Laurids Bruun
Van Zantens wundersame Reise
Laurids Bruun

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5. Nichts anderes in der Welt –

Ein leises Geklapper erklang, und die Königin antwortete auf ihrem Instrument.

Da tat sich die Tür des Fahrstuhles auf und heraus trat der Beamte, der uns vorhin untersucht hatte.

Was er sagte, verstand ich nicht; ich will es aber so berichten, wie ich es später aus dem eigenen Munde der Königin erfahren habe.

»Das Volk ist ungeduldig,« meldete er. »Das Gerücht von dem Eintreffen der beiden Fremden hat sich bereits verbreitet, und die Menge hat diese Wesen, die den Nebelbewohnern ähnlich sind, auf ihrem Wege durch den Turm gesehen, so nackt, wie man sie aus dem Bassin herausgefischt hat.

Einige meinen, es seien Spione vom Berge, die auf unbegreifliche Weise über die Mauer gelangt sind. Andere machen geltend, daß sie aus dem Bassin gekommen sind und gar keine Ähnlichkeit mit dem Volk des Berges haben, was ja auch die Voruntersuchung, die wir gleich vornahmen, ergeben hat.

Andere wiederum meinen – unter anderen der Inspektor des Rohdestillierraumes, der den einen, den Hellen, von seiner Luke aus sah, und auch der Wachtoberste, der sie beide auf der Leiter zum Versuchsbassin ergriff, – daß diese beiden Wesen das endliche, solange erwartete Resultat unserer hundertjährigen Versuchsarbeiten bedeuten, die Lösung der jahrtausendalten Frage: ob der Nebelbewohner neben den drei Urelementen: Klippe, Meer und Nebel, ein viertes Urelement oder, wie alles Lebende auf der Insel, nur ein chemisch-biologisches Produkt dieser genannten Elemente ist.

Diese Wesen,« so fuhr er fort, »sind dem Bassin, unserem uralten Behälter entnommen, zu dem das Meer seit undenklichen Zeiten sich selbst einen unterirdischen Weg gebahnt hat. Durch den Wechsel der Gezeiten hat das Meer mit der Klippe, dem anderen Element, in organischer Berührung gestanden, während der überall eindringende Nebel, das dritte Element, in den engen Kanälen festgehalten und verdichtet wird. Dadurch ist der biologisch-chemische Vermählungsprozeß entstanden, aus dem endlich, nachdem das richtige Maß von Hochspannung durch einen Zufall getroffen ist, das entstanden, was unsere Gelehrten einen explosiven Wachstumsprozeß nennen, indem nämlich alle Wachstumszwischenglieder: Eizelle, Fötus, Kind und Jüngling übersprungen werden und das Produkt springlebendig, im Zustande der Vollkommenheit, vor uns steht.

Wenn wir aber wirklich auf diese Weise davon Zeuge geworden sind, daß diese beiden tatsächlichen Menschenwesen explosiv aus der Vereinigung der drei Urelemente hervorgegangen sind, dann kann man als sicher annehmen, daß auch wir Nebelbewohner auf diese Weise entstanden sind, das heißt, auf dieselbe Weise wie die Meervögel, die Seetiere zwischen den Schären, die Nebelsänger und Klippendecker, kurz gesagt: alles, woraus wir Nebelbewohner unsere Ernährung gewinnen, ist aus den Urelementen entstanden: den drei einzigen in aller Ewigkeit.

Wenn man nun auch der Ansicht untergeordneter Angestellter kein Gewicht beizulegen braucht,« fuhr der Beamte fort, »so wäre es doch angesichts der Ungeduld des Volkes vielleicht ratsam, dieser Erklärung offiziell beizutreten, teils um die Unzufriedenheit niederzuschlagen, die darüber herrschte, daß die jahrhundertlangen und kostbaren Forscherarbeiten keine positiven Resultate mehr ergaben, teils um die Autorität des Staates zu schützen, die auf der Allwissenheit der Höchsten des Nebelstaates beruhte, und schließlich, um festzustellen, daß der Nebelwissenschaft keine Aufgabe zu hoch sei, nicht einmal die Lösung des Entstehungsproblems.

Erfuhr man, welchen neuen und mächtigen Sieg die Nebelwissenschaft errungen hatte, würde auch die Kritik verstummen, die immer stärker gegen das Ernährungsproblem laut wurde, warf man doch der Wissenschaft vor, daß sie nichts fand, womit sie die Einförmigkeit der Ernährungsstange unterbrach. Eine Kritik, die gefährlich werden konnte, denn Aufruhr beginnt ja bekanntlich im Magen.

Dies sei,« so schloß der Untersuchungsbeamte, »auch die Auffassung des Laboratoriumsleiters, dem er die Sache vorgelegt habe.«

Bei selber Gelegenheit erfuhr ich, daß die Eßstange, die alle bei sich trugen, die einzige Ernährung der Nebelbewohner, ein Produkt sei, das in den Staatslaboratorien hergestellt und täglich gratis an die Bevölkerung ausgeteilt wurde.

Die Meervögel, die große Möwenart, die ich gleich am ersten Tage über der Stadt kreisen gesehen hatte, waren die einzigen größeren Tiere der Insel. Sie hatten ihren Wohnplatz auf der nördlichen Hälfte, einer mit tausendjährigem Korallensand bedeckten Hochebene, die nur diejenigen Angestellten des Staates betreten durften, denen es oblag, nach einem bestimmten System die Eier auszunehmen, die die Tiere im Laufe der Nacht legten. Man sammelte sie des Morgens, wenn die Vögel in großen Schwärmen über das Nebelmeer strichen, um sich Nahrung aus den ungeheuren Mengen von Weichtierkeimen zu suchen.

Diese Vögel konnten bis drei zählen. So viele Eier mußten in ihrem Nest, in den Sandhöhlen, liegen, bevor sie anfingen zu brüten. Nenn sie des Abends zurückkehrten und nur ein Ei im Nest fanden, legten sie im Laufe der Nacht ein zweites, und zogen des Morgens aus, um Nahrung für das dritte zu sammeln.

Entweder aber hatten sie kein Gedächtnis dafür, wie oft sie gelegt hatten oder ihr Lebenskampf hatte sich im Laufe der Jahre dem Erntesystem der Nebelbewohner angepaßt. Man ließ die Vögel nur so oft brüten, wie es zur Erhaltung der Rasse notwendig war, die übrigen Eier dienten der Bevölkerung als Bestandteil ihrer Ernährungssubstanz. Das hieß mit anderen Worten, jeder Vogel durfte einmal in seinem Leben brüten; darauf war die Ernte sinnreich eingerichtet.

Die Weichtiere, die ganz kleinen, fast unsichtbaren, die noch keine Schale hatten und an den Schären klebten, und auch die entwickelten größeren, die sich zwischen den Schären bewegten: Seesterne, Seekugeln und wie sie sonst genannt wurden, ebenfalls die hartschaligen Krebs- und Krabbenarten und dergleichen – sie alle wurden regelmäßig innerhalb der Aufnahmenetze an der Küste geerntet. Darum war der Zugang zur Küste nur den Angestellten des Staates gestattet.

Ferner waren da die sogenannten Nebelsänger, eine Art Zikaden, die so groß wie ein Daumennagel waren und sich überall in Mauerritzen und zwischen Gestein festsetzten. Tagsüber lagen die Nebelfänger in einer Art Schlaf, nachts aber klang ihr einförmiger, grauer Klagegesang wie ein gedämpftes Schluchzen durch die Stille.

Die Nebelbewohner wußten, daß die Nebelsänger über den ewigen Nebel weinten und nach Licht verlangten. Nicht nach der wunderbaren Kraft- und Kunstbeleuchtung, dem Stolz der Bevölkerung – das, was sie ihre Kultur nannten –, die den Nebel beherrschte und jeden Tag mit halber Kraft und jede Nacht mit ganzer Kraft von der Zinne des Königinnenturmes leuchtete, die Nebelsonne mit ihrem unbeweglichen Licht, – nicht nach diesem Licht sehnt sich der Nebelsänger. Im Gegenteil, er scheut es, versteckt sich in Ritzen. Nein, dem lebendigen, flackernden Schein von Fackeln kann er nicht widerstehen.

Darum wurde jede Nacht vor der Stadt, an Plätzen, die dazu eingerichtet waren – zu denen der Zutritt ebenfalls allen verboten war, die nicht zur Bergung der Tiere angestellt waren – eine Reihe hoher Fackeln aufgestellt.

Schwer und niedrig wie kleine verdichtete Nebelflocken kommen die Nebelsänger aus allen Mauerritzen der Stadt und von weit her aus Felsenspalten angeflogen; glückselig geblendet taumeln sie gegen die rauchenden Fackeln; der Rauch betäubt sie, so daß sie sich nicht mehr retten können. Mit versengten Flügeln fallen sie geröstet zu Boden; und am nächsten Morgen, wenn die Fackeln herabgebrannt sind, werden die leckeren Brötchen zu Tausenden eingesammelt.

Die einzige Pflanze der Insel hieß ›Klippendecker‹, weil die breitgezackten Blätter, die den Nebel aufsaugten, wie ein graugrüner Teppich die Klippen längs der Küste bedeckten. Sowohl die Blätter als auch die blassen Stengel und Wurzeln hatten ein saftiges, nahrhaftes und wohlschmeckendes Zellengewebe.

Aus diesen Quellen: den Eiern der Meervögel, den verschiedenen Weichtieren, den Nebelsängern und Klippendeckern, wurde in den Staatslaboratorien eine Ernährungsmasse hergestellt, eben jene Stangen, die alle bei sich trugen und deren Nährwert unbegrenzt sein sollte.

Bevor die Königin dem Untersuchungsbeamten noch eine Antwort geben konnte, wurde die Tür zum Fahrstuhl wieder geöffnet, und heraus trat der Chef der Polizei in höchsteigener Person, ein Männchen mit einem Kopf, der so rund wie eine Melone war.

Auch die Ansicht des Polizeichefs hatte die Königin mir später mitgeteilt.

Es handelte sich darum, daß die heimlichen Straßenspione von einem Aufflackern unter der niedrigstehenden Bevölkerung berichtet hatten, Lastträgern, Jochträgern und anderen Schwerarbeitern beiderlei Geschlechtes, – ein Aufflackern jener gefährlichen Ketzerei, die man seit der letzten Massenausweisung zum Berge ausgerottet zu haben meinte.

Ein Jochträger, der auf offener Straße unter seiner Bürde in die Knie gesunken war, hatte plötzlich wie ein Nebelsänger geschluchzt. Mit glänzenden Augen hatte er zum Turm hinaufgeblickt und gesagt, er könne dort oben ein lebendiges Licht, ja geradezu eine Stadt unterscheiden, wo es immer hell sei, wo man kein Joch zu tragen brauche und jeder nach Belieben schlafen und arbeiten könne.

Ein anderer aus der Schar hatte sich neben ihn gelegt und gesagt, er könne das Licht auch sehen, worauf er seine Hände erhoben und ›den Mann dort oben‹ angefleht halte, durch den Nebel herabzukommen und ihnen allen zu helfen.

Ein dritter, sogar ein Eiersammler, hatte von den beiden Menschenwesen erzählt, die zeitig am Morgen gefangen worden seien, er habe gesehen, wie man sie durch den Turm geführt hatte. Sie glichen weder den Nebelbewohnern noch dem Bergvolk, schienen viel stärker zu sein und hatten Licht in den Augen. Es mußte darum außerhalb oder über dem Nebel noch Wesen geben, und es sei Lüge, was immer gepredigt würde, daß es außer der Nebelinsel nichts in der Welt gäbe, in alle Ewigkeit nur Nebel und Meer, und was daraus geboren würde!

Wahrscheinlich existierte das Licht und die Stadt, wovon der Alte dort redete, und darum wollte man sich zusammentun, alle diejenigen, die ihre Bürden und Köpfe nicht mehr tragen könnten, sie wollten zur Königin gehen und von ihr verlangen, daß sie die Wahrheit sage und sie dorthin führe, wo das Leben schöner sei.

Es wunderte mich, daß der Bericht des Polizeichefs solch tiefen Eindruck auf die Königin machte; erst später begriff ich den Grund.

Der Nebel in ihren Augen wurde zu einer tiefen Dunkelheit, ihr schmaler Mund bebte. Sie diktierte dem Polizeichef eine Kundgebung durch den öffentlichen Bildwerfer, in Übereinstimmung mit dem Standpunkt, den der Untersuchungsbeamte ihr vorgeschlagen hatte. Zum Schluß fügte sie noch hinzu, daß die beiden neugebildeten Wesen bis auf weiteres in Gewahrsam bleiben würden, damit der Laboratoriumschef das Phänomen in allen Einzelheiten studieren und das Hochspannungsverhältnis, das man durch eine Anzahl gelungener Versuche erreicht hatte, wissenschaftlich festlegen konnte, damit es der Nebelwissenschaft möglich sei, jederzeit und bewußt neue und vielleicht verbesserte Menschen herzustellen.

Die Kundgebung endete:

»Jeder, der sich erdreistet, die Möglichkeit zu erörtern, daß es irgendwo in der Welt bessere und glücklichere Lebensbedingungen gibt als diejenigen, unter denen ihr auf unserer heiligen und ehrwürdigen Nebelinsel lebt, wird bestraft werden als ein solcher, der sich vermessen hat, sich klüger zu dünken als unsere Weisheit. Er wird jenseits der Mauer zu dem öden und unfruchtbaren Berge verwiesen werden, damit er sich davon überzeugen kann, welch leichtes und angenehmes Dasein er zu seinem Verderben durch eigene Torheit verscherzt hat.«


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