Fredrika Bremer
Nina
Fredrika Bremer

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Eine Nacht.

Die Sterne blinken
Hernieder auf die öde Bahn,
Die Sterne winken
Den Wanderer zu sich heran.
        Das Sternlied.

Nina lag auf dem Bette. Die heftige Erschütterung ihrer Gefühle hatte einer Art Betäubung Platz 482 gemacht und so sank sie immer tiefer in einen unruhigen Schlaf oder vielmehr in eine träumerische Bewußtlosigkeit. Auf einmal war es ihr, als verschwänden die Wände und die Decke ihres Zimmers und es öffnete sich vor ihr eine unermeßliche Oede. In der Tiefe rollte das gränzenlose Meer, darüberhin zog im leeren, finstern Raume eine aschgraue Wolke. Eine mächtige, aber schreckliche Gestalt mit dem Gesicht eines zürnenden Gottes lag ruhig auf der Wolke und schleuderte Blitze um sich her. Ihr Blick blitzte auf Nina herab, ihre Lippen donnerten die Worte: »Entsage der Liebe, entsage der Seligkeit, entsage Eduard Hervey!«

Und es war Nina, als ob ihr Herz gewaltsam aufgeregt sich weigerte, aber eine unwiederstehliche Macht ihre Lippen zwänge, Ja zu sagen. Sie hörte sich selbst dieses resignirende Ja sagen und sie schauderte. Da erhob sich die Wolke mit der Schreckensgestalt höher in die Luft und verschwand aus ihrem Gesichtskreis. Die Scene verwandelte sich und das Meer war weg. Die Luft war qualmig und schwer. Auf einer kahlen Anhöhe sah sie eine stille Gestalt stehen, und die Anhöhe kam ihr näher und die Gestalt wurde ihr deutlicher, und sie erkannte wiederum ihn, den sie so innig, so unaussprechlich, so über Alles liebte. Sie streckte ihm ihre Arme entgegen. Da blieb die Anhöhe von einer unsichtbaren Hand angehalten stehen und die Gestalt stand ebenfalls stille, hielt die Hand aufs Herz und heftete aus den dunkelbrennenden Augen einen langen, trauervollen Blick auf sie. Um den Mund zog sich ein mattes Lächeln voll von unendlichem Schmerz. Sie bat ihn, mit ihr zu sprechen. »O sage mir, sage mir –« bat sie – »daß du noch an meine Liebe glaubst, daß du mir verzeihst!« Da sank seine Hand langsam vom Herzen herab, aber an der Stelle, wo dieses gewesen, zeigte sich bloß eine blutige, weit klaffende Wunde und seine Augen sahen sie mit erlöschendem Blicke an, so traurig, so vorwurfsvoll! – Nina glaubte zu sterben. Aber 483 auf einmal durchdrang sie ein starkes und hoffnungsvolles Gefühl: sie fühlte, daß es die Kraft der Liebe war und sagte: »Mit meinen Küssen will ich die Wunde heilen, mit meinem Herzen will ich deine Brust füllen, mit meinem Liebesblick will ich aufs Neue die Strahlen des Lebens in deinen Augen entzünden!« Sie streckte ihre Arme aus und fühlte sich von einer unsichtbaren Macht langsam ihm entgegengeführt. Sein Blick leuchtete und ihr Herz zerschmolz in Wonne. Da trat eine hohe Gestalt gebietend zwischen sie. Es war Edla. Eine eiskalte Hand ging über Ninas Brust und ihre Glieder waren gelähmt. Sie sah Eduard nicht mehr. Sie sah bloß Edla an ihrem Kopfkissen stehen. Edlas Blick war streng, und sie hielt einen Becher in der Hand, den sie an Ninas Lippen führte und ihr befahl, ihn zu leeren. Nina wollte gehorchen, allein der Trank war bitter; sie fühlte, daß es die Bitterkeit des Lebens war, und mit unbeschreiblichem Abscheu wandte sie sich weg und sagte: »Nein!« Aber Edla hob ihren Kopf in die Höhe, näherte den Kelch aufs Neue ihrem Munde und zwang sie. Nina fühlte den Schmerzenstrank über ihre Lippen und in ihre Brust hinabgleiten; es war ihr, als tränke sie den Tod.

Ein verworrenes Geschrei von Menschenstimmen voll Jammer und Entsetzen, ein Brausen, ein heftiges Krachen drang jetzt zu Ninas Ohr und weckte sie aus dem qualvollen Traume – aber nur zu neuen Schrecken. Sie fühlte die Erde beben. Ein dumpfes, schreckliches Donnern füllte die Luft und der Sturm pfiff furchtbar dazwischen; nein, es war keine Einbildung, kein Traum – eine kalte, bittere Welle schlug wirklich über Ninas Lippen. Erschreckt richtete sie sich auf und griff um sich her. Wogen kreisten um ihr Bett und hoben es in die Höhe. Jetzt schien der Mond durch Sturmwolken herein. Er beschien ein Meer draußen, das durch die zertrümmerten Fenster seine heftigen Wogen immer höher 484 und höher ins Zimmer wälzte. Das Haus schien Einsturz zu drohen; Noth- und Verzweiflungsgeschrei hörte man von mehreren Seiten.

Nina erinnerte sich, von Ueberschwemmungen gehört zu haben, welche hie und da diese Gegenden heimgesucht,Siehe Hülphers Beschreibung von Norrland. und begriff ihre Gefahr. Sie suchte sich zu fassen, um beurtheilen zu können, was sie zu thun habe. Sie stand auf, und indem sie sich an der Wand gegen den Wogenschwall aufrecht erhielt, gelangte sie mit Mühe an die Thüre. Diese aber war von Außen verschlossen und sie konnte sie nicht öffnen. Sie rief um Hülfe, aber beinahe ohne Hoffnung, in der allgemeinen Verwirrung gehört zu werden. Sie steuerte jetzt auf das Fenster zu und sah von da überall Zerstörung in ihrer ganzen Schrecklichkeit; finster, gewaltsam und stürmisch bedeckte die Fluth Alles, Bäume wurden umgerissen, Trümmer von Häusern trieben auf den Wogen umher, schwimmende Thiere hoben heulend die Köpfe empor und schienen um Hülfe zu rufen. Des Mondes stiller Strahl lag zuweilen über der Gegend, zeigte aber keinen Retter, die Fluth schien Alle überrascht zu haben, wie Nina. Als Ninas Hülferufe bloß von andern Nothrufen beantwortet wurden, als die Wogen immer höher und höher stiegen, da fühlte sie, daß es sich jetzt ums Sterben handle. Dieser Gedanke war ihr bitter, und mit schauerlicher Deutlichkeit ging ein Vorgeschmack von ihrer letzten Stunde durch ihre Seele. Sie fühlte, wie die Fluth bald über ihre Lippen steigen und ihr Geschrei und ihre Bitten ersticken würde; wie sie die Thränen aus ihren Augen trinken und diese zwingen würde, sich für immer zu schließen. Und keine Hand sollte in dieser Stunde die ihrige drücken, kein liebender Blick ihr Trost und Kraft gewähren! . . . . Nina weinte, und die heißen Thränen verschwanden in den Wellen. Um ihr Leben so lang als möglich zu sichern, stieg sie auf das Gesimse hinauf. Hier 485 reichten ihr die Wogen noch nicht weit über die Kniee; sie schlang ihre schneeweißen Arme um das Fensterkreuz und verblieb ruhig in dieser Stellung, während der Wind und die Wellen in ihren Haaren und ihren weißen Kleidern wühlten. Nina dachte an Edla. Ein unaussprechliches Gefühl von Reue und Schmerz durchdrang sie; es verlangte sie, ihre Hand zu küssen und ihre Verzeihung zu erlangen, bevor sie sterbe. Sie dachte an Hervey; sie fühlte, wie unendlich theuer er ihr war; wie bitter es war, von der Welt zu scheiden, wo er lebte. Das himmlische Gesicht gegen die stürmischen Wolken gewandt, betete sie für ihn, betete sie um Erbarmen für sich selbst.

Höher und höher schlugen die Wogen, die Fluth stieg mit fürchterlicher Schnelligkeit; Ninas herabgefallenes, reiches, helles Haar ward von den Wellen gebadet; sie schlugen kalt und mordend über ihrer schneeweißen Brust zusammen. »Er kommt, er kommt der bittere Tod!« dachte das bebende Opfer. »O meine Pflegmutter! Könntest du mich jetzt sehen – du würdest deinem Kinde verzeihen! O Eduard! O Edla!« und mit einem Ruf der Sehnsucht und des Schmerzes streckte sie ihre Arme aus, wie zum Abschied von ihnen, die noch im Tode ihre ganze Liebe besaßen.

Ein dunkler Punkt bewegte sich auf den Wellen, schien aber nicht von ihnen getrieben zu werden, sondern sie vielmehr zu beherrschen. Nina sah ihn bebend vor Hoffnung. Er sank, er stieg mit den Wogen, kam aber immer wieder zum Vorschein, und immer näher und näher. Durch das verworrene Brausen einstürzender Häuser, rufender Stimmen und wilder Wellen glaubte Nina den ruhigen, taktmäßigen Schlag von Rudern zu vernehmen, und als sie ahnungsvoll und außer sich rief: »Eduard! Edla!« da nahte dumpf, aber sicher, der Hall ihres eigenen Namens ihrem Ohr. Bald wurde er deutlicher. »Nina! Nina!« rief durch Sturm und Nacht eine wohlbekannte und geliebte Stimme. Wieder schien 486 der Mond über die wilde, nächtliche Scene. Hoch auf den Wellen stieg ein Boot hervor und theilte die schäumenden Wogen. In demselben waren zwei Personen. Eine weibliche Gestalt lag im Vordertheile auf den Knieen. Es war Edla. Jetzt gelangte das Boot ans Fenster. Edla streckte ihre Arme aus und umfaßte Nina; Nina umfaßte sie. Im nächsten Augenblick lag die Gerettete auf einer weichen Decke im Boot. Edla beugte sich wie ein schützendes Dach über sie. Noch einen Augenblick hielt der Ruderer am Hause, denn verzweifelte Stimmen riefen von oben herab: »Rettet uns, rettet uns!« – »Rettet, rettet!« rief auch Edla, aber eben so bewußtlos und ohne aufzusehen – sie sah auf Nina. »Fort mit uns! Das Haus stürzt ein!« schrie der Mann am Ruder. Das Dachwerk gab nach. Ein Stein löste sich vom Dache, fiel ins Boot herab und zerschmetterte Edlas Schulter. Sie sank nach einer Seite nieder, beugte sich aber immer noch, wie bisher, schützend über Nina. Mit verzweifelten Anstrengungen gegen die herantreibenden Wogen gelang es dem Ruderer endlich das Boot von dem stürzenden Hause abzustoßen. Aber vergebens schienen sie gegen den Untergang zu kämpfen. Der Tod schwebte über ihnen. »Wir sind verloren!« rief der Ruderer dumpf. Edla sah auf. Ein vom Falle des Daches geschleuderter Balken schoß über sie dahin und drohte ihr Fahrzeug unter seiner Last zu begraben. Edla stellte sich vor Nina auf, erhob abwehrend ihren noch gesunden Arm und bot dem blinden Mörder ihre Brust. Er schlug gegen sie an, wurde aber von einer erstaunlichen Armeskraft nach der Seite des Bootes geschleudert. Heftig stürzte er hinab, die Welle schlug hoch empor und über das Boot herein, das voll war von Blut, von Angst und Liebe. In diesem Augenblick ruderte ein anderes Boot vorbei und auf das stürzende Haus zu. Baron H's. Stimme ertönte ruhig und fest aus dem Fahrzeug, und man hörte sie seine Richtung bestimmen. »Wen habt ihr gerettet?« rief er im 487 Vorbeifahren. »Nina!« antwortete eine Stimme, die dem Grafen Ludwig gehörte. »Gut!« rief Baron H. schon weit fortgetrieben. Und die Wogen rollten und der Sturm heulte, der Regen strömte herab, und durch das Getöse und die Zerstörung machte sich Menschenschmerz laut. Durchdringendes Geschrei von Liebe und Verzweiflung durchschnitt die Luft, wie scharfe Schwerdter das Herz. Die Worte: »Meine Frau! meine Kinder! Mutter! Bruder!« wurden im Sturme hin und her geworfen. Aus halb überschwemmten Hütten hörte man angstvolle Bitten um Rettung. Die Mütter streckten ihre schreienden Kinder zum Fenster hinaus. Aber Graf Ludwig war taub für ihre Klagen. Er wachte unermüdlich nur über sein Fahrzeug. Und sicher schoß es dahin, und es war stille darin, still wie der Tod. Mit großen Tropfen des Angstschweißes auf seiner todesblassen Stirne saß der Ruderer still und bewegte seine Ruder mit kräftigen Armen. Wenn irgend ein Hinderniß das Boot aufhielt, so sah man ihn bis an den Hals im Wasser watend arbeiten, um es frei zu machen. Im nächsten Augenblick ruderte er wieder aus allen Kräften, und sah sich immer näher und näher den Anhöhen. Dort schimmerten Lichter, dort wurden Stimmen gehört, dort wurden Thränen geweint, dort wurden Gebete gestammelt. Dort landete er endlich.

 


 

Die letzte Stunde.

»Laßt die Gedanken uns erheben.«
                                    Thorild.

Matt schien die Sonne aus graugelben Wolken am Tag nach dieser schrecklichen Nacht. Matt schienen ihre Strahlen auf Edlas Lager und auf ihr Gesicht, in welches 488 der Tod sein deutliches, unerbittliches »du bist mein!« gezeichnet hatte.

Eine tiefe Stille herrschte im Zimmer, nur von leise ausgesprochenen Gebeten unterbrochen. Mit dem silbernen Kelch in der zitternden Hand entfernte sich ein alter Priester von Edlas Bette. Er hatte ihr die heilige Speise gereicht, hatte still seine Gebete mit den ihrigen vereinigt und zog sich jetzt schweigend zurück, wohl fühlend, daß seine Stimme hier nicht zu stärken und zu trösten brauchte.

Am Fuße des Bettes stand Professor A., den das Verlangen, Edla wieder zu sehen, nach Umenäs getrieben hatte, ach! in demselben Augenblick, wo sie die Schwingen erhob, um die Erde zu verlassen. Mit dem Schmerz eines Menschen und der Ruhe eines Denkers betrachtete er jetzt seine Freundin, und war zufrieden, ihr in diesem feierlichen Augenblick nahe sein zu können. Neben ihm stand mit stiller Fassung Graf Ludwig, und an Edlas Kopfkissen Klara und Edlas Freund, der betrübte Arzt. Beide die Blicke auf ihr Gesicht geheftet, wo eine immer höhere Ruhe, eine immer steigende Klarheit sich über die von Schmerz entstellten Züge auszubreiten anfing. Nina war nicht anwesend. Sie hatte seit dem Augenblick, da sie sich von Edlas Blut überspritzt sah, besinnungslos dagelegen. Erst seit wenigen Minuten war ihr Bewußtsein zurückgekehrt, und sie trat jetzt gestützt auf den Arm der Baronin H. herein.

Bleich und zitternd, wie ein Gespenst, das aus dem Grabe herausgerufen worden, um noch einmal das Licht der Erde zu schauen, schritt Nina vor, schön anzusehen, aber schauerlich. Ihre Hände waren zusammen gelegt, ihre Augen von Thränen umhüllt, ihr Athem tief und convulsivisch. Ein innerliches Entsetzen schüttelte ihr ganzes Wesen. Die weißen Lippen konnten nur flüstern: »Edla! Edla!«

Mit unendlicher Klarheit, mit unaussprechlicher Zärtlichkeit strahlte Edlas Blick sie an, und als sie an ihrem 489 Lager auf die Kniee sank, legte Edla ihren gesunden Arm um ihren Hals und beugte sanft ihr Gesicht auf das der Schwester.

»Kind meines Herzens! Mein gerettetes Kind! Mein Liebling!« so sprach Edla in den sanftesten Tönen, und ihre kalten Lippen ruhten zum ersten Mal innig liebkosend auf Ninas Mund und Augen. Jetzt konnte sie sich dieß erlauben. Das Harte in Ninas Schmerz löste sich unter diesen Zärtlichkeitsbezeugungen auf, und sie bedeckte mit Thränen die Brust, die für sie geblutet. Ach in diesem Augenblick fühlten die beiden Schwestern noch mit Freude, daß sie einander liebten und von einander geliebt wurden. Aber Edla unterbrach bald diese Ergießungen, und indem sie Nina sanft zurückdrängte, fragte sie mit einer Stimme voll tiefen Ernstes:

»Willst du meinen letzten Augenblicken Ruhe schenken?«

»Verlange, gebiete über mich!« sagte Nina mit einer Art innerem Drang, sich aufzuopfern, zu leiden.

»Lege deine Hand auf meine Brust,« sagte Edla.

Nina that es.

»Gelobe mir, nie Eduard Herveys Gattin zu werden!«

»Ich gelobe es!« antwortete Nina. Die Donner des Schicksals rollten über sie hin.

»Gelobe mir, seinen Anblick zu meiden!«

»Ich gelobe es!« antwortete die gänzlich willenlose und unterwürfige Nina.

»Ich danke dir!« sagte Edla. Aber noch war keine Ruhe in ihrem Gesichte. Ihre Blicke schweiften von Nina auf Ludwig, von Ludwig auf Nina, aber ihre Lippen sprachen kein Wort. Nina sah sie lange an und reichte endlich Graf Ludwig ihre Hand. Sie fühlte ein Bedürfniß, sich für Edla zu opfern, für sie zu sterben. »Gehorsam will ich geloben!« sagte Nina zu Graf Ludwig. Er drückte ihre Hand fest in die seinige. Edlas Augen füllten sich mit Thränen. Sie sah die Größe des 490 Opfers, aber sie nahm es an. Nina allein, unbeschützt in einer Welt zu lassen, wo Hervey lebte, wo die Gräfin Natalie das nächste Recht hatte, über sie zu verfügen, war Edla ein Höllengedanke. Lange, prüfend und durchdringend betrachtete sie Nina und Graf Ludwig. Eine ungewöhnliche Milde verschönerte in diesem Augenblick die Entschlossenheit in ihren Zügen – eine wunderbare Kraft hatte Ninas Wesen aufgerichtet; – ruhig und gefaßt, wie Iphigenie in der Opferstunde, stand sie bereit, den Schlag zu empfangen, der sie vom Leben trennte. Edla sah in dieser Ruhe nicht die Kraft der Verzweiflung, sondern die Macht eines höhern Lebens, die Prophezeiung künftiger Wahrheit und Friedens für ein Geschöpf, das lange geschwankt. – Eine strahlende Hoffnung verklärte ihr Gesicht, während sie ihre Hand auf Ninas und Ludwigs vereinigte Hände legte, und zur Verwunderung Aller richtete sie sich zur Hälfte auf und sprach mit der Klarheit höherer Eingebung:

»Die Tugend vereinigt euch! Gott wird euch segnen! Geliebte! Geliebte! Lebt für das ewig Gute, lebt für das Wohl des Vaterlandes! O ich sehe die besseren Tage kommen! Habe Dank! Innigen Dank, du Kind meines Herzens! Du, das Theuerste, was ich auf Erden besaß! Jetzt bin ich ruhig, jetzt kann ich im Frieden von dannen gehen!« Edla sank matt auf ihr Bett zurück. Die Verlobten gingen weg. Nina setzte sich auf einen Schemel zu Edlas Füßen und lehnte ihren Kopf gegen das Bett. Alle Freuden der Welt waren für sie dahin.

Aber auf den Schwingen des Todes schien Edlas Geist sich zu erheben und höher und freier zu athmen. Ist es nicht mit vielen Sterbenden so? So hat man mir gesagt, und ich habe es selbst gesehen. Bei der Annäherung des Todes erhebt sich mancher im Leben niedergeschlagene Blick und wirft eine wunderbare Flamme, bevor er auf immer erlischt; manche gebundene Zunge löst sich und spricht evangelisch schöne Worte. Manche Brust athmet auf dem Todtenbett zum ersten Mal ihre 491 Liebe aus. Es war so still darin – und man glaubte sie öde, aber der Befreier naht, und jetzt hört man den himmlischen Vogel singen, der stumm darin gefangen saß. Ach, es gibt Menschen, die erst in der Todesstunde recht zu leben anfangen.

Edlas zerschmetterte Brust und Schulter, ihr starker Blutverlust, ihre schnell abnehmenden Kräfte verboten alle Hoffnung, ja sogar jeden Versuch zu retten. Sie war sich ihres Zustandes klar bewußt, und bat den Arzt, sie so viel als möglich in Ruhe zu lassen. Er fügte sich in ihren Wunsch, und ließ sie nach dem Verbande in eine bequemere Lage in ihr Bett legen. Sie sah sehr ruhig, sehr klar aus. Nur wenn ihr Auge auf Nina fiel, offenbarte sich darin ein Ausdruck von Schmerz.

»Meine lieben Freunde!« sagte sie mit inniger Herzlichkeit zu den Umstehenden, »seid nicht betrübt. Stärkt mich in diesem Augenblick durch eure Ruhe. Was geschieht denn auch hier mehr, als was überall, alle Tage, alle Stunden geschieht? Ein Kind der Erde geht heim zu seinem himmlischen Vater; es ist ja ein einfacher, ein lieblicher Weg, und den wir Alle wandeln müssen. A., mein guter Freund! . . . .« und Edlas Blick entfernte bittend die Andern, während sie Professor A. näher an ihr Kopfkissen winkte. Nina allein blieb noch an ihrem Bette sitzen, die Uebrigen zerstreuten sich im Zimmer. Mit gesenkter Stimme fuhr Edla gegen A. fort: »Warum dieser tief betrübte Blick, mein Freund? Ach, lassen Sie ihn nicht den lichten Tag trüben, der mir durch die Nacht des Todes bereits seine Strahlen zuwirft. Ich möchte Sie gerne . . . . ja es ist mir ein Bedürfniß, Sie ruhiger zu sehen. Ist es jetzt so finster in Ihnen, oder – sind Sie unzufrieden mit mir? Verbergen Sie in dieser Stunde keinen Gedanken vor Ihrer Freundin.«

»Edla!« sagte der Professor A., »was wollte ich nicht geben, was wollte ich nicht leiden für die Gewißheit, daß der Tag, den Sie schauen wollen, wirklich vorhanden ist – daß er nicht bloß ein Wiederschein des 492 Sonnenglanzes der Erde ist, der noch Ihre letzten Augenblicke barmherzig – aber trügerisch blendet! Ich bekenne es – ich kann mich mit dem Gedanken an Ihren Tod nicht versöhnen. Ich habe Menschen dahingehen sehen, die ihr volles Leben in Wissenschaft oder in Liebe gelebt haben – um diese klage ich nicht. Aber Sie, Edla! Sie waren erst in Ihrem Anfang, Sie waren noch bloß eine Suchende, eine Dürstende . . . . warum? Sie werden hingehen; die Quelle, der Sie Ihre Lippen näherten, wird aufhören, für Sie zu fließen. Die Erde mit ihren reichen Schätzen wird vor Ihren Blicken verschwinden – das Grab ist da. Edla! Was ist Ihnen in diesem Augenblick die Wissenschaft? Was der Durst darnach?«

»Was sie mir sind?« rief Edla mit hoher Lebendigkeit – »was sie mir immer waren, Leben, Freude! Glauben Sie mir, dieser Durst ist nicht gelöscht. Er ist jetzt vielleicht stärker, als je, und ist mir eine Verheißung höherer Quellen. Ich gehe dahin, ja! Es ist ein wunderbarer Gang! Es wirbelt um meine Sinne. Aber glauben Sie nicht, daß in diesem Augenblick eine geheime und wundervolle Freude in mir zittert bei der Gewißheit, daß ich bald über diese nebelumhüllte Gränze hinaussehen, daß ich bald in dieses unbekannte Land eindringen werde? Ja, mein Freund – ich gestehe es – mein Geist ist ungeduldig; wie ein Kind sitzt er vor dem Vorhang und sehnt sich, ihn aufgezogen zu sehen.«

»Kindische Neugierde an des Grabes Rand!« sagte Professor A. in verwerfendem Tone. »Ist dieß Ihrer würdig, Edla?«

»Ich glaube –« sagte Edla mit sanfter Rührung – »daß ich ein reineres Gefühl habe. O mein Freund! Meine Seele ist so erfreut darüber, daß ich – – Gott! bald verstehen werde!« (Und Edla faltete anbetend ihre Hände.) »Ich werde die Räthsel, die mich hier gequält haben, gelöst sehen, ich werde Seine Weisheit besser fassen, Seine Liebe besser fühlen, Ihn besser anbeten 493 können. Des Erdenlebens tiefstes Mysterium ist der Tod. Aber in den Mysterien wurde man ja einst zu höherem Lichte eingeweiht, mein Freund. Meine Einweihungsstunde ist gekommen. Ich begrüße sie freudig. Ich glaube, daß sie mich dem Urgrund alles Lichtes und aller Seligkeit näher führen wird. Ich fühle, daß meine Seele Leben und Entzücken daraus saugen wird. Auf welche Art, durch welche Organe, das überlasse ich getrost der Hand des großen Künstlers, der meine irdische Hütte gebaut hat. Er wird es wohl machen. Er wird mich in den Stand setzen, Ihn zu vernehmen und Seine Werke zu bewundern. Ja ich fühle, daß ich befreit von der Hülle der Materie mich selbst besser verstehen und euch Alle besser kennen und lieben werde.«

»Warum?« fuhr der murrende A. fort zu fragen, »warum wurde Ihre Bahn unterbrochen, als Ihre Bestrebungen eben Früchte für Ihre Mitmenschen zu tragen verhießen? Ihre begonnene Arbeit, Edla! – Das, worauf ich mich so sehr gefreut – soll jetzt unvollendet, unfruchtbar daliegen . . . .«

»Dieser Gedanke –« antwortete Edla – »ist mir auch schwer geworden, ich gestehe es. Ich glaubte . . . . ach kindische Thorheit! Ich will nicht davon sprechen. Es ist vorbei. Große Werke von den weisesten Männern der Vorzeit sind verloren gegangen – und ich sollte mich vermessen, um meine kleine Arbeit – nur diesen Tropfen zu klagen! Kraftvollere Geister werden ausführen, was ich begonnen habe. Ich weiß das, und es freut mich.«

»Und was macht Sie Ihrer Sache so gewiß, Edla?«

»Die ewige Vernunft, die ununterbrochen ihre Offenbarung in der Menschheit fortsetzt,« antwortete Edla. »Die Worte, die ich vernahm, werden auch in den Ohren Anderer erklingen, und vielleicht von einer beredteren Zunge, als die meinige ausgesprochen werden. Auch mein Funke Kraft wird von ihm, der ihn entzündet, bewahrt werden, und fortfahren, seiner Art gemäß zu wirken. 494 Und vielleicht –« fügte sie heiter scherzend hinzu, »vielleicht werde ich mein Buch auf dem schönen Sterne vollends ausschreiben, der dort zu blinken beginnt.«

»Wir können uns,« sagte Professor A., »ohne Schwierigkeit ganz nach Belieben allerhand Phantasien von unserem Zustand jenseits machen. Die Hauptfrage bleibt jedoch immer, auf welchem Grund beruhen sie? Eine solche willkürliche und grundlose Phantasie, beste Edla, ist gewiß Ihr Gedanke ein Buch zu schreiben, während Ihre Hand im Grabe modert.«

»Ich scherzte,« erwiederte Edla, »und doch muß ich glauben, daß die Kunst ewig ist, wie die Menschennatur. Gibt es einmal im Leben eine Kraft, so muß sie auch ihre Bahn finden oder bilden. Von einem kleinen Werke hier habe ich Abschied genommen; meine Hand überlasse ich bald der Erde; aber meine denkende, meine bildende Kraft nehme ich mit mir; sie ist ein Theil meines Geistes. Ich habe hier meine Schule begonnen; jetzt bin ich im Begriff, die Universität zu beziehen und höhere Lehren zu studiren. Es ist mein Glaube und meine Freude, daß mein rechter Arbeitstag jetzt erst beginnen soll.«

»Die Engel forschen und grübeln nicht,« sagte Professor A., »sie schauen Gott. Selbst das Christenthum stellt uns nach dem Tode keinen andern Zustand in Aussicht. Aber dieser Zustand abstrakter und unthätiger Betrachtung, mag er auch mit Gesang und Harfenspiel verschönert werden, wird doch für eine Seele, wie die Edlas – ich muß das Wort aussprechen – langweilig.«

»Gott schauen!« wiederholte Edla leise, und eine wunderbare Verklärung leuchtete aus ihren eingesunkenen Augen, »Gott schauen! Und was ist wohl alles höhere Leben, jeder reine Aufschwung der Seele, jede wahre Begeisterung anders, als ein Schauen Gottes, ein Vernehmen Seiner, der Wirklichkeit aller Wirklichkeit, der Wahrheit aller Wahrheiten, des Urgrundes der Schönheit? Was ist alles kräftige Leben, jede reine Handlung, 495 jedes schöne Werk anders, als ein Aussprechen dieser Anschauung? – Gott schauen heißt mit Gedanken und That in Gott leben.«

»Und werden wir diese Seligkeit mit der warmen Wirklichkeit fühlen, die hier auf Erden unser Reichthum ist?« sagte Professor A. tief aufgeregt. »Werden wir das Leben stark und gewiß, wie jetzt, an unser Herz drücken? Edla! Werde ich Sie wieder sehen, Sie wieder erkennen? Werden Sie der Stimme Ihres Freundes lauschen, wie Sie hier gethan? Werde ich dort Ihre Hand drücken dürfen? . . . . .« Er schwieg, denn seine Stimme bebte.

»Was soll ich darüber sagen?« antwortete Edla. »Haben Sie nicht von einem Todten und Begrabenen gehört, wie er auferstand von den Todten und seine Freunde bei Namen rief, sie liebte, wie früher, ihnen Frieden schenkte und sie segnete? Ueber diese Klarheit weiß ich keine – und die Erde auch nicht. Aber ich fühle – so wird es sein. Erst Nacht . . . die Schatten nahen mir bereits . . . . Nacht – dann dämmert der Morgen. Und die Schlafenden erwachen . . . sie ermuntern sich . . . ach wie schön. Der Freund ruft dem Freund! Der Freund antwortet dem Freunde! So tagt der Himmel . . . . Warum fragen, fürchten? Es ist ja Alles klar! Er hat ja durchgedrungen . . . .«

Aber das Licht der Erde erlosch für Edla während ihrer himmlischen Visionen. Ihre starke Seele suchte vergebens die Hinfälligkeit der Natur zu bekämpfen. Sie wurde ohnmächtig und erwachte aus der todähnlichen Betäubung erst spät Abends, als bereits der Sternenhimmel in seiner ganzen Pracht über der Erde stand. Langsam zog sich die Fluth wieder in ihre Ufer zurück. Die Dämmerung warf ihren Schleier über die Verwüstung, der Wind schwieg stille, der Abend war ruhig und herrlich.

Edla bat, man möchte ihr Bett ans Fenster tragen. – Dieß geschah, und sie blickte mit stillem Entzücken zu den 496 geliebten Himmelslichtern empor und sagte: »Bald werde ich euch näher sein!« Sie sah Nina an, winkte sie zu sich und küßte die Thränen von ihren Wangen weg. Jetzt erblickte sie auch die, die in Professor As. Auge standen. Sie reichte ihm die Hand und sagte:

»Wenn Sie wüßten, mein Freund, welche süße Hoffnung, welche freundliche Erscheinungen mich in diesem Augenblick umgeben – Dank sei es der ewigen Liebe, die den Tod mit ihrem Lichte durchdrungen hat! – Sie würden sich mit mir freuen.«

Professor A. schwieg, und Edla fuhr nach einer kurzen Pause fort: »Ich habe sagen gehört, daß wir hier auf Erden nur den zwanzigsten Theil des Lichtes sehen, das über der Atmosphäre der Erde ist. Dieser Gedanke macht mir eine ganz besondere Freude. Mein Freund! Ist es wohl eine vermessene Hoffnung, daß, wenn wir den Dunstkreis dieser Erde verlassen, das Blatt der unsterblichen Lehre, auf welche wir liebevoll unsere Blicke geheftet, von einem höheren Licht bestrahlt und seine Bedeutung uns deutlicher sein werde? Sie wenden sich ab – Sie sind mißvergnügt – A., mein werther Freund, sagen Sie mir, warum?«

»Ich will es Ihnen sagen, Edla,« antwortete Professor A. »Jeder Ihrer Gedanken, jedes Ihrer Gefühle ist mir in diesem Augenblick von unendlicher Wichtigkeit, und ich thäte Unrecht, wenn ich Anstand nähme, auch mit einem harten Worte die Klarheit derselben hervorzurufen. Edla! – Dieses Jubiliren in der Todesstunde ist mir zuwider. Die Lehre, zu der Sie sich bekennen, fordert meines Erachtens mehr Demuth. Auf was baut der Christ, der seine Religion nicht mißversteht, seine Hoffnung auf höhere Freiheit und Freude? Ist es nicht auf die Gewißheit, daß keine Sünde in seinem Herzen ist, keine Finsterniß in seiner Seele, die ihn von dem Heiligen trennen könnte? Edla, ich wünsche Ihnen Glück – zu dieser Sicherheit!«

Edla schwieg lange, und als sie antwortete, ging 497 ein Zittern über ihre Lippen. »Ihr Vorwurf ist streng,« sagte sie, »aber ich danke Ihnen. Und doch – ich habe ja Ihn von ganzem Herzen geliebt, den Heiligen, den Allgütigen! Ich habe den Weg zu gehen gesucht, den Er zeigt . . . . Warum sollte ich da nicht hoffen, nicht freudig sein? . . . .« Edla schwieg aufs Neue, rief aber bald wieder mit hohem Leben und verklärtem Ausdruck: »Und wäre es auch so – wäre meine Hoffnung vermessen – sollte ich mich über mich selbst getäuscht haben – sollte ich bei einem höhern Licht mein Herz und meinen Wandel anders beleuchtet sehen, als jetzt, o so sei mir das Licht willkommen, das mir meine Finsterniß zeigt! Willkommen die heilige Gerechtigkeit, die meine Fehler bestraft! Ewige, heilige, herrliche Wahrheit, willkommen! sei es auch mir zur Demüthigung. Dich will ich – dich liebe ich – dich suche ich allein! Die tiefste Qual ist mir erwünscht, wenn sie mich gereinigt zu dir führen kann. O mein Freund! Lassen Sie mich fröhlich sein, lassen Sie mich mit Jubel meine Stimme erheben! Meine Hoffnung und meine Freude beruhen ja auf dem Glauben an Ihn, den Allmächtigen, den Getreuen, auf meinem Glauben, daß er durch Freude und Leid, im Guten und im Bösen alle Seelen zu sich führen, daß Alle ihn und seine Wahrheit werden erkennen dürfen.«

»Edla, verzeihen Sie mir!« sagte Professor A. und seine Wange wurde bleicher, während sein Blick die Klarheit in den ihrigen sah.

Aber freundliche Bilder und Hoffnungen schienen Edlas Seele ganz und gar einzunehmen. Sie wandte sich mit einem heitern Lächeln an A. und sagte:

»Ist es nicht merkwürdig, mein Freund, wie Philosophie und Religion sich vereinigen, um in einem für unser Herz so wichtigen Punkte Licht über unser zukünftiges Leben zu werfen? Die Forschungen der Vernunft zeigen uns, daß Zeit und Ewigkeit nicht – wie man gewöhnlich glaubt – zwei getrennte Welten oder Leben 498 sind. Sie sagen uns, daß beide zugleich existiren, daß sie in einander leben und anders nicht leben können. Das Zeitliche ohne das Ewige wäre eben so leer, wie das Ewige ohne das Zeitliche. Der Mensch gehört zwei Welten an. Sein Leben ist zugleich vergänglich und unvergänglich. Es ist ein fortgesetztes Ein- und Ausgehen in und aus dem zeitlichen Leben: lebt aber dieses ewige Leben, d. h. Gottes Leben, Gottes Reich rein in seiner Seele, so kann Nichts sie gefangen nehmen oder verfinstern. Unter allen Wechseln eines unendlichen Lebens bleibt sie frei, klar und selig, ein vernünftiges und liebevolles Organ für den Willen der ewigen Liebe, im innigen und harmonischen Verhältniß zur Natur, zur menschlichen Gesellschaft und zu Gott.«

»So die von der Vernunft des Ewigen aufgeklärte Menschenvernunft – und die Offenbarung? Was lehrt der Gottgesandte?«

»Ich,« spricht er, »bin das Thor für die Schaafe. Wer durch mich eingeht, der wird selig werden, er wird ein- und ausgehen und Waide finden.«

»Wie klar und wie einfach ist hier die tiefe Lehre. Der durch Jesus zur Liebe und Heiligung neugeborne Geist wird unter allen Entwicklungen des Lebens jederzeit sich selbst, seine Freunde, seine reine Liebe, seinen Wirkungskreis, die Nahrung seines Lebens wieder finden.«

»Er wird aus- und eingehen und Waide finden.«

»O du!« fuhr Edla mit unendlicher Klarheit und Innigkeit fort, indem sie ihren Arm um den Hals der knieenden Nina legte, »du, die du meinem Herzen so lieb, so unbeschreiblich theuer bist . . . . auch dein schönes, geliebtes Gesicht werde ich in einer schöneren Heimath wieder sehen. Laß mich es wieder sehen als ein getreues Bild derselben lieblichen Seele, aber auch einer höheren und stärkeren. Mein letztes Gebet für dich ist nicht um irdische Glückseligkeit, sondern um Veredlung und Vortrefflichkeit. Und jetzt . . . . .« fügte sie hinzu, indem in Ausdruck heftigen Schmerzes sich in ihren Zügen 499 kund gab – »jetzt spreche ich nicht mehr viele Worte mit dir . . . . denn ich fühle, daß der Tod seine Arbeit mit mir begonnen hat. Ich will ihn ruhig wirken lassen und still fühlen, wie er die irdischen Bande löst. Gehe nicht fort. Kannst du meinen Todeskampf sehen, so wünsche ich es. Der Mensch darf seinen Blick nicht von den menschlichen Schmerzen abwenden; . . . . Alles muß ertragen, geschaut, verstanden werden . . . . man soll von Allem lernen – das Leben vom Tode! A.! Gib mir deine Hand. Dank für treue Freundschaft. Nina, die deine . . . . auf meine Lippen! . . .«

Edla verlor die Sprache und schien große Schmerzen zu leiden, aber ihre Augen behielten ihren ruhigen Glanz und waren unverwandt auf Nina gerichtet, sie stärkend und segnend. Sie verdunkelten sich immer mehr, sahen aber dennoch auf sie und behielten diese Richtung auch, als sie nicht mehr sahen.

Nicht jeder Gute stirbt wie ein Blumenduft; nicht jeder Schlechte an Wasserscheuqualen. Es geschieht oft das Gegentheil. Diese Disharmonie des äußern und innern Lebens sollten wir nie fürchten festen Blickes anzuschauen. Sie sind kräftige Prophezeiungen eines versöhnenden Accords nach dem Orgelpunkt des Grabes.

Edlas Todeskampf war lang und schwer. Die Lebenskraft war stark in ihrer Brust. Sie lebte noch drei Tage, ohne Zeichen von Bewußtsein zu geben. Als am Morgen des vierten Nina schön und bleich, wie wir uns den Todesengel des Kindes denken, über Edla gebeugt dastand und die Schweißtropfen von ihrer Stirne trocknete, schlug sie noch einmal ihre Augen auf, sah Nina groß und stark an und sagte mit einem Ausdruck von Freude: »Ach, du bists!« Sie lächelte, schloß die Augen wieder und wenige Minuten darauf stand die keuchende Brust stille. Nina drückte ihr die Augenlieder zu.

»Eine schöne, eine redliche Kraft ist von der Erde gegangen!« sagte Professor A. mit gebrochener Stimme, 500 indem er seine Lippen auf Edlas kalte Hand drückte. »Lebe wohl, du edles, du starkes Weib! Edla, leb wohl! Du hast mich arm zurückgelassen!«

So fühlten Alle im tiefbetrübten Herzen. Baron H. und Klara trugen Nina von dem Sterbebette weg.

»Schreib an Eduard Hervey,« bat die Arme nachher die Baronin H., »schreib ihm, was vorgefallen ist, was ich gelobt habe. Ich vermag es nicht.«

Die Baronin versprach es. Seit Edla todt war und die Gräfin, nach der Ueberschwemmungsnacht erkrankt, nur nach sich selbst fragte, nahm sie sich Ninas wahrhaft mütterlich an.

Edla starb das Gesicht gegen das Fenster und den Himmel gewandt. Die Sterne blickten freundlich strahlend auf die erblaßten Züge, und wachten über sie in der stillen Nacht.

 


 


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