie's sich nicht so wohl sein wie im zweiten.«

Man höre, was vorgegangen war.

Fromont junior hatte am Abend beim Nachhausekommen seine Frau mit einer so verstörten, veränderten Physiognomie vorgefunden, daß er auf der Stelle errieth, es müsse eine Katastrophe eingetreten sein. Nur war er seit zwei Jahren so sehr an die Straflosigkeit seines Verrathes gewöhnt, daß es ihm nicht eine Minute in den Sinn kam, seine Frau könne möglicherweise über sein Benehmen unterrichtet sein. Clara war ihrerseits, um ihn nicht völlig niederzuschmettern, großmüthig genug, nur von Savigny zu reden.

»Großpapa wollte nicht,« sagte sie.

Der Unglückliche wurde entsetzlich bleich.

»Ich bin verloren ... ich bin verloren« ... wiederholte er zwei oder drei Mal in fieberhafter Erregung, und alles, was er in der letzten Zeit durchgemacht hatte, die schlaflosen Nächte, eine letzte furchtbare Scene, die er eben mit Sidonie gehabt hatte, um das Fest am Vorabend des Bankerotts zu verhindern, die abschlägliche Antwort des alten Gardinois, alle diese Schläge, die dicht auf einander folgten und ihn abwechselnd erschüttert hatten, hatten jetzt eine furchtbare Nerven-Krisis zur Folge. Clara fühlte sich von Mitleid ergriffen, hieß ihn sich niederlegen und setzte sich an sein Bett. Sie versuchte mit ihm zu reden, ihn zu trösten, aber ihre Stimme hatte nicht mehr jenen zärtlichen Klang, der beruhigt und überzeugt. In ihren Gesten, in der Art und Weise, mit der sie das Kopfkissen unter dem Haupte des Kranken zurecht rückte, mit der sie ihm einen kühlenden Trank bereitete, lag eine eigentümliche Gleichgiltigkeit und Lieblosigkeit.

»Aber ich habe dich ruinirt!« sagte Georges von Zeit zu Zeit, wie um die Kälte abzuschütteln, die ihn gebannt hielt. Sie machte eine geringschätzige Geberde ... O, wenn er weiter nichts gethan hätte!

Endlich jedoch beruhigten sich seine Nerven, das Fieber ließ nach, und er schlief ein.

Sie blieb bei ihm, um zu wachen.

»Es ist meine Pflicht,« sagte sie sich.

Ihre Pflicht!

Dahin war sie nun gelangt diesem Wesen gegenüber, daß sie in der Hoffnung auf ein langes, glückliches Zusammenleben so blind geliebt hatte.

In diesem Augenblicke begann der Tanz bei Sidonie oben lebhafter zu werden. Die Decke zitterte taktmäßig, denn Frau Risler hatte alle Teppiche in ihren Salons aufheben lassen, um das Tanzen zu erleichtern. Zuweilen klangen auch stoßweis Stimmengeräusch und zahlreiche, öfter wiederholte Beifallsrufe herab, aus denen man auf zahlreiche Gäste und gefüllte Räume schließen konnte.

Clara dachte nach. Sie erging sich nicht in eitlen Klagen, in unfruchtbaren Lamentationen. Sie wußte, daß das Leben unbeugsam ist, und daß Erwägungen und Schlüsse die traurige Logik seines unvermeidlichen Ganges nicht hemmen können. Sie fragte sich nicht, wie dieser Mann sie so lange hatte täuschen, wie er einer Laune wegen die Ehre und das Glück seines Hauses hatte opfern können. Das war Thatsache, und alle ihre Reflexionen konnten dieselbe nicht vernichten, das Geschehene nicht ungeschehen machen. Nur die Zukunft beschäftigte sie. Ein neues Leben stieg vor ihren Blicken auf, ein ernstes, düsteres Leben voller Entbehrungen und Mühen. Aber sonderbarerweise gab der Ruin, anstatt sie niederzuschlagen, ihr all ihren Muth wieder. Der Gedanke an einen Wohnungswechsel, der der Ersparnisse wegen, die man machen mußte, unvermeidlich war, und an die angestrengte Arbeit für Georges und vielleicht auch für sie brachte eine gewisse Thätigkeit in die todte Ruhe ihrer Verzweiflung. Welche schwere Seelenlast würde sie nicht mit diesen drei Kindern haben: mit ihrer Mutter, ihrer Tochter und ihrem Gatten! Das Gefühl ihrer Verantwortlichkeit hinderte sie, sich allzu sehr dem Schmerze über ihr Unglück, über ihre verlorene Liebe hinzugeben, und je mehr sie über dem Gedanken an die schwachen Wesen, denen sie Schutz und Schirm sein sollte, sich selbst vergaß, desto besser begriff sie den Werth des Wortes »Opfer«, das im Munde des Gleichgiltigen so nichtssagend, und so furchtbar ernst ist, wenn es zur Lebensregel wird.

Daran dachte die arme Frau während dieser traurigen Nachtwache, einer wahren Waffen- und Thränenwache, während der sie sich zum großen Kampfe rüstete. Das beleuchtete die bescheidene kleine Lampe, die Risler von unten gesehen hatte gleich einem Stern, der von den blitzenden Kronleuchtern des Ballsaals herabgesunken war.

Durch die Antwort des alten Achille beruhigt, dachte der brave Mann daran, mit Vermeidung des Festes und der Gäste, um die er sich herzlich wenig kümmerte, in sein Zimmer hinaufzukommen.

Er benutzte bei solchen Gelegenheiten eine kleine Hintertreppe, die mit den Kassenräumen in Verbindung stand. Demgemäß trat er in die mit Glaswänden versehenen Werkstätten, die das vom Schnee reflectirte Mondlicht taghell erleuchtete. Man athmete hier noch die Atmosphäre der Tagesarbeit, eine erstickend heiße, mit Talk- und Firnisdunst geschwängerte Luft. Die auf den Trockengerüsten ausgebreiteten Tapeten bildeten lange, rauschende Gänge. Überall lag Handwerkszeug umher, hier und dort hingen Arbeitsblousen zum Anziehen für den nächsten Tag bereit. Nie ging Risler ohne inniges Vergnügen hier vorüber.

Plötzlich bemerkte er am Ende dieser langen Reihe vereinsamter Räume, im Büreau des alten Planus, Licht. Der Kassirer arbeitete noch. Um ein Uhr morgens war das wirklich auffallend.

Rislers erster Gedanke war, umzukehren. Seit seiner unbegreiflichen Entzweiung mit Sigismund, seitdem dieser ihm gegenüber ein kaltes Schweigen beobachtete, hatte er es nämlich vermieden, mit ihm zusammenzutreffen. Seine verletzte Freundschaft war stets einer Auseinandersetzung ausgewichen: er setzte einen gewissen Stolz darin, Planus nicht zu fragen, warum er ihm zürne. Doch heute Abend empfand Risler ein solches Bedürfnis, sein Herz auszuschütten und sich vertraulich auszusprechen, und dann war die Gelegenheit zu einem Gespräche unter vier Augen so günstig, daß er ihr nicht mehr aus dem Wege ging, sondern beherzt in das Büreau trat.

Der Kassirer saß unbeweglich zwischen Haufen von Papieren und aufgeschlagenen großen Büchern, von denen einige auf den Fußboden geglitten waren. Bei dem Geräusche, welches sein Prinzipal beim Eintreten machte, blickte er nicht einmal auf. Er hatte Rislers Schritt erkannt. Ein wenig eingeschüchtert, zögerte dieser eine Minute lang. Dann aber ging er, von einer jener geheimen Federn getrieben, die wir in uns tragen, und die uns allem zum Trotz auf den Pfad unseres Schicksals drängen, geraden Wegs auf das Kassengitter zu.

»Sigismund« ... sagte er mit ernster Stimme.

Der Alte schaute auf und zeigte nun sein krampfhaft verzerrtes Gesicht, über das zwei dicke Thränen flossen, die ersten vielleicht, die dieser Zahlenmensch je im Leben vergossen hatte.

»Du weinst, Alter? ... Was hast du denn?«

Und der gute Risler streckte ganz gerührt seinem Freunde die Hand hin, der dagegen die seine hastig zurückzog. Diese rückweichende Bewegung war so instinktiv, so heftig, daß Rislers ganze Rührung sich in Entrüstung verwandelte.

Streng reckte er sich in die Höhe:

»Ich biete dir die Hand, Sigismund Planus!« sagte er.

»Und ich, ich gebe dir die meine nicht« ... entgegnete Planus, indem er sich erhob.

Es entstand eine fürchterliche Pause, während der man die gedämpften Töne der Musik und das Geräusch des Balles vernahm, jenes dumpfe, einschläfernde Geräusch der vom Rhythmus des Tanzes erschütterten Dielen.

»Warum weigerst du dich, mir die Hand zu geben?« fragte Risler einfach, während das Gitter, auf das er sich stützte, mit einem metallischen Klange erzitterte.

Sigismund stand ihm gegenüber, beide Hände fest auf den Tisch gestützt, als wolle er seiner Antwort mehr Nachdruck geben.

»Warum? ... Weil Sie das Haus zu Grunde gerichtet haben, weil an der Stelle, wo Sie jetzt stehen, binnen wenigen Stunden der Bankbote stehen wird, um hunderttausend Franken zu holen, und ich dank Ihnen nicht einen Sou in der Kasse habe ... Deshalb!«

Risler war starr vor Staunen:

»Ich habe das Haus zu Grunde gerichtet! ... ich? ... ich?« ...

»Schlimmer als das, mein Herr! ... Sie haben es durch Ihre Frau zu Grunde richten lassen und sich so gestellt, daß durch unsern Ruin und Ihre Schande Ihre Zukunft gesichert ist ... O, gehen Sie, ich durchschaue Ihr Spiel. Das Geld, das Ihre Frau dem unglücklichen Fromont abgelockt hat, das Haus in Asnières, die Diamanten und alles andere, alles ist auf den Namen der Frau eingetragen und gegen alle Katastrophen gedeckt – und nun werden Sie sich ohne Zweifel vom Geschäft zurückziehen können.«

»O! ... O!« ... stammelte Risler mit erstickter oder vielmehr erdrückter Stimme, denn sie reichte nicht hin, der Unmenge von Gedanken Ausdruck zu geben, die er hätte aussprechen mögen. Er zog während jener Laute das Gitter mit solcher Heftigkeit an sich, daß er ein ganzes Stück desselben losriß. Dann schwankte er, stürzte zu Boden und blieb laut- und bewegungslos liegen. Nichts lebte mehr in ihm als der feste Wille, nicht zu sterben, bevor er sich gerechtfertigt. Dieser Wille mußte sehr stark sein, denn während das Blut, das sein Gesicht blau färbte, wüthend in seinen Schläfen hämmerte, während es ihm in den Ohren brauste und seine verschleierten Blicke bereits dem unbekannten Lande zugewandt schienen, sagte der Unglückliche mit unverständlicher Stimme, mit der Stimme eines Schiffbrüchigen, dem im Tosen des Sturmes das Wasser in die Kehle dringt: »Ich muß leben ... ich muß leben« ...

Als er wieder zum Bewußtsein kam, saß er auf der gepolsterten Bank, auf der an den Lohntagen die Arbeiter Platz zu nehmen pflegten. Sein Mantel lag auf der Erde, die Kravatte war offen, das Hemd zerfetzt, vom Federmesser Sigismunds aufgeschlitzt. Zum Glück hatte er sich beim Zerbrechen des Gitters die Hände verletzt, das Blut war aus diesen Wunden reichlich hervorgestürzt, und dieser Umstand hatte hingereicht, um ihn vor einem Schlaganfall zu bewahren. Als er die Augen aufschlug, erblickte er neben sich den alten Sigismund und Frau Georges, die der Kassirer in seiner Herzensangst herbeigeholt hatte. Sobald Risler wieder sprechen konnte, fragte er sie mit erstickter Stimme:

»Ist es denn wahr, Madam Schorsch, ist es denn wahr, was ich eben gehört habe?«

Sie hatte nicht den Muth, ihn zu täuschen, und wandte den Kopf ab.

»Das Haus ist also bankerott,« fuhr der Unglückliche fort, »und ich« – – –

»Nein, Risler, lieber Freund ... Nein, nicht Sie« – – –

»Meine Frau, nicht wahr? O, das ist entsetzlich ... So also habe ich Ihnen meinen Dank abgetragen! ... Aber Sie, Madam Schorsch, Sie haben mich nicht für mitschuldig an dieser Schändlichkeit halten können?« ...

»Nein, nein, mein Freund, beruhigen Sie sich ... Ich weiß, Sie sind der redlichste Mensch von der Welt.«

Er sah sie einen Augenblick mit zitternden Lippen und gefalteten Händen an, denn alle Äußerungen dieser naiven Natur hatten etwas Kindliches.

»O, Madam Schorsch, Madam Schorsch« ... murmelte er ... »Wenn ich bedenke, daß ich an Ihrem Ruin schuld bin« – – –

In diesem furchtbaren Schlage, der ihn traf, und von dem namentlich seine Liebe zu Sidonie tödtlich berührt wurde, wollte er nur den finanziellen Ruin des Hauses Fromont sehen, den er durch seine Verblendung für seine Frau verursacht hatte. Plötzlich fuhr er hastig in die Höhe.

»Vorwärts,« sagte er, »lassen wir die Rührung bei Seite ... Es gilt, unsere Rechnung ins Reine zu bringen« ...

Frau Fromont erschrak.

»Risler, Risler ... wohin wollen Sie?«

Sie glaubte, er gehe zu Georges hinauf.

Risler verstand sie und lächelte stolz und verächtlich.

»Beruhigen Sie sich, Madam Schorsch ... Herr Schorsch mag ruhig schlafen ... Ich habe etwas Dringenderes zu thun, als meine beleidigte Gattenehre zu rächen. Warten Sie hier auf mich ... ich komme zurück.«

Er stürzte die kleine Treppe hinauf, und Clara blieb im Vertrauen auf sein Wort bei Planus eine jener Minuten voll athemloser Spannung zurück, die in Folge der zahllosen, sich durchkreuzenden Vermuthungen endlos lang erscheinen.

Einige Augenblicke später erscholl Geräusch von eiligen Schritten, und ein Streifen von Gewändern machte sich auf der engen, düstern Treppe hörbar.

Sidonie erschien zuerst, in glänzender Balltoilette und so bleich, daß das Geschmeide, das überall auf ihrer weißen Haut funkelte, lebenswärmer schien als sie selbst, gerade als ruhe es auf dem kalten Marmor einer Statue. Vom Tanze noch athemlos, zitterte sie in Folge der innern Erregung und des schnellen Gehens am ganzen Leibe, und die leichten Bänder, die Volants, die Blumen und der reiche Schmuck schlotterten tragisch um sie her. Risler folgte ihr, mit Schmuckkästchen, Kasten und Papieren beladen. Als er oben angekommen war, hatte er sich auf den Schreibtisch seiner Frau gestürzt und alles was derselbe an Kostbarkeiten, Kleinodien und Werthpapieren enthielt, sogar den Besitztitel über das Haus in Asnières, zusammengerafft. Dann hatte er von der Schwelle des Zimmers aus mit lauter Stimme in das Ballgewühl hineingerufen:

»Frau Risler!« ...

Sie war schnell zu ihm geeilt, ohne daß diese flüchtige Scene die Gäste gestört hätte, die gerade völlig von der Soirée in Anspruch genommen waren. Als sie ihren Gatten vor dem Secretär stehen, die Schubladen offen, erbrochen, umgestürzt und die tausend Kleinigkeiten, die sie enthielten, auf dem Teppich liegen sah, begriff sie, daß etwas Schreckliches vorging.

»Kommen Sie schnell,« sagte Risler, »ich weiß alles.«

Sie wollte ihre unschuldig stolze Miene annehmen, er aber packte sie mit einer solchen Heftigkeit beim Arm, daß die Worte Franzens ihr ins Gedächtnis kamen: »Er wird vielleicht daran sterben, vorher aber tödtet er Sie« – – – Und da sie sich vor dem Tode fürchtete, ließ sie sich ohne Widerstand fortführen. Sie hatte nicht einmal die Kraft zu lügen.

»Wohin gehen wir?« fragte sie leise.

Risler gab keine Antwort. Sie hatte nur gerade noch Zeit, mit jener Sorge für sich selbst, die sie nie verließ, einen leichten Tüllschleier über die nackten Schultern zu werfen – dann zog oder vielmehr stieß er sie auf die kleine Treppe, die er gleichzeitig mit ihr hinabstieg, indem er ihr auf dem Fuße folgte, aus Furcht, seine Beute möchte ihm entschlüpfen.

»Da,« sagte er beim Eintreten ... »Wir haben gestohlen, und geben nun das Gestohlene zurück ... Hier, Planus, aus dem allen ist Geld zu machen« ... Und mit diesen Worten legte er die elegante Beute, mit der er bepackt war, weibliche Schmucksachen, kleine Toilettengegenstände, mit Stempelmarken bedeckte Papiere auf den Schreibtisch.

Dann wandte er sich zu seiner Frau:

»Nun Ihr Geschmeide ... Vorwärts, schnell« ...

Langsam, zögernd begann sie die Federn an den Armbändern und Spangen zu öffnen, namentlich aber das prächtige Schloß der Diamantenschnur, auf welchem der Anfangsbuchstabe ihres Namens – ein blitzendes S – wie eine schlafende Schlange in einem goldenen Kreise erschien. Risler fand, daß es zu lange dauere, und brach gewaltsam die schwachen Häkchen entzwei. Der Prunk knirschte unter seinen Händen wie unter einer Züchtigung.

»Nun zu mir,« sagte er dann ... »auch ich muß alles herausgeben ... Da ist meine Brieftasche ... Was habe ich denn noch? ... Was habe ich noch?« ...

Fieberhaft suchte und tastete er an sich umher.

»Ah, meine Uhr! ... Mit der Kette giebt das doch tausend Franken ... Meine Ringe, da, mein Trauring ... Alles in die Kasse, alles. Wir haben heute Morgen hunderttausend Franken zu bezahlen! ... Sobald es Tag wird, müssen wir hinaus aufs Land, um zu verkaufen, zu liquidiren. Ich kenne jemand, der zu dem Hause in Asnières Lust hat. Das soll bald abgemacht sein.«

Er allein sprach und handelte. Sigismund und Frau Georges sahen ihn an, ohne etwas zu sagen. Sidonie schien erstarrt, bewußtlos zu sein. Die kalte Luft, die durch die kleine, seit Rislers Ohnmacht offen stehende Thür vom Garten hereinströmte, durchfröstelte sie, und mechanisch zog sie die Falten ihrer Schärpe fester um sich. Ihr Blick starrte ins Blaue, ihr Geist war gelähmt. Hörte sie wenigstens die Geigenklänge, die in den Pausen des Risler'schen Monologs wie ein grausamer Spott mit dem schweren Geräusch des den Fußboden erschütternden Tanzes zu ihr herüberdrangen? ... Eine eiserne Faust, die plötzlich ihren Arm packte, riß sie jählings aus ihrer Erstarrung empor. Risler hatte sie beim Arm ergriffen und führte sie vor die Frau seines Associés.

»Auf die Knie!« befahl er.

Frau Fromont wich abwehrend zurück.

»Nein, nein, Risler, nichts dergleichen.«

»Es muß sein,« sagte der unerbittliche Risler ... »Schadenersatz und Abbitte ... Auf die Kniee also, Elende!« ...

Und mit einer unwiderstehlichen Bewegung warf er Sidonie zu Clara's Füßen nieder und fuhr dann, sie noch immer beim Arm haltend, fort: »Sie werden Wort für Wort wiederholen, was ich jetzt sage: Madame« ... Halbtodt vor Angst wiederholte Sidonie leise:

»Madame« – – –

»Ein ganzes Leben voll Demuth und Ergebenheit« ...

»Ein ganzes Leben voll De – – – Nein, ich kann nicht!« ... schrie sie, indem sie mit der Behendigkeit eines wilden Thieres in die Höhe schnellte. Und frei von Rislers fesselndem Griff stürzte sie durch die offene Thür, die sie seit dem Beginn dieser schrecklichen Scene lockte und ins Dunkel der Nacht, zur erlösenden Flucht winkte, hinaus in den fallenden Schnee und den schnaubenden Wind, der ihre nackten Schultern peitschte.

»Haltet sie zurück, haltet sie zurück! ... Risler, Planus, ich bitte Sie ... Um Gott, laßt sie nicht so fort« ...

Planus that einen Schritt nach der Thür zu.

Risler hielt ihn zurück.

»Ich verbiete dir, von der Stelle zu gehen ... Ich bitte Sie sehr um Verzeihung, Madame, aber wir haben uns jetzt mit wichtigeren Angelegenheiten zu befassen als mit dieser da. Es handelt sich hier nicht mehr um Frau Risler ... Wir haben die Ehre des Hauses Fromont zu retten, die einzige, die hier in Frage kommt, die einzige, die mich in diesem Augenblicke beschäftigt ... Vorwärts, Planus, an deine Kasse – laß uns eine Aufstellung machen.«

Sigismund streckte ihm die Hand hin.

»Du bist ein braver Mensch, Risler. Verzeihe, daß ich Verdacht gegen dich hegte.«

Risler that, als höre er nicht.

»Hunderttausend Franken sind zu zahlen, sagtest du? ... Wie hoch ist dein Kassenbestand?« ...

Ernst nahm er hinter dem Gitter Platz, sah die Bücher durch, zählte die Rentenbriefe, öffnete die Schmuck-Etuis und schätzte mit Planus, dessen Vater Goldschmied gewesen war, alle diese Kleinodien ab, die er einst an seinem Weibe bewunderte, ohne ihren Werth zu ahnen.

Clara schaute während dieser Zeit bebend durch das Fenster in den kleinen, beschneiten Garten hinaus, in welchem die Spur von Sidoniens Tritten bereits unter den fallenden Flocken verschwand, gleichsam ein Zeichen, daß diese verstohlene Flucht keine Hoffnung mehr auf Rückkehr lasse.

Und da oben tanzte man noch. Man glaubte die Herrin des Hauses mit den Anstalten zum Souper beschäftigt, während sie barhaupt, mit ersticktem Wuth- und Schmerzgeheul von dannen floh.

Wohin wollte sie?

Wie eine Wahnsinnige war sie davongestürzt, durch den Garten, über die Höfe, unter den düstern Wölbungen hin, unter denen sich der eisig kalte Wind verfing. Der alte Achille hatte sie nicht erkannt: er hatte in dieser Nacht so viele in Weiß gehüllte Gestalten vorüberhuschen sehen!

Der erste Gedanke der jungen Frau war, den Tenoristen Cazaboni aufzusuchen, den sie schließlich doch nicht zu dem Balle einzuladen gewagt hatte. Aber Cazaboni wohnte in Montmartre, und bei dem Anzuge, welchen sie trug, war das sehr weit. Und dann, würde er auch zu Hause sein? Ohne Zweifel würden auch ihre Eltern sie aufgenommen haben, aber sie glaubte bereits die Klagen ihrer Mutter und die endlosen Predigten des kleinen Mannes zu hören. Da fiel ihr Delobelle ein, ihr alter Delobelle. Beim Zusammenbruche ihres Glücks erinnerte sie sich dessen, der sie zuerst in das elegante Leben eingeweiht hatte, der ihr Unterricht im Tanzen und im Benehmen gegeben, als sie noch klein war, der über ihre reizenden Manieren gelacht und sie gelehrt hatte, sich schön zu finden, noch bevor jemand es ihr gesagt hatte. Eine innere Stimme sagte ihr, daß dieser Ausgestoßene ihr gegen alle andern Recht geben werde. Sie stieg also in einen der Wagen, die vor der Thür hielten, und ließ sich nach dem Boulevard Beaumarchais, zur Wohnung des Schauspielers fahren.

Mama Delobelle verfertigte seit einiger Zeit Strohhüte für den Export – ein trauriges Handwerk, wenn man es überhaupt eins nennen darf, das ihr bei zwölfstündiger Arbeitszeit täglich kaum zwei und einen halben Franken eintrug.

Delobelle aber wurde beständig fetter, je mehr das »heilige Weib« abmagerte. Gerade in diesem Augenblicke hatte er in der warmen Asche des Herdes eine würzige Käsesuppe entdeckt, als heftig an die Thür gepocht wurde. Der Schauspieler, der der Aufführung eines düstern, sogar auf den illustrirten Affichen mit Blut befleckten Dramas im Beaumarchais-Theater beigewohnt hatte, schrak bei diesem Klopfen zu so ungewohnter Stunde zusammen.

»Wer ist da?« fragte er ein wenig erregt.

»Ich bin's ... Sidonie ... machen Sie schnell auf.«

Vor Frost schaudernd trat sie ein, warf den Tüllschleier ab und näherte sich sogleich dem Ofen, in welchem das Feuer eben am Erlöschen war. Dabei sprach sie hastig auf Delobelle ein und schüttete ihm gegenüber den ganzen Zorn aus, der sie seit einer Stunde verzehrte, und als sie so mit gedämpfter Stimme, weil Mama Delobelle im Nebenzimmer schlief, die Scene in der Fabrik erzählte, da machte die Pracht ihrer Toilette in dieser kahlen, ärmlichen Wohnung im fünften Stock, der helle Glanz ihres zerknitterten Ballstaats zwischen den hoch aufgethürmten Haufen grober Hüte und den im Zimmer umherliegenden Strohabfällen ganz den Eindruck eines Dramas, einer jener furchtbaren Katastrophen, durch welche Rang, Gefühl und Reichthum plötzlich über den Haufen gestürzt werden.

»O, ich kehre nicht wieder nach Hause zurück ... Das ist zu Ende ... Ich bin frei, frei!«

»Aber wer hat dich nur bei deinem Manne verklatschen können?« fragte der Schauspieler.

»Franz, ich bin überzeugt, nur Franz. Jedem andern würde er nicht geglaubt haben ... Gerade gestern Abend ist ein Brief aus Ägypten angekommen ... O, wie er mich in Gegenwart dieses Weibes behandelt hat! ... Mich vor ihr auf die Kniee niederzuzwingen! ... Aber ich werde mich rächen. Glücklicherweise habe ich vorm Weggehen etwas zu mir gesteckt, womit ich mich rächen kann.«

Und das böse Lächeln der frühern Zeit schlängelte sich wieder um die bleichen Lippen.

Der alte Komödiant hörte das alles mit großem Interesse an. Trotz seines Mitleids mit dem armen Teufel von Risler und selbst mit Sidonien, die ihm das schien, was man im Theaterjargon »eine schöne Sünderin« nennt, konnte er nicht umhin, die Sache vom rein dramatischen Standpunkt aus zu betrachten und schließlich, von seiner Manie fortgerissen, in die Worte auszubrechen:

»Bei alledem – welche herrliche Situation für einen fünften Akt!«

Sie hörte nicht darauf. Mit irgend einem bösen Einfall beschäftigt, der ihr im voraus ein Lächeln entlockte, hielt sie ihre feinen, durchbrochenen Strümpfe und die zierlichen, vom Schnee durchnäßten Schuhe ans Feuer.

»Aber was gedenkst du nun anzufangen?« fragte Delobelle nach einer kurzen Pause.

»Bis zum Morgen hier bleiben ... Mich ein wenig ausruhen ... Dann werde ich sehen.«

»Ich kann dir nur kein Bett anbieten, armes Kind. Mama Delobelle schläft bereits« – – –

»Machen Sie sich meinetwegen keine Sorgen, lieber Delobelle ... Ich werde hier im Sessel schlafen. Ich bin kein unbequemer Gast.«

Der Schauspieler seufzte.

»Ach ja, der Sessel da ... Er gehörte unserer armen Zizi. Wie viele Nächte hat sie darin verwacht, wenn die Arbeit drängte ... Gewiß, die Todten sind entschieden am glücklichsten.«

Er hatte stets eine von diesen egoistischen Maximen bei der Hand. Kaum aber hatte er die vorliegende ausgesprochen, als er mit Schrecken bemerkte, daß die Suppe auf dem Punkte stand, vollständig kalt zu werden. Sidonie ward seine Erregung gewahr.

»Sie waren eben beim Abendbrot? ... Lassen Sie sich nicht abhalten.«

»Ja, Teufel auch, was soll man machen? ... Das gehört einmal zum Handwerk, zu dem harten Dasein, das unser einer führt ... Denn du siehst, Kind, ich harre aus. Ich habe nicht entsagt und werde nie entsagen« ...

Was noch von Désirées Seele in dieser ärmlichen Wirtschaft weilte, in der sie zwanzig Jahre lang gelebt hatte, mußte bei dieser fürchterlichen Erklärung erbeben. Er wollte nie entsagen! ...

»Siehst du,« fuhr Delobelle fort, »man mag sagen, was man will, es ist doch der schönste Beruf auf Erden. Man ist frei, man hängt von niemand ab. Alles für den Ruhm und für das Publikum! ... Ja, ich an deiner Stelle wüßte wohl, was ich thäte. Zum Teufel auch, du warst nicht geboren, um mit diesen Spießbürgern zusammen zu leben! ... Du brauchtest eine Künstler-Existenz, das Fieber des Erfolgs, Zufälle, Aufregung.«

Während des Sprechens hatte er sich niedergesetzt, seine Serviette unter dem Kinn befestigt und that sich nun einen großen Teller Suppe auf.

»... Ganz abgesehen davon, daß deine Erfolge als hübsche Frau deinen schauspielerischen Erfolgen nicht gerade schaden würden ... Ja, weißt du was? Du solltest einige Declamations-Stunden nehmen! Mit deiner Stimme, deinem Verstande und deiner Gestalt würdest du eine glänzende Zukunft haben.«

Und wie um sie in die Freuden der dramatischen Kunst einzuweihen, rief er plötzlich:

»Aber ich glaube, du hast heute Abend noch gar nicht soupirt? ... Gemüthsbewegungen machen Appetit. Setz' dich also und nimm den Teller hier. Ich bin überzeugt, Käsesuppe hast du seit langem nicht gegessen.«

Dann warf er alles im Schranke durch einander, um ein Besteck und eine Serviette für sie zu finden, und sie setzte sich ihm gegenüber, indem sie ihm half und ein wenig über die Schwierigkeiten dieser Installation lachte. Sie war schon nicht mehr so bleich. Ihre Augen blitzten sogar in Folge der eben vergossenen Thränen und der gegenwärtigen Heiterkeit in einem bezaubernden Glanze.

Die Komödiantin!

All ihr Lebensglück war auf immer dahin: Ehre, Familie, Vermögen. Bloß und ehrlos war sie aus ihrem Hause gejagt worden. Keine Demüthigung, kein Unglück war ihr erspart geblieben. Aber das alles hinderte sie nicht, mit bestem Appetite zu Abend zu essen und heiter und guter Dinge auf die Scherze Delobelles über ihren Beruf und ihre künftigen Erfolge zu antworten. Sie fühlte sich frei, leicht, glücklich, endlich in der Bohème, ihrer eigentlichen Heimat, angekommen. Was konnte ihr noch begegnen? Welche Höhen und Tiefen sollte sie in ihrem neuen, unberechenbaren, phantastischen Leben noch durchmessen? Daran dachte sie, als sie in Désirées großem Lehnstuhl einschlummerte. Sie dachte aber auch an ihre Rache, an die süße, sichere, grausame Rache, die sie da ganz fertig in Händen hielt.


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