Laurids Bruun
Van Zantens wundersame Reise
Laurids Bruun

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9. Durch den Berg, den unfruchtbaren und öden

Eines Nachmittags stand der Wächter unangemeldet in meiner Kammer.

Er zog mir einen Kittel aus schwererem Stoff an und füllte alle Taschen mit Eßstangen. An dem Sprachapparat an meiner linken Seite wurde eine elektrische Lampe befestigt. Darauf verband er mir die Augen. Mit dem Fahrstuhl wurde ich nach unten gefahren und, wie mir schien, durch einen unterirdischen Gang zur Stadtmauer geführt. Nachdem wir derselben eine Strecke gefolgt waren, machten wir halt, und man nahm mir die Binde von den Augen.

Ich sah, daß wir in einem Winkel standen, der von der Mauer und einem schweren Stützpfeiler gebildet wurde. Mehr konnte ich wegen der Wache, die im Kreise um mich herumstand, nicht sehen.

Zu meinen Füßen war eine Öffnung, von wo aus Stufen, in den Stein roh eingehauen, zu einem pechschwarzen Raum hinabführten.

Ich zündete meine Laterne an und begann den Abstieg. Darauf hörte ich, wie ein Deckel über mir zugeklappt wurde, und befand mich erbarmungslos mit meiner Aufgabe allein.

Obgleich ich wußte, daß ich nur auf meinem Apparat zu spielen brauchte, um mit der Königin selbst in Verbindung zu kommen, trotz Minengang und Deckel, war ich doch einige Minuten ganz mutlos. Wie würde dies alles enden?

Im ersten Augenblick überlegte ich, ob ich nicht gestehen sollte, daß ich gelogen, daß ich meine Füße nie auf den Berg gesetzt hätte, daß ich ebensowenig von der Bevölkerung, dem Leben des Berges und dem Licht, von dem der Fremde ihr erzählt hatte, wie sie selbst wußte. Doch kannte ich sie bereits genug, um zu wissen, daß sie für alles andere als ihr Kind ohne menschliches Gefühl war.

Ihr Gehirn war eine Verstandesmaschine, ein Mechanismus, der die Führung, die Ruhe und Wohlfahrt der Nebelinsel versorgte, eine fein konstruierte Maschine, deren Räder ineinandergriffen, weil sie mußten und nicht anders konnten. Ich selbst war solch ein kleines Rad geworden, das in Bewegung gesetzt worden war und entweder seiner Bestimmung nach kreisen oder entfernt werden mußte.

Zuerst führte der Weg geradeaus, ohne Vorsprünge im Gestein. Bald aber lagen lose Steine herum, so daß ich mit meiner Laterne den Boden ableuchten mußte. Dann begann er zu steigen, wurde steiler und steiler, während die Luft gleichzeitig so schlecht wurde, daß ich kaum zu atmen vermochte.

Der Raum wurde enger; und indem ich einem Buckel in der Felswand auswich, den ich erst im letzten Augenblick gesehen hatte, stolperte ich und griff in etwas Hartes, das unter meiner Hand zerbrach. Ich fühlte etwas Lebendes, richtete meine Lampe darauf und sah, daß es ein Schädel war. Meine Finger saßen in den Augenhöhlen fest, den Nasenstummel hatte ich eingedrückt, und aus der Gehirnschale wimmelte Ungeziefer über meine Hand.

Je mehr der Boden anstieg, desto müder wurde ich und desto schwerer ging mein Atem. Schließlich setzte ich mich auf einen Felsenvorsprung, um mich auszuruhen.

Während ich dort saß, spürte ich ein Zittern durch den Felsen. Er bebte, als ob die Erzkräfte des Berges sich unter Hochdruck befänden.

Ich fühlte es durch den ganzen Körper, bis in die Fingerspitzen hinein, als ob ungeheure Kräfte hier mitten im Kern des Berges mit schweren Fesseln gebunden seien, die drauf und dran waren, sich zu befreien.

Da fiel mir ein, was die Königin mir von der Mine und Leitung gesagt hatte, und der Angstschweiß brach mir aus allen Poren.

Vielleicht geschah ein Unglück, und ich würde nur ein Atom zwischen Bergstaub werden. Vielleicht war das Ganze nur eine Falle gewesen. Bereute die Königin vielleicht, daß sie mir die Gesetzesübertretung, die sie aus Liebe zu ihrem Kinde begangen, anvertraut hatte? Hatte sie nur diesen Ausweg gewählt, um sich meiner zu entledigen und sich gleichzeitig von all dem zu befreien, was der Berg ihr an Ärgernis bereitete?

Es war ein unerträglicher Gedanke, ich hütete mich wohl, ihn zu Ende zu denken, und begann mit Hilfe meiner Lampe nach dem Leitungsdraht zu suchen. Als ich ihn gefunden und mich davon überzeugt hatte, daß er unbeschützt längs der Felswand lief, sah ich ein, daß ich ihn schon oftmals, ohne es zu wissen und ohne daß es mir geschadet hatte, berührt haben mußte.

Darum faßte ich ihn jetzt entschlossen an, und es glückte mir, ihn mit einem scharfen Stein durchzufeilen.

Ich stieß einen Seufzer der Erleichterung aus: jetzt konnte der Strom nicht mehr geschlossen werden; weder durch Zufall noch mit Absicht konnte mein Leben mit dem Berge und allem, was dazu gehörte, zugrunde gehen.

Mit dieser Beruhigung schlief ich ein.


Als ich erwachte, hatte ich frische Kräfte gesammelt.

Es war kühler geworden, die Luft wurde leichter, ich konnte ohne Druck atmen.

Ich stolperte über etwas, das sich wie Erde anfühlte, und sah beim Schein meiner Lampe, daß es die weiche Masse von einem längst verwesten Wesen war, vielleicht die Reste eines Ausgestoßenen, der kurz vorm Ziele zusammengebrochen war.

Nach wenigen Minuten sah ich Licht vor mir; und lange dauerte es nicht, da fühlte ich frischen Luftzug.

Ich kroch aus dem Gang heraus und befand mich unter freiem Himmel auf einem steilen, steinigen Bergpfad, der durch ein dichtes Gehölz von starrem Buschwerk führte.

Über mir aber sah ich zu meiner unsagbaren Freude den hohen, klaren Himmel, und unter mir blickte ich in den Nebel, der den Berg bis zur Hälfte einhüllte.

Auf dieser Seite des Berges, die dem Meere und seinen Winden zugekehrt war, waren die Nebel in ständiger Bewegung.

Während ich noch hinabblickte, zerrissen die Nebel, und durch das Loch sah ich tief unten am Fuße des Berges das Meer, das blaue, das sich an der steilen Felswand brach, mit Schaumflächen auf seinem Rücken.

An der Grenze des Nebelmeeres riß sich ein mächtiger Fetzen los, und durch die Öffnung konnte ich einen Schimmer des offenen Meeres weit draußen erkennen, und an der Färbung sah ich, daß die Sonne im Begriff war unterzugehen.

Darauf begann ich meine Wanderung ins Ungewisse über den steinigen Pfad.

Nachdem ich ein Stück gestiegen war, erblickte ich auf einem Vorsprung in der Felswand den Giebel einer Steinhütte und hörte den Laut einer Hacke gegen Stein und Gesang zum Takt der Schläge.

Ein Mann richtete sich langsam von der schweren Arbeit auf. Ich begegnete seinen Augen und sah zu meinem Staunen, daß sie in der abendklaren Luft leuchteten, als ob in jedem eine kleine Fackel brannte.

Nach einer Weile sah ich wieder eine Steinhütte, größer als die erste. Auch von dort erklang das Hacken und der einförmige Abendgesang. Und auch dort erhob sich ein Kopf mit Glanz in den Augen.

Durch ein Loch im Nebel kam die untergehende Sonne zum Vorschein. Die Bergwand über meinem Kopf lag in rosigem Schein. Und indem der Nebel sich wieder schloß, sah ich, wie ein junger bartloser Mann sich nach dem letzten verblassenden Strahl umdrehte; über seiner Stirn flackerte eine kleine lebendige Flamme im Zugwind.

Der Pfad war so steil, daß die Zinne und der ganze obere Teil des Berges vor meinem Blick verborgen war; doch fühlte ich, daß das lebendige Licht, von dem der Fremde gesprochen hatte, sich irgendwo dort oben befinden müsse.

Eine seltsame Ungeduld ergriff von mir Besitz. Ich spürte keine Müdigkeit mehr, und trotz der zunehmenden Dunkelheit und des steinigen Pfades schritt ich schnell bergan.

Von überall aus dem Gehölz blinkten kleine Lichter wie leuchtende Insekten. Das Geräusch der Hacken aber ertönte nicht mehr, und ich fühlte, daß überall dort, wo das Licht leuchtete, ein glücklicher Mann stand und Feierabend in seiner ärmlichen Hütte hielt.

Auf dem steilen Pfade kam mir eine junge Frau entgegen. Mit beiden Händen trug sie etwas so behutsam, als sei es das Herz ihres Kindes.

Sie nickte und lächelte und wanderte weiter mit ihrem Schatz.

Jetzt rundete der Bergpfad sich; kaum aber war ich um die Biegung gekommen, als ich einen freien Ausblick ganz bis zum Gipfel des Berges hinauf hatte.

Da sah ich hoch oben Flamme neben Flamme, übereinander und untereinander, Flammen, die still standen und Flammen, die sich bewegten. An der höchsten Stelle aber erhob sich ein Ständer über einer weißen Mauer und einer dunklen Kuppel, und an jedem Arm des Ständers zählte ich sieben große Fackeln, die sich zum funkelnden Himmel reckten.

Verwundert fragte ich mich selbst: Ist dies wirklich der unfruchtbare und öde Berg, den alle auf der Nebelinsel verfluchen und fürchten?

Je mehr ich mich dem Gipfel näherte, desto lebendiger wurden die Dinge um mich herum. Alle Konturen bebten seltsam im Fackelschein, und der Nacht Dunkelheit brach.

Überall sah ich Männer und Frauen nach dem schweren Tage im Gebet gebeugt. Auch ich fühlte das Verlangen, niederzuknien, denn auch ich hatte einen schweren Tag gehabt, auch ich wollte beten. Das war das Werk des Lichtes.


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