Laurids Bruun
Van Zantens wundersame Reise
Laurids Bruun

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3. Die Wache, der Turm und die wandernde Straße

Mehrere Menschen in langen Chinesenkitteln kamen auf uns zu, jeder war mit einer Eisenstange versehen.

Mein Auge hatte sich kaum an die blendende Helligkeit gewöhnt, als das Ventil hinter uns zugeschlagen wurde.

Der Rückweg war uns also abgeschnitten. Ich stieg wohl oder übel die Leiter zu Toko hinab, der von einer Schar Menschen umringt worden war, die ihre Stangen vor ihm ausgestreckt hielten, wie man zu tun pflegt, wenn ein wildes Tier aus dem Käfig ausgebrochen ist.

Seltsame Wesen waren es, mit großen kahlen Köpfen auf mageren, schmalschultrigen Körpern, mit dünnen Gliedern. Die Gesichter grau und hart, wie aus Zement: die Augen unheimlich offen, ausdruckslos und kalt, nach außen gewölbt, wie starke Linsen. Der Mund schmal, hart, fast ohne Lippen.

Keine Ausrufe, keine Unterhaltung; nur der, der Führer zu sein schien, stieß ein kurzes Brummen aus.

Es schien ihnen offenbar daran zu liegen, uns nicht nur lebendig, sondern auch unbeschädigt zu fangen; und dieses Interesse für unser Wohlbefinden bestimmte mich, mich ohne Widerstand zu ergeben.

Als ich sah, daß der Führer eine Art Handeisen bereit hielt, streckte ich ihm freiwillig meine Hände hin; und Toko folgte meinem Beispiel.

Wenige Minuten später bewegten wir uns ruhigen Schrittes durch die Halle, ich zur Rechten des Führers, dann Toko mit einem Begleiter, und um uns herum die übrigen Stangenträger als Leibwache.

Wir gelangten in einen Gang unter einer Glasdecke, von der ein dumpfrollender Laut, wie Straßenverkehr, zu uns herabdrang.

Von dort wurden wir in einen zirkelrunden Raum geführt, in dessen Mitte ein Turm aus Glas stand, worin ein riesiger Doppelfahrstuhl auf und nieder ging, eine Kette ohne Ende. Um den Turm herum aber lief ein Fußsteig, der sich beständig nach oben bewegte.

Während wir mit dem Fahrstuhl aufwärts fuhren, sah ich durch die Glaswand auf den wandernden, sehr breiten Fußsteig hinab, mit dem höchst eigentümlichen Verkehr von auf- und niedersteigenden Kittelträgern.

Ich sah bald, daß es, trotz der ganz gleichartigen Kleidung, Personen beiderlei Geschlechts waren. Weder Haar noch Bart waren sichtbar, alle trugen Mützen von gleicher Form, dieselbe, wie sie in den großen Städten Chinas gebräuchlich sind, nur waren einige rot, andere blau. Die, die rote Mützen trugen, hatten Adamsäpfel, darum waren sie männlichen Geschlechtes, während blau die Farbe der Frauen war.

Seltsam tot, fast automatisch glitten diese Gestalten durcheinander, einige trugen Pakete, andere ein Joch, alle aber waren ernst und bedächtig tätig. Kein Lächeln, kein Gelächter, nur ein dumpfes Summen, wie aus einem ungeheueren Ameisenhaufen.

Alle kauten. Jeden Augenblick wurde eine Art Schokoladenstange zum Munde geführt, ein Stück abgebissen und weitergekaut.

Und noch ein anderer gemeinsamer Zug fiel mir auf: alle, sowohl die mit der blauen, als auch die mit der roten Mütze, trugen an der linken Seite, im Gürtel des Kittels, einen Gegenstand von der Größe eines photographischen Apparates, den sie unausgesetzt betasteten; sowohl die, die allein gingen, als auch die, die Zwiesprache hielten, spielten darauf mit den Fingern, als ob es ein Musikinstrument sei.

In dem künstlichen Licht, dessen Quelle ich nicht entdecken konnte, sah ich zu meinem Erstaunen Filmbilder durch die Luft gleiten. Einige Passanten standen still, um sie zu betrachten, andere gingen vorbei, ohne ihrer zu achten.

Bilder kamen und gingen, kreuzten sich in buntem Durcheinander, das auf mich wie ein lautloses Konzert von Straßengeschrei, Reklamegebrüll und Privatgeschwätz wirkte.

Plötzlich kam Verwirrung in die Menge. Leute blieben stehen und guckten in die Höhe, um Bilder anzusehen, die die anderen gleichsam zu ›überschreien‹ schienen. Man lief hin und her, um besser zu sehen, scharte sich in Gruppen, ließ sich Neues erzählen und trug dieses weiter, bis der Verkehr sich um den Turm und den Doppelfahrstuhl, in dem wir aufwärtsfuhren, staute.

Ich sah, wie die Menge sich mit platten Nasen gegen die Glaswand drückte und es wurde mir klar, daß das Gerücht von den beiden merkwürdigen Wesen, die man in dem unterirdischen Bassin gefangen hatte, bereits zu ihnen gedrungen war – man wußte, daß wir mit dem Fahrstuhl nach oben fuhren, und wollte einen Blick von uns erhaschen.

Plötzlich hörte die wandernde Straße auf. Sie mündete in eine große Plattform am Turm; der Fahrstuhl aber glitt weiter durch den Turm, der jetzt freistand.

Durch die Glaswand konnten wir über eine Stadt sehen.

Grauer Nebel, auf kurze Entfernung durchsichtig, aber auf hundert Meter undurchdringlich wie eine Mauer.

Ich blickte auf eine breite Doppelstraße hinab, deren Häuserreihen nur bis zur halben Höhe sichtbar waren; die eine Straße ›wanderte‹ unaufhörlich in die eine Richtung, die andere mit derselben Geschwindigkeit in die entgegengesetzte. Durch eine Mittelbahn, die festlag, waren sie getrennt, einen Fußsteig, von dem man, je nach Wunsch, in die eine oder die andere Straße übertreten konnte, bis man das Haus in der Reihe der hohen Kasernen, wo man zu tun hatte, erreichte; die Häuser waren alle ganz gleich, mit großen Glasflächen, wo Fenster und Türen in eins gingen.

Straßen- und Mittelbahn hingen wie Riesenbrücken an zierlichen Eisenkonstruktionen, vom Typ moderner Hängebrücken, durch die ich hindurchsehen und ebensolche Verkehrsadern am Fuße der Häuserreihen unterscheiden konnte.

Nirgends waren Kraft- oder Pferdewagen zu sehen. Nicht einen Hund bekam ich zu Gesicht. Auch keine Flieger über den flachen Dächern. Oben unter den Nebelwolken aber glitten auf breiten Flügeln große Vögel, die Möven glichen.

Auch hier im Tageslicht schwirrten unablässig Bilder, größere und kleinere, in seltsam verwirrtem ›Lärm‹ durcheinander.

Das Zementgrau war der Grundton und die Grundfarbe der Stadt, des Verkehrs und der Menschen, nur die roten und blauen Mützen leuchteten wie Heiterkeit und Lächeln.

Und über all diesem Grau wurde nach allen Richtungen das künstliche Licht von einer ungeheueren, nebeldurchbrechenden Lichtquelle ausgesandt, die sich irgendwo über unseren Köpfen zu befinden schien, wahrscheinlich auf der Spitze des mächtigen Turmes, durch den wir noch immer nach oben fuhren.

Endlich machten wir halt.

Die Tür wurde zur Seite geschoben, und der Führer mit seinen fünf Kameraden lieferte uns in einem großen, zirkelrunden Raum, ohne Fenster, ab, an einen Oberwachtmeister oder Untersuchungsrichter, der einen noch unförmigeren Kopf hatte als die anderen.

Längs der Wände waren Borde mit Apparaten, Leitungsdrähten, Kontakten, Tabellen, Meßapparaten mit hüpfenden Zeigern und dergleichen angefüllt, so daß man sich an Bord eines Unterseebootes von ungeheuren Dimensionen zu befinden meinte.

Nachdem die Ablieferung erfolgt und die Wache mit dem abwärtsfahrenden Fahrstuhl verschwunden war, nahm der Untersuchungsrichter, oder was er nun war, uns scharf aufs Korn, wie wir in unserer totalen Nacktheit vor ihm standen. Er verglich uns; besonders schien ihm der Unterschied zwischen meinem spärlichen, blonden Haar und Tokos schwarzer, krauser Fülle zu interessieren.

Auf seinen Wink kamen zwei schmächtige Burschen von einem Pult an der Wand. Und darauf wurde eine peinlich gewissenhafte Messung an uns vorgenommen und jede körperliche Einzelheit genau aufgezeichnet. Der Untersuchungsrichter diktierte und die Sekretäre führten Protokoll und registrierten, was die Untersuchung ergab.

Während die Sekretäre uns darauf in die weißen Kittel der Nebelbewohner kleideten, beriet der Untersuchungsrichter sich mit Hilfe des Apparates, der ihm an der Seite hing, mit irgendeinem außerhalb des Raumes, worauf wir in einer Ecke zu einem anderen Fahrstuhl geführt und von einem anderen Angestellten noch ein Stück höher hinauf expediert wurden.


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