Laurids Bruun
Van Zantens wundersame Reise
Laurids Bruun

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3. Nadi-Nados Lehre von den höchsten Dingen

Langsam schritt die Arbeit vorwärts, und viele Worte wechselten wir nicht.

Toko beobachtete heimlich mein Gesicht, um meine Gedanken zu ergründen.

Ich hatte wieder Verwendung für meine Kräfte, – das war immerhin etwas. Jeder neue Tag brachte neue praktische Aufgaben, die gelöst werden wollten, und eines Tages würde auch wohl die Lust für unser Vorhaben kommen.

Einen bestimmten Reiseplan hatte ich nicht. Warum nicht Toko die Freude machen und der Reise nach der Koralleninsel und zu den Schildkröten zustimmen? Vielleicht würde sie auch für mich ein Erlebnis werden.

Eines Abends, als wir vor der Hütte lagen und zu den Steinen hinaufblickten, während der Wind uns den Laut der Brandung, der wie die Atemzüge eines Schlafenden war, zutrug, wandte Toko sich plötzlich zu mir.

»Glaubst du nicht, daß ich gemerkt habe, wie du Schaum auf alle Schildkröten bläst? Ich aber weiß, worauf du es abgesehen hast!« Und mit leiserer Stimme fügte er hinzu:

»Du willst Ali suchen, weil sie noch immer nicht zu dir gekommen ist. Du willst sie auf einer der neun Menscheninseln suchen; darum rechnest du mit zwanzig Tagen.«

Ich blickte erstaunt auf.

Auf seine Ellbogen gestützt, starrte er in tiefem Nachdenken über die sternenbesäte Lagune.

»Das aber ist ein gefährliches Unternehmen,« fuhr er warnend fort, »Tongu hat mir von jemandem erzählt, der es einmal versucht hat. Das aber ist lange, lange her, und er ist nie zurückgekehrt. Vielleicht hat die Tote ihn nicht wieder hergeben wollen.«

Er heftete seine großen dunklen Augen nachdenklich auf mich.

»Zwanzig Tage, sagst du? Vielleicht aber werden es zweimal zwanzig, vielleicht nehmen sie gar kein Ende. Was sind zwanzig Tage auf den weiten Wassern? Und wenn du eine von den Inseln gefunden hast, wer weiß dann, wie viele Tage es bis zur nächsten sind, und ob jemand dir den Weg dorthin sagen kann? Wer weiß, wie viele Inseln du besuchen mußt, bevor du die findest, wo Ali sich aufhält. Vielleicht ist es erst die neunte und letzte. Und wer kann wissen, wie groß diese Inseln sind, wie viele Tage man gebrauchen muß, um jede einzelne zu umschiffen, denn du mußt dich doch gründlich nach ihr umsehen. Und wer sagt dir, ob du überhaupt auf den Inseln suchen darfst, denn der Verstorbenen sind viele, und du bist nur zwei. Viele, viele schwierige Fragen müssen auf solch einer Reise gelöst werden. Die Reise nach dem großen Korallenriff aber bietet keine Schwierigkeiten: drei Tage hin, drei Tage her, Wind und Strom sind dir bekannt. Zuerst hast du die Freude an der Jagd der herrlichen Tiere, und wenn wir wieder zu Haus sind, haben wir köstliche Speise für viele Tage, und du brauchst nicht mehr in Dunkelheit sitzen und deinen Kopf halten, sondern kannst darüber nachdenken, was für gute und nützliche Dinge wir aus den teuren Dächern verfertigen können.«

Was sollte ich auf seine ehrliche und durchdachte Rede erwidern?

Auf der Insel gibt es nicht einen einzigen Menschen, der nicht von dem nächtlichen Besuch eines teuren Verstorbenen zu erzählen weiß, der zum Trost oder zur Warnung einer Gefahr zu ihm gekommen ist. Ich habe selbst die verklärten Gesichter nach solchen Nächten gesehen, habe nie darüber lächeln können, sondern nur stets gedacht: Vielleicht ist diesen Einfältigen wirklich die Verbindung mit dem Übersinnlichen gegeben, die uns Klugen fehlt!

»Toko,« bat ich, indem ich näher an ihn heranrückte, »sage mir, was weißt du von den Toten und von ihm, der über alle Dinge gebietet?«

Toko betrachtete mich nachdenklich.

»Bist doch ein seltsames Wesen,« sagte er schließlich. »Als ich vor vielen Monsunen aus dem Hause des Königs zu dir kam, da glaubte ich, du wüßtest alles, was Menschen wissen können, ja sogar mehr als Nadi-Nado, der Weise. Ich tat mein Bestes, um dich auszuhorchen, immer aber kam noch mehr heraus. Seit aber Ali dir genommen wurde, denke ich oft: wie ist es möglich, daß der Kluge, der Herr und Gebieter über mein Leben, sich so wenig zu helfen weiß! Sieh, das Boot hier: fix und fertig legst du es auf ein weißes Blatt, mit Kiel und Segelmatten und allem Zubehör, da fehlt kein Pflock; zwar ist es klein, und man fühlt weder Holz noch Matte, wenn man es anfaßt, und ist trotzdem ein Boot. So war es auch, als wir das Haus bauten, und noch oftmals. Vom Tode und den Geistern und dem Vater der großen Wasser, der alles geschaffen hat, aber weißt du nicht mal so viel wie ich, als ich noch ein kehlloser KnabeEin kehlloser Knabe = daß die Kehle sichtbar wird, hält man für das erste sichtbare Zeichen männlicher Pubertät. Auf Van Zantens Insel ist es die Grenze zwischen dem Kindheits- und Jünglingsalter. war. Wie kommt es, daß du, der so viele nützliche und wunderbare Dinge im Kopfe hat, nichts von dem Höchsten und Wichtigsten weißt? Vielleicht,« fügte er hinzu, »hast du dafür keinen Platz mehr in deinem Kopf?«

»Ja, ja, so ist es,« nickte ich, »und darum frage ich dich.«

»Bevor die Inseln da waren,« begann Toko, »saß der Vater der weiten Wasser, der Geist der Geister, auf dem Berge der Schöpfung, das Licht in seinem Auge und die Dunkelheit in seiner Hand.

Das Licht war lebendig und voller Strahlen, die Dunkelheit aber war tot und schwer wie das Meer, wenn sich kein Windhauch rührt. Wie aber der Papagei von seinem Ast aus Schreie in den Wald schickt, weil es nun einmal seine Natur ist, so sandte auch das Licht seine Strahlen in die Dunkelheit.«

Er zeigte auf die Lagune, wo der Widerschein eines Steines auf den dunklen Wellen schaukelte.

»Wie dort draußen, so strebt das Licht noch heutigestags nach der Dunkelheit.

Der Vater der Wasser aber fühlte den Willen des Lichtes in seinem Auge, wie die Mutter den Wunsch des Kindes durch das Tragstück auf ihrem Rücken spürt. Jedesmal, wenn die Strahlen der Dunkelheit begegneten, spürte er es in seinem Auge, und der große Vater, der die Dunkelheit in seiner Hand hielt, formte sie nach dem Willen des Lichtes.

Zuerst erschuf er die Welle. Das Licht sprang hoch auf vor Freude, als das wogende Meer sich am Fuße des Berges brach und zu tausend Perlen zerstob. Lichtstrahlen jagten sie, und wenn sie sich trafen, wurden die Perlen rot, gelb und blau.

»Mehr – mehr,« jubelte das Licht.

Die Hand glättete ein Stück Felswand, Grün schoß hervor, und die Lichtstrahlen konnten sich darin nach Herzenslust tummeln.

»Mehr – mehr,« rief das Licht.

Und die Hand ließ das Grün wachsen, bis Büsche und Zweige und Blätter daraus wurden, wo die Strahlen ein und aus schlüpfen konnten wie Finken beim Morgengrauen. Damit aber nicht nur das Grün, sondern auch die anderen Farben, die das Licht in den Wasserfällen gesehen hatte, zu ihrem Recht kämen, schob die Hand die Blätter beiseite und ließ große rote Blumen dazwischen sprießen – du kennst sie – und viele andere, sowohl gelbe wie blaue.

»Mehr – mehr,« rief das Licht.

Und die Hand ließ Früchte aus den Blumen hervorwachsen, gelbe, rote, blaue und grüne. Und als das Licht alle Farben der Wasserperlen wiedersah, jubelte es und spielte lange und still mit dem Erschaffenen.

Die Büsche aber fuhren fort zu wachsen, wie sie begonnen hatten, denn alle Dunkelheit, die die Hand einmal in Bewegung gesetzt hat, die muß denselben Weg fortfahren; denn weil es schwer und tot ist, kann es weder Richtung ändern noch stehen bleiben. Das Licht aber ist lebendig und leicht und hat einen eigenen Willen.

Als die Büsche aber wuchsen und sich breiteten, standen sie einander im Wege, so daß die Strahlen schließlich nicht mehr ein und aus schlüpfen konnten, wie es dem Licht gefiel.

»Sieh, die Dunkelheit sperrt mich aus!« klagte das Licht, »nimm sie weg!«

»Das kann ich nicht,« antwortete der Vater der Wasser, »die Dunkelheit hat auch ihre Rechte, bin ich doch der Vater aller Dinge. Außerdem würdest du nichts zum Spielen und ich nichts zum Berühren haben, wenn die Dunkelheit nicht wäre.«

Das Licht aber gab sich nicht zufrieden, bis der Vater die Blätter so flach und dünn gemacht hatte, daß die Strahlen bis auf die Schattenseite dringen konnten. Und sieh, dort fanden sie Früchte, mit denen sie spielen konnten – Bananen waren es, die die Hand geschaffen hatte.

Und sie tat noch mehr. Einige Pflanzen streckte sie so hoch, daß sie zu runden Stämmen wurden, die die Strahlen von allen Seiten bescheinen konnten. Erst als die Stämme hoch, hoch über die Büsche gelangt waren, wo der Wind sie streicheln konnte, setzte die Hand ihnen Blätter auf, schmale, biegsame Blätter, mit denen der Luftzug spielte; und ganz hoch oben unter den Blättern hing sie Früchte auf. Das waren die Kokosnüsse.

Noch heutigestags ist es des Lichtes Lust, mit den langen, zarten Blättern zu tanzen wie junge Tanzmädchen, wenn die Awatrommel ertönt.

Nun hatte das Licht viele Dinge zum Spielen bekommen. Die Welle und den Berg, die grüne Erde und all die anderen Herrlichkeiten, die die Hand aus der Dunkelheit geformt hatte. Aber darum war die Dunkelheit nicht weniger geworden, und das Licht verlangte beständig nach etwas Neuem.

»Sieh,« klagte es in seinem Gefängnis im Auge des Vaters, »die Welle bricht sich, die Blätter schaukeln, die Früchte werden gelb, bis sie zur Erde fallen, beständig aber bricht die Welle sich auf dieselbe Weise, beständig spielen die Blätter dasselbe Spiel, und die Früchte rollen nur ein kurzes Ende vom Stamm fort. Meine Strahlen haben es satt, immer wieder dasselbe Spiel zu spielen. Gib ihnen etwas, womit sie um die Wette laufen können, etwas, was ebenso lebendig ist wie sie selbst.«

Da gebot die Hand der Welle Halt in ihrem Lauf und ließ das Licht so lange darauf scheinen, bis die Wasserperlen sich erhitzten und von selbst zu laufen begannen; das Licht aber war hinter ihnen her, und jede Perle, die es einholte, wurde auf einen Strahl gespießt – und sieh, sie wurden zu kleinen Tieren auf Stengeln, wie die Seetiere sie noch heute besitzen. Du kannst sie in allen Farben auf dem Grunde des Wassers leuchten sehen.

»Mehr – mehr,« rief das Licht.

Und die Hand griff um das Wasser und hielt es so lange fest, bis es zu Schleimklumpen wurde, einige waren wie Steine, andere rund und hohl, und die Hand setzte die Klumpen auf die lebendigen Stengel, damit sie fühlen und sich fortbewegen konnten – du kennst das ganze Leben von der Lagune. Und dann nahm die Hand die Scherben, die die Wellen von dem Fuß des Berges gewaschen hatten, und machte daraus Schalen für die Schleimklumpen, damit sie nicht wieder auseinanderfließen konnten – daraus entstanden alle Tiere im Haus; und Gräten machte die Hand, damit das Innere der Klumpen zusammenhielt, und so entstanden die Fische.

Als nun das Licht sah, daß das Wasser lebendig geworden war, da wünschte es, daß auch auf dem grünen Bergabhang sich Leben von Ort zu Ort bewegen und Nahrung aus der Erde gewinnen sollte, wie die Fische aus dem Wasser.

Die Hand berührte die schwarze Erde, das Licht strahlte Wärme darauf nieder – und sieh: auch dort begann es sich zu rühren, Würmer und kleines Getier bewegte sich im Grünen. Statt Zweige und Äste bekamen sie Beine, auf denen sie gehen konnten. Bäume und Büsche sahen erstaunt drein, als sie über ihre Füße wimmelten.

Das Licht aber, das seine Strahlen überall hinsenden kann, obgleich es selbst im Auge des Vaters gefangensitzt, wollte auch in der Luft, ja hoch oben unterm Himmel Wesen zum Spielen haben. Pisang- und Kokosblätter können fächeln und winken, aber sie sind an die Stelle gebunden.

»Warum kommen keine Wesen zu uns herauf?« fragten die Strahlen.

Und die Hand hielt einige Tiere im Lauf auf und hielt sie so lange ins Licht, bis ihnen Flügel wie Pisangblätter wuchsen. Und sieh, sie hoben sich von der Erde und flogen geradeswegs zum Licht hinauf.

Auf diese Weise entstanden alle möglichen Tiere, viel mehr als die, die auf unserer Insel leben. Das Licht aber hatte immer noch nicht genug.«


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