Fredrika Bremer
Nina
Fredrika Bremer

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Spaziergang.

Freude und Tugend
Befeuern einander.
                        Franzén.

Es ist ein schöner Sonnabend Nachmittag. Leicht weht der Wind, fröhlich singt der Vogel, lieblich duftet die Blume.

Die Kuh verhüllt den Leib im Rohr,
    Verwickelt in dem Sumpfe,
Der braune Ochse wirft empor
    Die Wogen im Triumphe.
Die Wiese ist ein Blüthenmeer,
    Durchtönt von Heerdenglocken,
Das Roß springt munter hin und her,
    Das Schwein geht in den Roggen. 336

Wer möchte da zu Hause sitzen? Die Gräfin Natalie nicht. Sie bestimmt diesen Tag zu ihrem ersten Besuch im Pfarrhause zu Tärna, bei Herveys alter Mutter. Die ganze Familie, den Obersten mit inbegriffen, soll mitgehen. Der Hinweg soll zu Fuß, der Rückweg zu Wagen gemacht werden. Alles ist in der besten Laune. Der Oberst schwitzt und pflückt Blumen für die Gräfin, die ihm dankbare Blicke zuwirft. Die Baronin wirft ihr einige scharfe zu, wird aber angenehm zerstreut durch ihren Mann, der die liebenswürdigste Aufmerksamkeit für sie an den Tag legt, seine Pfeife raucht, und so herzlich gut und vergnügt aussieht. Filius . . . guter Gott, was haben wir aus Filius gemacht? Ach es ist wahr, wir haben es vergessen und bitten unsere Leser sehr um Verzeihung, wir haben vergessen, daß er vor Baron H's. Abreise von Paradies in eine vortreffliche Schule in der nächsten Stadt gegeben worden ist, wo er zugleich Privatunterricht im Zeichnen genießt, und alle Gelegenheiten hat, sein Talent sowohl in großen, als in kleinen Compositionen zu entwickeln. Daß ihm durchaus Nichts abgeht und daß er nicht nur Nichts vom Herzen seines Pflegvaters verloren, sondern auch das seiner Pflegmutter noch überdieß gewonnen hat, das wagen wir allen geneigten Gönnern seiner Person und seiner Freskomalerei zu versichern. Nina und Klara sind fröhlich wie die Kinder und fühlen wie Schwestern mit und für einander Die Gräfin untersucht, wie es mit der philosophischen Kultur im Kopfe des Obersten aussieht. Sie spricht von Pascal, spricht von Cousin; der Oberst geht auf alle ihre Ideen ein, denkt ganz ebenso, findet sublim und tief, was sie sublim und tief findet, und macht Riesenschritte in der – Gunst seiner Lehrerin.

Dort erheben sich Tärnas grünende Hügel. Behaglich und schön liegt das Pfarrhaus auf einem derselben. Ein Garten mit jungen Gebüschen und Bäumen grünt an seiner südlichen Seite. Die ganze Gegend umher liegt im Zustand der Verwandlung da; überall haben Axt, 337 Spaten und Pflug ihr ordnendes Werk begonnen. Aus dem Tannenwald erhebt sich der spitzige Thurm der Kapelle und zeigt nach dem Himmel. Eduard Hervey ist mit seinem jungen Freund, Capitän S., in seinem Garten. Unter heiterem Gespräch beschäftigen sie sich mit der Pflege der jungen Bäume, unter deren Schatten, wie Hervey hofft, seine Mutter und Schwester bald die Sommerabende genießen werden. So lange der kleine Platz noch von sumpfigen Morästen umgeben war, wollte kein neu gepflanzter Baum gedeihen. Jetzt sind diese meist ausgetrocknet und in fruchtbaren Boden umgeschaffen. Die Kälte hat in Folge davon abgenommen und das Laubwerk schießt lustig empor.

Als Hervey die Ankommenden bemerkt, wirft er seine Sichel weg und eilt mit seinem Freunde, schön von Arbeitseifer, schön selbst von der Nachläßigkeit seiner Kleidung, schön insbesondere von der Freude und dem Wohlwollen, die sich in seinen Zügen malen, ihnen entgegen. Nina dachte dabei an die Worte– ich glaube von Sterne –

»Sein Gesicht ist wie ein Segen.«

Mild und ruhig wie immer führte Hervey seine Gäste zu seiner Mutter. Im Hause sah es aus, wie ein stiller Festtag. Alles so blank gescheuert, so geputzt, so zierlich, obwohl einfach. Ein fröhlicher, ordnender Geist hatte diesem Hause seinen Stempel aufgedrückt. Das Wachholderreis auf dem Boden des Saales genirt zwar die Baronin ein wenig, gefällt aber den jungen Mädchen ganz gut. Man geht aus dem Saale in die andern Zimmer und mit Verwunderung bemerkt die Gräfin die einfache, aber wirkliche Eleganz, die in den Möbeln herrscht. Baronin H. bleibt ganz entzückt vor einer großen und schönen Bibliothek stehen, die in einem großen und heitern Zimmer die Wände einnimmt. Hier war auch ein Pianoforte und eine Harfe. Letztere ist Herveys Lieblingsinstrument. Ein Reichthum von schönen 338 und gutgepflegten Blumen duftet im Fenster. Eine von Eduard gebrochene Heliotrope duftet bald in Ninas weißer Hand. Zahme Tauben mit glänzenden Federn fliegen in den Saal herein und empfangen ihr Futter aus Herveys, bald, auch aus Ninas Hand. Ein inniges Behagen hat sich Nina's bemächtigt; so heimisch, so freundlich, so wohl hat sie sich noch nie auf der Erde gefühlt. Es ist ihr, als blickten aus jedem Winkel lächelnde Engel des Friedens hervor und flüsterten ihr zu: »Hier ist gut sein.« Ach! sie fühlt von ganzem Herzen, daß es so sein müßte. Herveys Blick, Herveys Geist hat hier Alles geheiligt und gesegnet.

Wollt ihr einen lebendigen Festtag sehen? Seht da die alte Frau, Herveys Mutter. In den schönen, reinen Zügen wohnen Ernst und Milde beisammen und auf dem Mund weilt oft noch ein Lächeln, welches an das ihres Sohnes erinnert. Still, weißgekleidet, einfach in Tracht und Wesen fehlt es ihr doch nicht an natürlicher Würde, die der schönen Alten so wohl ansteht. Das Silberhaar theilt sich über der klaren Stirne, um in gleichen Wogen die Schläfe zu bedecken und in den Falten der Florhaube wieder zu verschwinden. Bei der Ankunft der hohen Gäste legt sie ihr Andachtsbuch und ihre doppelte Brille weg und bewillkommt sie mit ungekünstelter Herzlichkeit. Die Gräfin hatte sich vorgenommen, herablassend zu sein, ungefähr wie die Gräfin in Frau Lenngrens witzigem Schauspiel; aber – es ging nicht an. Tugend und Unglück, eine starke und fromme Seele hatte Herveys Mutter den Adel, die ächte Vornehmheit gegeben, welcher Weltbildung nur wenig hinzufügen, ein niedriges Dach und dürftige Umstände aber Nichts nehmen können. Vielleicht rührte ihr ruhiges und unabhängiges Wesen auch mitunter von dem Stolz her, welchen ihr ihr Sohn einflößte. Sie hatte nicht Viel in der Welt gesehen; sie glaubte nicht, daß es etwas Höheres und Besseres unter den Menschen gebe, als Eduard Hervey. 339

An der Seite dieser Frau und Etwas überrascht, ihrer Vorstellung so wenig entsprochen zu sehen, überkam die schöne, reiche und weltgewohnte Gräfin Natalie ein ganz eigenthümliches Gefühl. Sie fühlte sich ihrem Elemente entrückt, mit Einem Wort nicht ganz an ihrer Stelle und fand zu ihrer eigenen großen Verwunderung Nichts zu sagen. Die Baronin dagegen war bald heimisch, wo sie mit ihrem feinen Takt Natur und wahre Menschenwürde entdeckte und in Bälde hatte sich ein angenehmes Gespräch zwischen ihr und der Pfarrerin entsponnen.

Mittlerweile geht die übrige Gesellschaft ins Musikzimmer hinaus. Auf die Bitte der Gräfin setzt sich Hervey an die Harfe und seine Finger fahren feurig über die klangvollen Saiten. Aus einer wilden, melancholischen und gleichwohl unaussprechlich lieblichen Phantasie geht er mit der Kunst des Meisters zu den einfachen und tiefen Akkorden über, welche die Einleitung zu der herrlichen Romanze: »der Seeheld« bilden und mit einem schönen Baryton stimmt er diesen nordischen Gesang an, stark aber melodisch, in wechselndem, steigendem, hinreißendem Leben, so wie es in dem Gedichte selbst lebt. Das Leben der Vorzeit geht in all seiner jugendlichen, wunderbaren Kraft auf. Es weht wie frische Winde durch die Seele der Zuhörer. Es däucht ihnen

. . . . »So lieblich der Wellen Gesang
Die da brausen im schäumenden Meer.«

Ach!

»Sie kommen von fernem, fernem Strand,
Nicht halten sie Fesseln, sie kennen kein Band
Im Meer«

Philipps Augen blitzen bei Eduards Gesang. Auch Klaras frommer Blick glänzt von ungewöhnlichem Gefühl. Nina hat ihre Augenlieder gesenkt und die langen dunkeln Wimper verschleiern den Ausdruck ihres Blicks; 340 sie ist still, aber gewaltig greift der Gesang in ihre Seele. Doch nicht, wie früher einmal. Ein wundersames Gefühl beherrscht sie, aber es ist wohlthuend. Wo haben wir Marie? – Ich schäme mich in diesem Augenblick ein wenig für sie, denn Nichts kann weniger einem Feiertag gleichen, als sie gegenwärtig. Sie will blos für Andere arbeiten und hat sich selbst vergessen. Rußig und warm steht sie am Ofen und backt Brod. Die größte Bestürzung ist auf ihrem Gesichte zu lesen, während sie angstvoll laut für sich hinsagt: »Und die Mädchen sind fort! Das Haus voller Fremden! . . . Die Gräfin! . . . Das Abendessen! . . . Ich hier! . . . Das Brod muß gebacken werden! Und beide Mädchen fort!«

Ich wette mein Exemplar von Shakespeare gegen einen Pfennigpfefferkuchen, daß keine meiner Leserinnen dieß lesen wird, ohne innige Theilnahme für Marie zu empfinden und aus schöner reiner Sympathie auch ein Bißchen Angst um die Herzgrube zu bekommen; um diese jedoch wieder los zu werden, bitte ich sie bloß, mich weiter zu begleiten.

Marie wäre zwischen ihrer Angst und dem Ofen vergangen, hätte sich nicht bald ihr Bruder als ein Engel des Trostes an ihre Seite gestellt und mit guten Worten, thätiger Unterstützung und fröhlichem Scherzen ihr auf einmal allen Schreck benommen. Marie schöpft wieder Muth; – es kann Alles noch gut gehen! – auch wird ihre Backerei vom Glück begünstigt und wahrhaftig, wenn die Brodlaibe im Ofen schwellen, so schwillt auch das Herz der Hausfrau vor Freude. Marie ist sehr vergnügt, daß sie mit ihrem frischen Weißbrod ihre Gäste bewirthen darf und besonders die schöne Nina, der sie mit ächtem Mädchenenthusiasmus Bewunderung zollt. Für sie wird ein besonderes Küchlein gebacken.

Bald trägt Marie im Saale das ländliche Mahl auf. Der Bruder ermuntert und unterstützt sie, schneidet selbst Brod, stellt die Schüssel mit der sauren Milch in Ordnung und sie wird ruhig und munter. 341

Wollt ihr Marie sehen? Sie gleicht tausend Andern: weiß, blond, blauäugig, unbedeutende Züge, ein gutmüthiger Ausdruck; Haut und Kleider benützt, aber noch lange nicht abgenützt: starker Knochenbau, wenig Anmuth, warmes Herz und guter Verstand, worin Freunde, Haushaltung und der Himmel alle Stübchen besetzt halten; fleißig, besorgt, liebevoll, unermüdlich, die Erste auf, die Letzte im Bett; – mit Einem Wort, du erblickst in ihr eine von den Vielen, die nur für Andre leben, eine, die vielleicht dann zum erstenmal an sich selbst denkt, wenn der Herr aller Welten zu ihr spricht: »Du gute und getreue Magd, du bist über Weniges getreu gewesen! Gehe ein zu deines Herrn Freude.«

Aber was sollte wohl diese Freude für sie anders sein, als daß sie freier für diejenigen, die sie liebt, leben und wirken kann!

Doch wir verspäten uns; – nicht so Marie; sie hat den kalten Braten, die dampfenden Kartoffeln, die kernfrische Butter auf den Tisch gestellt; sie hat die Gesellschaft in das Speisezimmer geführt und ladet sie jetzt freundlich und warm, sogar ein wenig schreiend zu ihrem Mahle ein.

Auch hier fand die Gräfin keine ihrer Vorstellungen verwirklicht und sah nicht das Mindeste, worüber sie hätte lachen können. Es war Alles zu anspruchslos und zu gut, zu vergnügt und zu ungezwungen. Das Mahl glich mehr einem idyllischen Feste als der Mahlzeit in »der Gräfin Besuch.« Um die Wahrheit zu sagen, die vortreffliche Milch mit der leckern Sahne schmeckte ihr, so wie allen Andern so gut nach dem warmen Spaziergang, daß sie ihrer Schüssel wirklich eine thätige Aufmerksamkeit widmete. Gleichwohl entging ihr die ungewöhnliche Heiterkeit und Herzlichkeit ihres Wirthes nicht. Seine Augen liefen im Kreise herum, als wollten sie Alle segnen. Während indeß die Gesellschaft ißt, plaudert und lacht, will ich einen kleinen Ausflug machen und ein Wörtchen sprechen mit den 342

Hausvätern.

Du, der du gleich einer mit Unwetter geladenen Wolke an deinem Tische sitzest, auf die Speisen, deine Frau und die Köchin schiltst, so daß deiner Frau und deinen Kindern die Bissen im Halse stecken bleiben; der du diesen das Leben verbitterst und der Bedienung Angst einjagst; der du aus deiner Galle zu jedem Gerücht eine bittere Sauce machst – Schande und Unverdaulichkeit über dich!

Aber

Ehre und langes Leben, guten Magen und alles Gute dir, der du oben an deinem Tische sitzest, klar wie eine Sonne, der du um dich schaust, um den Genuß der Deinigen zu segnen, der du mit deinem freundlichen Blick, deinen gütigen Worten, Scherze und guten Appetit hervorlockst und den Gottesgaben eine köstlichere Kraft, einen höheren Geschmack gibst, als die höchste Kochkunst zu Stande bringen kann. Ehre sei dir! Vergnügen hast du ohnehin. Möge Wohlstand jede Zeit deinen Tisch decken und freundliche Gesichter zu deinen guten Gerüchten lächeln! Ehre und Freude über dich!

Und jetzt zu meiner Gesellschaft zurück. Baron H. ist ungewöhnlich aufgeräumt und stimmt auf einmal zum allgemeinen Schreck ein Lied an, so daß Alle zusammen lachen, nur seine Frau nicht, die sich die Ohren zuhält. Nachdem er ausgesungen, verneigt er sich gravitätisch vor dem schallenden Bravorufen und bittet sofort Nina, auch ein Lied zum Besten zu geben. Nina erröthet und will es ausschlagen, aber aufgemuntert von der Gräfin, die zufällig heiser ist, weil der Baron mit seinem Gesuch sich nicht zuerst an sie gewandt hat, und von allen Seiten mit Bitten bestürmt, willigt sie endlich ein und stimmt nach einigem Zögern mit lieblicher, aber zitternder Stimme das Lied von Franzén an: 343

»Sorg' nicht dem kommenden Tag voraus!«

Hervey fiel mit seinem schönen Tenor ein, im Anfang, wie es schien, nur um Nina zu unterstützen. Sie dankte ihm mit einer Neigung des Kopfes. Ihr Gesang wurde sicherer, ihre Wangen färbten sich, ihre Augen strahlten von Freude. Hervey begleitete, oder vielmehr erhob sie; eine schönere Harmonie hat man nie gehört. Alle Herzen wurden belebt. Unwillkürlich begann die eine und andre Stimme mitzusingen, und hätte die Baronin ihren Mann nicht so nachdrücklich in den Arm gezwickt, so hätte er sich nicht abhalten lassen, aus vollem Hals in die Worte miteinzustimmen:

»Freude und Tugend
Sind ewig verbunden,
Mit Epheu umwunden
Schlürfet die Weisheit vom Tranke der Jugend.«

Beim letzten Vers wurde die Versuchung ganz unwiderstehlich. Alle Ehrfurcht vor der schönen Kunst ward von dem innigen Gefühl der frischen gegenwärtigen Wirklichkeit verschlungen und bei den Worten:

»Nach einem Abend«

kniff die Baronin vergebens ihren Mann in den Arm; er schrie um so lauter:

»Mäßig genossen;«

und nun entschloß auch sie sich, wiewohl nur mit leiser Stimme, mitzusingen. Der Oberst brüllte in einem groben aber guten Baß und die ganze Gesellschaft stimmte in den Chor ein:

»Herzlich geschlossen,
Winkt dir die Ruhe erquickend und labend.«

Wie fröhlich und herzlich man nachher einander beim Abschied die Hände schüttelte, braucht nicht beschrieben zu werden. Doch müssen wir ein Wort sagen von Ninas Abschied bei Herveys Mutter; denn dieß war eine 344 jener stummen Scenen, welche besser als alle Worte die Menschen zu einander führen. Wir haben bereits gesagt, daß die verehrungswürdige Alte wenig Werth auf bloß äußere Vorzüge legte: aber für Schönheit, zumal wenn sie der Ausdruck einer schönen Seele erschien, war sie sogar schwach, und Ninas Aussehen, ihr ganzes Wesen und ihr Gesang hatte diesen Abend den lieblichsten Eindruck auf sie gemacht. Als Nina ihr nahte, um Abschied zu nehmen, schlang die gute Alte sanft ihren Arm um sie, führte sie ein paar Schritte näher zum Fenster und betrachtete sie aufmerksam mit einem Ausdruck des lebhaftesten Interesses. Ninas bescheidene Wangen färbten sich roth, und als die Alte mit einem ernsten und beinahe mütterlichen Ausdruck sie auf die Stirne küßte, da wurde sie von einem wundersamen, weichen und ehrfurchtsvollen Gefühl ergriffen. Die schöne Tochter Sr. Excellenz beugte sich schnell und berührte die Hand der alten Frau mit ihren Lippen.

Dieß war eine Huldigung, von der Jugend dem Alter, vielleicht auch von Nina der Mutter Eduard Herveys dargebracht. Und so schnell ging dieser kleine Auftritt vor sich, daß Niemand ihn sah, außer Hervey. Ein Blitz flammte in seinem dunkeln Auge – dann zog gleichsam eine Wolke darüber. Er blieb mit dem Shawl der Baronin in seinen Händen stehen und vergaß, daß die Besitzerin desselben ihn um ihre Schultern gelegt zu wissen wünschte, bis sie sich selbst umwandte und scherzend zu ihm sagte: »Wenn der Herr Pastor sich vielleicht selbst des Shawls bedienen will, so steht er mit Vergnügen zu Diensten. Ich bitte mir dann nur Ihren Stock dagegen aus.« Hervey lächelte, legte ihr den Shawl um, blieb aber still und gedankenvoll, während er seine Gäste hinausbegleitete.

Der Abend war ungewöhnlich schön, und die Gräfin machte den Vorschlag, auch einen Theil des Heimwegs zu Fuße zu machen. Die ganze Gesellschaft war damit zufrieden, Hervey begleitete sie, wie es schien, ohne recht 345 dabei zu sein. Die Baronin suchte die schlummernde Eifersucht ihres Mannes dadurch zu wecken, daß sie ihn auf Herveys verändertes Wesen aufmerksam machte und versicherte, diese Veränderung habe ihren Anfang in dem Augenblick genommen, da er ihren Shawl in seinen Händen gehabt. Der Baron versprach, ihn ernstlich vor einer so unglücklichen Leidenschaft zu warnen, und im Fall dieß Nichts fruchten sollte, sich auf eine Forderung zu besinnen. Nina war still und gedankenvoll, wie Hervey. Capitain S. hatte ihr seinen Arm angeboten und suchte jetzt vergebens ihre Aufmerksamkeit zu fesseln. Die Gesellschaft ging an einem hübschen mit Blumen geschmückten Häuschen vorüber. »Wer wohnt hier?« fragte die Baronin. »Eine bescheidene alte Närrin« war die Antwort der Gräfin. In diesem Augenblick erschien die Bewohnerin unter der Thüre; eine höfliche, absonderliche, freundliche, sich verneigende und grinsende Gestalt.

Die Gesellschaft grüßte und ging vorüber.

»Diese Frau,« sagte die Gräfin, »hat mir neulich eine unerträgliche Morgenstunde verschafft, aber dennoch einige gute Gedanken eingetragen. Sie sprach mit einem so aberwitzigen Enthusiasmus von ihrer Religion, von ihrem Vertrauen auf Gottes Gnade, ohne welche der Mensch Nichts sei. Sie beschrieb mit einem so hohen Entzücken ihre Glückseligkeit, die hauptsächlich in dem Alleinbesitze eines Stübchens, in einer Haushaltung, wo sie für sechs Schillinge des Tags ihre Nahrung bekommt, sowie in den Geschenken, die sie zuweilen von ihren Gönnern erhält und hie und da in einer freundlichen Einladung zu einem Mittagessen u. s. w. besteht. Sie schloß damit, daß sie sich unter warmen Freudethränen für den glücklichsten Menschen auf Erden erklärte.

»Als sie fort war, konnte ich nicht umhin, eine Art Mitleid für diesen glücklichsten Menschen auf Erden zu empfinden und kam zu der Ueberzeugung, daß ich weit lieber in Folge eines großen und edlen Unglücks leiden, als in diesem armseligen Glücke mein höchstes Gut 346 finden möchte. Nie war es mir so klar, daß das, was der bessere Mensch im Leben sucht, nicht Glückseligkeit ist, sofern man darunter den Genuß des Bequemen und Angenehmen versteht. Das Glück, das eine Seele sucht, ist Vollendung, ist Entwicklung ihres edleren Lebens, ist das Gute, ist Gott.Junger Leser! Wunderst du dich vielleicht, daß Gräfin Natalie eine solche Sprache führt? Wunderlichkeiten dieser Art werden dir noch oft in der Welt vorkommen. Dieses Glück schließt ein Leiden nicht aus. Freude und Schmerz sind das Flügelpaar der Seele: durch beide erhebt sie sich zur Veredlung. Irdische Genüsse sind für eine solche Seele Nichts und gegenüber von ihrem Leben erscheint das Glück der Frau L. als bloße Armseligkeit!« Hervey erwachte aus seinen Gedanken, denn er konnte keine Ungerechtigkeit ertragen, selbst nicht gegen das geringste Geschöpf.

»Ich glaube,« sagte er sanft, »daß Sie zu streng gegen die Alte sind. Ein so unschuldiges Glück, wie das ihrige, das sich, wie Sie selbst sagen, hauptsächlich auf Gottesfurcht gründet, verdient wahrhaftig keine Verachtung. Ihre Vergnügsamkeit bei einem so geringen Loose kann bloß von denjenigen verstanden werden, die den größern Theil ihres Lebens mit Mangel und Noth gekämpft haben. Und wie? Ist es nicht vielleicht der Wille des Allgütigen, daß wir uns auch auf Erden glücklich finden und in jeder Beziehung heimisch fühlen sollen? Ja wie sollten wir uns dieses Gefühls erwehren können, wenn wir in Allem dem göttlichen Gebot gegenseitiger Liebe nachleben, deren Frucht Friede und Freude nicht bloß im Herzen, sondern auch in der Hütte ist, die himmlisches und irdisches Leben mit einander versöhnt? Wenn in dem einsamen Stübchen, wo ein einfältiges, aber frommes Menschenkind sein stilles Leben abnüzt, ein hereindringender Sonnenstrahl, oder eine Tasse Kaffee schon einen Feiertag macht, so ist dieser Lebensgenuß nicht minder gut, als die Freude dessen, der beim 347 Zauber von Liebesliedern Traubensaft trinkt oder aus wollustvoller Seligkeit an einer geliebten Brust weint. Die Weisesten und Besten der Erde haben diese Genüsse nicht verschmäht. Hauptsächlich der Grad des zeitlichen Genusses und sein Verhältniß zu wichtigeren Beziehungen ist es, was sein Gutes oder Böses bestimmt: nur wenn er ein höheres Leben verzehrt, wird er niedrig und verächtlich. Wenn ich zu lange gepredigt habe,« schloß Hervey lächelnd, »so verzeihen Sie.«

»Die Predigt war gut,« sagte die Baronin, »und ich für meinen Theil werde mich wohl daran erinnern, besonders, wenn ich Frau L. nächstens wieder zu Gesicht bekomme. Aber lieber Pastor, verschonen Sie mich mit jeder weitern, als christlichen Freundschaft gegenüber von solchen bescheidenen Leuten, für die Sie den Fürsprecher machen. Ich sage Ihnen ehrlich und offen, daß ich mich nie mit der Gesellschaft von Leuten belästigen werde, die ihre Bescheidenheit so unerträglich macht.« Hervey und auch ihr Mann machten ihr allerhand freundliche Vorstellungen über diese Unduldsamkeit. Die Baronin verblieb heftig bei ihrer Verweigerung nachzugeben, ja sie wolle sogar auf den Himmel verzichten, wenn die Engel langweilig seien.

Hervey lachte und bat sie deßhalb ruhig zu sein. »Der feine, der holde Scherz,« sagte er, »der den Mund zur Wärme des Herzens lächeln läßt, die milde lebendige Satyre des Lebens ist gewiß nirgends so heimisch als auf den Lippen eines Engels.«

»Das freut mich, Pastor, auch finde ich es ganz klug,« sagte die Baronin und ohne es zu ahnen lächelte sie selbst so milde, wie je ein Himmelskind.

Klara nahm die Hand ihrer Freundin und sagte lächelnd: »Bist du in deinem Haß gegen die Langweiligen jederzeit so beständig gewesen?«

»Ja, allerdings,« antwortete die Baronin bestimmt, »nur ein einzigesmal war ich kurzsichtig und irrte mich in der Person. Langweiliges Mädchen, du weißt, daß 348 ich mich noch nie mit Jemand so gut amüsirt habe, wie mit dir.«

Baron H. hustete ein wenig fragend.

»Und mit Gustav,« fügte die Baronin hinzu, indem sie auch ihrem Manne herzlich die Hand reichte.

Die Baronin war jetzt des Gehens müde. Man erwartete die Wagen. Hervey half den Damen einsteigen und nahm Abschied.

Sich glücklich fühlen, sich auch auf der Erde im Leben heimisch fühlen, dachte Nina, o wie göttlich schön muß das nicht sein!

Schnell rollten die Wagen dahin, schnell fuhr Nina durch die bald freundliche, bald wilde Gegend. Es kam ihr vor, als sollte ihr Leben auch so dahinfliehen und sie sich nie heimisch fühlen auf der Erde.

Philipp S. bückte sich und pflückte ein Blümchen, das sich langsam emporrichtete, nachdem Ninas leichter Fuß es verlassen hatte. Er küßte es und verbarg es in seiner Brust. Die beiden Freunde gingen jetzt zurück und schlugen der Nähe wegen einen Fußweg über eine Wiese ein. Philipp sprach mit Hervey von seiner Zukunft, von seiner bevorstehenden Reise nach Stockholm, wo er das reiche Erbe seines Oheims in Empfang nehmen werde. Das Rollen eines Wagens unterbrach das Gespräch und veranlaßte die Freunde, nach der Landstraße hin zu sehen, wo ein Reisender in einer leichten Kalesche schnell dahinrollte. Er schien die Fußgänger ebenfalls bemerkt ^zu haben. Er ließ anhalten, sprang heraus und ging den beiden Freunden entgegen.

»Ach!« sagte Philipp lebhaft, »das ist ja Freund Löfvenheim, der neue Gutsbesitzer hier in der Gegend. Er hat versprochen, einige Tage bei mir zuzubringen. Komm, Eduard, ich muß euch mit einander bekannt machen.«

Eduard hatte inzwischen den Ankömmling scharf ins Auge gefaßt und sagte hastig: »Jetzt nicht! Ein 349 andermal! Gute Nacht.« Er machte seinen Arm aus Philipps Arme los, wandte sich um und ging.

Etwas verwundert über diese ungewöhnliche Unfreundlichkeit ging Philipp Löfvenheim entgegen und bewillkommte ihn herzlich. Nach den ersten Freundschaftsbezeugungen fragte dieser:

»Wer war der Mann, der so eben mit dir ging und dich so hastig verließ? Sein Gang, ein gewisses Werfen des Kopfes erinnert mich merkwürdig an Jemand, den ich früher sehr gut kannte.«

Philipp nannte Eduard Hervey und ergoß, wie immer, wenn die Rede auf ihn kam, sein Herz in den wärmsten Lobsprüchen auf ihn. Löfvenheim hörte ihn schweigend an und sagte dann bloß: »Dann habe ich mich wohl geirrt. Es soll mich freuen, ihn noch mehr zu sehen.«

In diesem Augenblick hörte man ein heftiges Kindergeschrei und bald darauf den Ruf: »Hülfe! Hülfe! Rettet den Knaben! Ach er kommt um! Das Mühlrad! . . . .«

»Es ist am Wasserfalle,« rief Philipp; »gewiß ist ein Kind hineingestürzt.« Sie sprangen beide nach der Seite hin. Die Weiber riefen: »Ach er wird zermalmt, er wird zermalmt! Gott steh' ihm bei!« Die Freunde kamen gerade in dem Augenblick an, wo Eduard Hervey in augenscheinlicher Lebensgefahr mit dem Strom kämpfend einen kleinen Knaben ergriff, der eben im Begriff war, vom Mühlrad zermalmt zu werden. Zwei Minuten nachher stand er am Ufer, triefend und keuchend, aber glücklich. Ein ältlicher kleiner Mann von gelber Gesichtsfarbe stand vor ihm. Der Mann war außer sich vor Angst und Freude und konnte kaum die Worte stammeln: »Mein Kind! Mein Kind!« Eduard nahm den noch leblosen Knaben auf seinen Schooß und rieb ihm mit der Hand Brust und Magen, während er aufmerksam sein todtenbleiches Gesicht betrachtete. Während dieser Zeit war Eduard selbst, ohne es zu wissen, einer scharfen Prüfung ausgesetzt. Löfvenheim, dessen Wesen und Blick sich durch seinen kalten, ruhigen, beobachtenden Charakter 350 auszeichnete, heftete unabläßig und forschend seine dunkeln, grauen Augen auf ihn. Eduard hatte, bevor er sich in den Strom gestürzt, seinen Rock abgeworfen. Seine Brust war ganz offen, eine große, tiefe Narbe zeigte sich darauf. Löfvenheims Blicke schweiften von Eduards Gesicht auf seine Brust herab und hefteten sich wie scharfe, durchbohrende Pfeile auf die Narbe. »Er ists,« sagte er halblaut vor sich hin, »ja er ists!«

Inzwischen war es Eduard gelungen, das Kind ins Leben zurückzurufen. Ein Strom Wasser lief ihm aus dem Munde, seine Brust hob sich gewaltsam und es öffneten sich schöne, blaue Augen. Mit einem Freudenschrei stürzte der Vater vor dem Knaben auf die Kniee. Eduard übergab ihm das gerettete Kind, nebst einigen Ermahnungen in Betreff seiner weitern Verpflegung. Der Mann hob nun seine Augen von dem Kind zu seinem Retter auf, schien aber die Worte, die dieser sprach, nicht zu verstehen und der Dank erstarb auf seinen Lippen; seine Blicke wurden stier, während sie forschend auf Herveys Gesicht geheftet waren; eine noch todtenähnlichere Blässe, als vorher, verbreitete sich über sein mageres Gesicht; convulsivische Zuckungen verzogen ihm Mund und Wangen.

Hervey mußte jetzt seinem Freund Philipp einige Aufmerksamkeit schenken, der ihn mit Thränen in den Augen feurig in seine Arme schloß und zu ihm sagte: »Gott sey Dank, du hast gerettet und du bist gerettet! Eduard, erlaube mir, dich mit meinem Freund, Karl Löfvenheim, bekannt zu machen. Er wünscht sehr, dich kennen zu lernen.«

»Es freut mich, Herr Pastor, Zeuge Ihrer heldenmüthigen That gewesen zu sein,« sagte Löfvenheim mit kaltem Blick und Ton, indem er sich verbeugte.

»Ich that bloß, was Sie an meiner Stelle auch gethan haben würden,« antwortete Hervey einfach und freundlich, sich ebenfalls verbeugend; sodann warf er schnell seinen Rock über sich. 351

»Eduard, iß morgen mit uns zu Mittag,« bat Philipp herzlich.

»Danke, Philipp, ich kann morgen nicht. Ein wichtiges Geschäft! . . . Ein andermal! Gute Nacht, gute Nacht!« Er reichte Philipp die Hand, grüßte Löfvenheim freundlich und ging. Er sah sich noch einmal nach dem Kind und seinem Vater um; allein sie waren verschwunden. Der Mann hatte sich mit allen Zeichen des Schrecks entfernt, indem er in aufgeregtem Tone vor sich hinsagte: »Er ists! Ja er ists!«

 


 


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