Fredrika Bremer
Nina
Fredrika Bremer

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vom Heirathen.

Was weißt du aber, du Weib, ob du den Mann werdest selig machen? Oder du Mann, was weißt du, ob du das Weib werdest selig machen?
                                      Paulus

Fräulein Margarethe war jetzt so weit wieder hergestellt, daß sie Besuche empfangen und an der Unterhaltung Theil nehmen konnte. Alle ihre Freunde und Bekannten beeilten sich, sie aufzusuchen. Eines Tags kamen zwei junge Damen, Schwestern und beide Bräute. Eva und Aurora waren anmuthige, heitere Geschöpfe, lieblich für das Auge, angenehm für das Ohr. Frisch wie die Rosen, gut gekleidet, gut gepflegt, munter wie die 119 Bachstelzen, und gut wie Gold – mit einem Wort, sie waren allerliebste köstliche Mädchen und dabei voll Leben, voll An- und Aussichten – ich sage nicht, Einsichten. – Sie wollten die Welt verbessern, die guten jungen Mädchen, die Welt, die ihnen nicht auf sichern Füßen zu stehen schien; sie wollten die Menschen verbessern und veredeln, und gleich mit ihren sündhaften Bräutigamen den Anfang machen, sodann wollten sie die Gesellschaft, die Erziehung und den Staat umorgeln und hatten zu allen diesen Unternehmungen den allerbesten Muth von der Welt. Fräulein Margarethe ergötzte sich ungemein an ihrem Eifer und brachte sie allmählig so weit, daß sie ihre Grundsätze, ihre Ideen und Plane ausführlich entwickelten. Da kamen denn allerhand Gesellschaften zur Unterstützung der Nothleidenden zum Vorschein, Liebhabertheater, Erziehungsvereine, Subscriptionen zu gemeinnützigen Unternehmungen, besonders aber zu Tapisseriearbeiten, Bazaren u. s. w. Alles in einem wunderlichen genialen Gewirre. Dort wurden Fonds aus der Luft gegriffen, Schlösser in die Luft gebaut; dann erfolgte auf den Impuls einer Fliege eine ungeheure Bewegung; für das Letztere mußte Archimedes gut stehen und ihre königlichen Hoheiten der Kronprinz und die Kronprinzessin mußten Alles zusammen unter ihren besondern Schutz nehmen. Die jungen Mädchen wollten mit aller Gewalt verbessern und bilden, recht thätige Bürgerinnen und Staatswirthinnen werden. Fräulein Margarethe lachte herzlich über ihre Riesenunternehmungen, deren schwache Seiten sie auf eine leichte und lustige Art hervorzukehren verstand, und die fröhlichen eifrigen Kinder mußten selbst von Herzen mitlachen, ohne jedoch einen Finger breit von ihren ernstlich gemeinten Planen abzuweichen. Klara dagegen sah bedrückt aus, sie lächelte zuweilen, seufzte aber öfter.

»Meine beste Klara,« sagte Fräulein Margarethe endlich, »du mußt bei den Projecten unserer jungen Freundinnen nicht so stumm dasitzen. Vielleicht kommst 120 auch du bald dazu, in den heiligen Ehestand zu treten, und gedenkst dann gewiß, wie Eva und Aurora, deinen Mann und dein Vaterland zu cultiviren.«

»Ach Gott bewahre mich!« brach Klara aus, mit einem Seufzer, der aus dem Mittelpunkt ihres Herzens kam.

»Wie so, wie so?« riefen Eva und Aurora mit Einem Mund und Einer Verwunderung.

»Meine besten Freundinnen,« sagte Klara erröthend, aber mit Gefühl, »ihr glaubt einer recht angenehmen Zukunft entgegen zu gehen, ich aber glaube, daß ihr nur Kummer und Verdruß finden werdet; ihr glaubt gute Werke zu stiften, ich aber glaube, daß ihr nur Unheil stiften werdet.«

»Wie so, wie so?« riefen Aurora und Eva. Fräulein Margarethe drehte sich im Bette um, aus Freude über die Kontraste.

»So sprich doch, wie meinst du das? Was willst du?« riefen Eva und Aurora.

»Es wird mir schwer, meine Gefühle recht auszudrücken,« sagte Klara, »und vielleicht habe ich auch keine rechte Einsicht in die Sache; allein ich zweifle, daß eure Unternehmungen viel dazu beitragen werden, die Welt zu verbessern und euch selbst in eurem Hause glücklicher zu machen; ja ich muß gestehen, ich erschrecke schon bei dem bloßen Gedanken an all diese Anstalten und dieses Wesen. Meiner Ansicht nach wäre es besser, man machte sich weniger außer dem Hause zu schaffen, und es sorgte Jeder nur drinnen getreu und gut für sich und die Seinigen. Zu euern Tapisseriearbeiten z. B. für die Nothleidenden kommen schon die Materialien weit höher, als sie billigerweise verkauft werden können. Diese Subscriptionen, diese Bazare, die ihr so hoch preiset, scheinen mir, wenn ihr es nicht übel nehmen wollt, weiter Nichts zu sein, als vornehme Betteleien. Vielleicht habe ich Unrecht; allein ich sage einmal, wie ich denke.«

Aurora und Eva wandten eine Masse Beredsamkeit auf, um Klara zu beweisen, wie unbeschreiblich beschränkt 121 und einseitig ihre Ansichten seien. Inzwischen kam eine Dame, die von den jungen Schwestern, deren Verwandte sie war, und auch von Fräulein Margarethe, welche sie hochschätzte, mit großer Freude begrüßt wurde.

Eleonore L. war nicht mehr jung, nicht schön, nicht elegant; allein sie war auch nicht das Gegentheil, d. h. sie war nicht alt, nicht häßlich, nicht schlecht gekleidet. Sie war sowohl in ihrem Aeußern, als in ihrem Innern unendlich comfortabel; nicht unzufrieden mit ihrer Stellung im Leben, aber auch nicht geradezu abgeneigt, sie zu verändern. An Gelegenheit dazu fehlte es ihr nicht, denn ein ganz achtungswerther Mann bot ihr zum zweitenmale seine Hand an. Sie konnte nicht nein sagen und wollte doch auch nicht ja sagen. Sie war voller Wenn und Aber und befand sich seit einiger Zeit in der nicht seltenen Lage, wo das ganze Wesen des Menschen in die Worte, ja, nein, ja! und nein, ja, nein! zusammengefaßt und zwischen dieselben getheilt zu sein scheint.

Die Cousinen, welche diesen Stand der Dinge und ihre Bedenklichkeiten wußten, fingen zuerst an, leicht und scherzhaft um den wichtigen Gegenstand herumzuhüpfen: allmählig aber gewannen sie festeren Fuß, und wollten Eleonore auf der Stelle bewegen, sich für die Ehe zu entscheiden, welche sie für den glücklichsten Zustand auf Erden erklärten und für ein Verhältniß, ohne welches man seinen Mitmenschen nicht nützlich sein könne.

Eleonore geberdete sich bei dieser Treibjagd im Anfang wie ein aufgescheuchter Hase, ließ sich aber doch allmählig auf eine Unterhandlung ein, d. h. sie äußerte ihre Zweifel und Bedenklichkeiten. Diese wurden jedoch mit Eifer verworfen.

»Das Glück eines edlen Mannes machen!« rief Aurora.

»Aber er könnte auch ohnedieß glücklich genug werden,« sagte Eleonore.

»Einen Wirkungskreis haben: Leben, Nutzen und Freude um sich herum verbreiten können!« rief Eva. 122

»Ja, wenn man wirklich Etwas ausrichten könnte!« seufzte Eleonore.

»Mitbürger zur Welt bringen,« brach Fräulein Margarethe los.

»Und sie gut erziehen!« rief Aurora.

»Ach!« seufzte Eleonore, »gerade dieß ist das Allerschlimmste, schon der Gedanke daran macht mich muthlos. Wie kann man zum Voraus überzeugt sein, seine Kinder glücklich zu machen und ihnen eine wirklich gute Erziehung geben zu können?«

»Was sagst du, Klara?« fragte Fräulein Margarethe. »Sage uns, wie du in diesem äußerst verwickelten Falle entscheiden würdest.«

»Ja sprich, sprich!« riefen die beiden Schwestern.

»Dann muß ich,« sagte Klara, »erst um Erlaubniß bitten, einige Fragen an Fräulein Eleonore zu richten.«

»Gerne,« antwortete Eleonore, »auch verspreche ich aufrichtig und so gut ich kann zu antworten.«

»Nun wohlan denn, lieben Sie den in Frage stehenden Freier von ganzem Herzen?«

»Nein . . . ja . . . nein! Ich hege gerade keine Liebe für ihn, aber die allervollkommenste Achtung, Freundschaft . . .«

»Nun gut; meine andere Frage ist die: Liebt er Sie von ganzem Herzen? Ist es zum Glück seines Lebens nothwendig, daß er sie zur Frau bekommt?«

»Ja . . . nein . . . ja! Ich glaube allerdings, daß er mich aufrichtig liebt; allein ich glaube in der That auch, daß er mit einer andern eben so glücklich werden könnte.«

»Erlauben Sie mir noch die dritte Frage: Sind Sie mit Ihrer Stellung im Leben unzufrieden? Behagt Ihnen Ihre Umgebung nicht?«

»Nein . . . ja . . . nein! Ich kann nicht sagen, daß ich mit meiner Umgebung unzufrieden wäre. Im Gegentheil befinde ich mich so gut, wie die meisten Menschen, die recht gerne so lange auf Erden leben, als es Gott gefällt.« 123

»Jetzt wird es mir übel, Eleonore!« rief Fräulein Margarethe ungeduldig. »Wie kann man so wenig wissen, was man will und was man denkt?« Aber Klara sagte mit großem Ernst: »Nun wohlan, Fräulein Eleonore, mein Rath ist der: heirathen Sie nicht.« Dann setzte sie mit vieler Innigkeit hinzu: »Es bringt so wenig Schaden, wenn man es unterläßt.«

»Ja, Sie haben gewiß Recht,« seufzte Eleonore, »aber man möchte mit seinem Leben doch auch einigen Nutzen bringen auf der Welt, man möchte doch auch für Jemandens Glück leben! . . .«

»Und wie kann man gewiß sein, dieß durch die Ehe zu erreichen?« sagte Klara mit einem bei ihr seltenen Eifer und Thränen in den Augen. »Ist nicht das Leben voll Unruhe, voll Leiden und traurigen Ereignissen? Unser eigenes Leben, unsere Person, kann ja so leicht für Denjenigen, mit dem wir uns verbunden haben, eine Quelle des Leidens werden. Welches Feld für das Unglück, welcher Spielraum für Leiden aller Art eröffnet sich nicht mit der Ehe? Und dann die Kinder . . . Ach warum noch mehr Geschöpfe in eine Welt setzen, wo schon so viele mit Elend und Ueberdruß streiten?«

»Man gibt ihnen eine gute Erziehung, man bildet sie aus, man verschafft ihnen ein gutes Auskommen,« riefen Aurora und Eva.

»Weiß man aber auch, ob man das kann?« sagte Klara mit einem Gefühl, welches die schmerzlichsten Lebenserfahrungen verrieth. »Im Leben und der Gemüthsart der Eltern kann Etwas liegen, was das Glück der Kinder auf immer zerstört. O es ist eine schreckliche, eine schauderhafte Sache, wenn das Kind in seinem Herzen zu seiner Mutter spricht: Warum hast du mir das Leben gegeben? Und wie weiß man, wenn man ein Kind zur Welt bringt, ob man auch für sein Glück sorgen kann? Vielleicht stirbt man bald und hinterläßt dann bloß mutterlose Kleinen in der Armuth. Ach nein! heirathen Sie nicht! heirathen Sie nicht! Es führt nur 124 zum Unglück, zum Elend. Gibt es dessen nicht schon genug auf der Welt? Ist es nicht thöricht, darauf hinzuarbeiten, und zwar ohne Neigung darauf hinzuarbeiten, die Summe dieses Unglücks noch zu vermehren?«

»Aber man stirbt nicht,« riefen Aurora und Eva, »man lebt in blühenden Umständen.«

»Das mag sein,« sagte Klara eifrig. »Man lebt, man ist reich. Ist man damit auch des Glückes, der Ruhe gewiß? Bleibt ein Mann sich immer gleich? Ist er überhaupt der Mann, Sie glücklich zu machen? Wissen Sie, was es heißt – eine unglückliche Ehe,« fuhr sie immer gerührter fort. »Sehen Sie« – dabei deutete sie aufs Fenster – »sehen Sie diesen grauen Schnee- und Regentag, wie trübe, wie durchdringend naßkalt! So ist das Leben der Weiber in einer unglücklichen Ehe. Die Sonne, die Blumen, alles Schöne und Liebenswürdige im Leben verwandelt sich auf der Schwelle ihres Hauses – Alles überzieht sich mit Schimmel und so vergramt die Seele, so erfriert der Körper, so verwelkt alle Hoffnung und alles Leben vor dem eisigen Hauch oder der stürmischen Laune eines Mannes. Der Mann kann in seinem Hause ungestraft den Tyrannen machen und dann wird sie zum Wurm, zur Schlange oder zum Engel. Zum Engel, ja wenn sie an ihren Leiden sterben darf, zum Engel, wenn sie Alles kann um . . . . doch nein, das ist zu hart, zu bitter . . . Gott helfe ihr, daß sie sterben kann! Ach, wagen Sie dieses schreckliche Spiel nicht! Heirathen Sie nicht, heirathen Sie nicht!« Klaras Thränen floßen.

Fräulein Margarethe hatte sich voll Verwunderung über diese lange und heftige Rede im Bette aufgerichtet, und indem sie sich auf ihren einen nunmehr vollkommen wiederhergestellten Arm stützte, betrachtete sie die Rednerin aufmerksam, und sagte dann: »Bist du toll? Willst du in allem Ernst die Leute vom Heirathen abhalten? Mein gutes Kind, wie soll da die Welt auf eine anständige Weise fortbestehen, oder vielleicht meinst du, es wäre 125 das Beste, wenn sie wirklich einmal an einem schönen Vormittag aufhören würde zu sein?«

Klara sah aus, als ob sie hierin gerade kein Unglück finden würde, dann sagte sie bloß: »Diejenigen, die einander von Herzen lieben, mögen immerhin heirathen.«

»Nun, Gott sei gelobt!« sagte Fräulein Margarethe, »so sehe ich doch einmal einen Ausweg. Aber alle Andern, welche nicht das Glück haben, in einander vernarrt zu sein? –«

»Diese mögen den Ersteren bei ihrer Haushaltung und Kindererziehung helfen, überhaupt allen denen beistehen, die sich nur mit Seufzen und knapper Noth durch die Welt schlagen.«

»Also, so eine Art Lastträgerinnen und Aushelferinnen,« sagte Fräulein Margarethe bedenklich; »so weit ich es verstehe, sollen diese ehrlichen Leute unermüdlich für Andere arbeiten und gar nicht für sich selbst leben. Aber Klara, welche Freude glaubst du wohl, daß eine solche arme Aushelferin in der Welt haben werde? Und es ist doch ganz gewiß der Wille des Herrn, daß Jeder sein Maaß der Freude haben soll.«

»Ich weiß nicht,« antwortete Klara seufzend und mit feuchten Augen; »ich meine, es sollte sich dann weit mehr Freude und weit weniger Leid im Leben finden. Es gleicht mehr einem Jammerthal als einem Freudensaal; allein es ist einmal eine Prüfung. Einst wird Alles klar, Alles gut werden, wenn sie vorüber ist. So wie es übrigens gegenwärtig auf der Erde aussieht, scheint mir die Alleinstehende die Glücklichste zu sein. Sie hat nur für sich selbst zu sorgen: sie kann ihre Last, ihr Leiden allein tragen, ohne Andere zu beunruhigen und zu belästigen. Sie kann so still, so still durchs Leben gehen; sie braucht Niemanden zu beschweren, braucht nicht zu conversiren und zu repräsientiren, braucht nicht durch innige Freuden oder tiefe Bekümmernisse fest mit dem Erdenleben zu verwachsen; sie kann sich leicht hindurchschleichen. Sie braucht so wenig für sich selbst; sie 126 kann Alles, was sie hat, verschenken, sie braucht Niemand gefallen zu wollen, als Gott. Ach was thut es denn, wenn man alt wird, wenn man zusammenschrumpft und alle äußeren Reize verliert? Man braucht sein Glück nicht von der launischen Liebe der Menschen, nicht von den Lebensmitteln der Gesellschaft abhängig zu machen; man wartet nicht auf ihren Wink, um sich zu entfernen – man geht unbemerkt dahin; – ein Plätzchen, um sein Haupt niederzulegen, wenn es Abend wird, findet sich immer und überall; ob es ein weiches Kissen ist oder ein Bund Stroh, das macht nicht so viel aus; man ist allein, man hat bloß für sich selbst Rede zu stehen und sucht nichts Anderes, als den Weg zu seinem Gott!«

Klara hatte ohne Heftigkeit, aber mit tiefer und stiller Rührung gesprochen. Fräulein Margarethe standen die Thränen in den Augen, indeß sie fortfuhr, die Rednerin mit Verwunderung zu betrachten. Einige Worte warmen Gefühls lagen ihr auf der Zunge; allein sie unterdrückte diese Bewegung schnell, legte sich ruhig zurück und sagte bloß:

»Es scheint also, daß du trotz deiner gnädigen Heirathserlaubniß für zärtlich liebende die Sache dennoch für eine halbe Thorheit ansiehst und die höchste Weisheit darin findest, daß man ledig bleibe und sich so wenig als möglich mit dieser Welt bemenge.«

»Ja, das ist wahr,« sagte Klara und nähte wieder mit allem Eifer.

Die drei Cousinen sahen zuerst Klara, dann einander selbst voll Verwunderung an und öffneten Alle zugleich zu verschiedenen Ausrufungen den Mund, als Fräulein Margarethe mit der Hand ein Zeichen machte, ihre Stimme erhob und also sprach:

»Hört mir zu, ihr jungen Mädchen, und besonders du, Klara, höre mir zu. Ich will euch eine Geschichte erzählen.

Sie ließ sich von Klara die Kissen höher legen, nahm 127 eine bequeme, halb sitzende Lage ein und begann folgendermaßen:

Wer die Entstehung dieser Geschichte zu wissen wünscht, der schlage des geistreichen Bulwer »Pilger vom Rhein« auf dann kann er auch über die Nachahmung, sowie über die wesentlichen Abweichungen sowohl in der Idee, als in der Ausführung ein richtiges Urtheil fällen.Die Tugenden bekamen es eines Tages satt, immer bei dem Bischof in Skara zu wohnen, und beschloßen daher eine Reise zu unternehmen, um frische Luft zu schöpfen. In dem Augenblick, wo sie sich an den Bord eines hübschen Schiffchens begeben wollten, kam eine arme Frau mit einem bleichen Kind auf dem Arme und begehrte ein Almosen. Die Barmherzigkeit steckte alsbald die Hand in ihre Ridicüle, und nahm ein Zwölfschillingsstück heraus, allein die Sparsamkeit hielt ihr die Hand zurück und flüsterte ihr zu: »Welche Verschwendung! Gib ihr eine Anweisung auf die Armensuppe.«

Die Vorsicht, die immer welche in ihrer Tasche hatte, war, nachdem sie nähere Untersuchungen eingezogen, bereit ihr die Anweisung zu geben; die Barmherzigkeit, durch einen Wink vom Edelmuth aufgemuntert, ließ ihr Zwölfschillingsstück ebenfalls in die Hand der armen Frau gleiten: der Eifer überreichte ihr ein Exemplar vom Pfenningmagazin und die Bettlerin entfernte sich glücklich und dankbar, obgleich sie die letzte Gabe etwas kaltsinniger aufgenommen hatte.

Bald wurden die Tugenden von spielenden Wogen und schmeichelnden Winden, unter erbaulichen Gesprächen über die letzte Predigt des Bischofs weiter getragen: allein ein finsteres Gewölke stieg auf und die Vorsicht, die eine neue Haube hatte, drang darauf, man solle ans Land setzen und Schutz vor dem kommenden Unwetter suchen: der Muth war geneigt, der Gefahr zu trotzen, allein die Klugheit schlug sich aus Seite der Vorsicht, und so wurde beschlossen aufs Land loszusteuern. Auf einmal bemerkten die Tugenden ein Boot, welches 128 gerade auf das ihrige zukam und äußerst muntere Passagiere an Bord hatte, die einen fürchterlichen Lärm verführten. Es war ein kleines Gesellschäftchen von Lastern, welche die gute Laune zu sich bekommen hatten, und nun ausschweifend lustig waren. Beim Vorüberfahren versetzten sie – absichtlich, wie es schien – dem Fahrzeug der Tugenden einen so heftigen Stoß, daß es nahe daran war, umzuschlagen. Der Muth brauste auf, griff ins Boot der Laster und war im Begriff, handgemein zu werden, als schnell die Demuth dazwischentrat und mit ihren beiden Wangen die Ohrfeigen auffing, welche die Gegner einander zugedacht hatten. Dieß gefiel der guten Laune so wohl, daß sie schnell einen Sprung in das Boot der Tugenden hinübermachte; dabei versetzte sie dem Fahrzeug der Laster einen so gewaltigen Stoß, daß es um ein Kleines versunken wäre und sich unter großer Bestürzung der Passagiere entfernen mußte. Die Wahrhaftigkeit und der Eifer hielten sich bereit, ihm eine Salve Grobheiten mit auf den Weg zu geben, allein der Edelmuth winkte ihnen zu schweigen, denn die Schlechten seien schon durch ihre Schlechtigkeit genug gestraft. Mittlerweile hatte sich das drohende Gewölke verzogen und die Reise wurde unter den angenehmsten Gesprächen von der Welt fortgesetzt.

So reisten die Tugenden lange Zeit mit einander und besuchten mehrere Städte. Ueberall, wo sie verweilten, wurde bald ein großer Segen verspürt. Der Handel blühte, die Gesellschaften wurden munter, eine Menge Ehen kamen zu Staude und man wußte nicht, wie es zuging, daß man auf einmal so angenehm und behaglich auf Erden leben konnte.

Eines Abends brüsteten sich die Tugenden nicht wenig damit, als sie in der guten Stadt Jönköping Thee tranken und Pfefferkuchen dazu aßen. Sie schwatzten ein Langes und Breites über ihren glücklichen Einfluß auf die Menschen, und die Klugheit hätte gerne eine kleine Thronrede gehalten, wenn die Demuth sie nicht 129 so beweglich angeblickt hätte, als ein Mitglied der Gesellschaft die Motion machte, sie könnten noch weit mehr Gutes auf Erden stiften, wenn sie nicht so zu sagen auf einem Haufen reisen, sondern sich wie die Apostel in alle Welt zerstreuen und ausgehen würden, um zu predigen. Dieser Vorschlag wurde mit lautem Beifall aufgenommen. Indeß muß ich bemerken, daß die Klugheit und Mäßigkeit nicht zugegen waren; sie hatten sich unmittelbar vor dem Vortrag der Motion mit einander hinwegbegeben, um Zucker und Kaffee für die gemeinschaftliche Haushaltung einzukaufen. Als sie zurückkamen legten sie sogleich kräftige Verwahrung gegen den Beschluß ein, allein der Eifer und der Muth schrieen so laut, daß die leiseren Stimmen kaum gehört wurden, und als der Edelmuth vom Eifer hingerissen gleichfalls für die Trennung stimmte, so wagte es die Vorsicht nicht mehr, ihre Turteltaubenstimme zu erheben, sondern biß auf ihre Nägel, schwieg und ging endlich aus, um ein Paar neue Schuhe zu kaufen.

Tags darauf trennten sich die Tugenden und zogen jede für sich in die Welt hinaus, nachdem sie die Verabredung getroffen hatten, im nächsten Jahre an demselben Tage auf dem Ritterhausmarkte in Stockholm bei der Statue Gustav Wasa's wieder zusammen zu kommen und eine Plenarversammlung zu halten über ihre eigenen Angelegenheiten und den Zustand ihres Reiches – des Guten. Der Muth schwärzte seinen Schnurrbart mit Höllenstein und schlug sich südlich. Unterwegs traf er den Ritter Don Quixote, der ihn aufforderte den Ehrgeiz des so lange unterdrückten weiblichen Geschlechts zu wecken und es zu tapferer Selbstvertheidigung aufzumuntern. Dieß behagte dem Muth ungemein. Während sich die beiden Ritter über die ehrenvolle Verwandlung des bisher so genannten schwächeren Geschlechtes besprachen, ritten sie an einer Kirche vorbei, aus welcher eben ein Brautzug kam. Die Braut war ein ausgezeichnet schönes junges Weibchen und schien mit dem Muth nicht 130 ganz unbekannt zu sein, denn sie winkte ihm zu als sie in den Wagen stieg; dem Muth aber gefiel dieß so wohl, daß er sie sogleich auserkor, ein Muster für ihr Geschlecht zu werden, und die erste Gelegenheit wahrnahm, in ihr Haus zu kommen, wo er sich bald heimisch machte.

Wie es nachher in dieser jungen Haushaltung zuging, davon wissen alle Gesellschaften in der Stadt X zu erzählen. Man sagt, die junge Frau sei beinahe unmittelbar nach der Trauungsstunde wie umgewandelt gewesen und der Mann sei dadurch ganz irr geworden. Die beiden Leutchen zankten sich beständig; dieß führte zu Drohungen und allmälig zu Handgreiflichkeiten; endlich forderte die Frau ihren Mann zu einem Zweikampf heraus, wurde aber in demselben Augenblick von ihrer eigenen Familie in ein Tollhaus gebracht. Das war denn ein großer Scandal in der Stadt und Umgegend.

Die Vorsicht las im Stockholmer Tagblatt einen langen Artikel über diese Geschichte, und erschreckt über das Unheil, das der unweise Muth gestiftet, überlegte sie sich genau alle möglichen Gefahren und Widerwärtigkeiten dieser Welt und beschloß in ihrer Weisheit, sich ganz und gar zurückzuziehen, überzeugt, daß man kein höheres Glück erstreben könne, als mit heiler Haut davon zu kommen. Sie quartirte sich sofort bei einer alten Jungfer ein, die aus Furcht vor Dieben vier Treppen hoch ein Paar saubere Dachstübchen bewohnte. Merke dir diese Geschichte wohl, Klara. Hier hätte nun Fräulein Vorsicht gute und ruhige Tage haben können, wäre sie nicht von dem Gedanken an tausend Gefahren geplagt worden; sie wagte es nicht, ein Fenster zu öffnen, um keinen Schnupfen zu bekommen; sie getraute sich kaum zu kochen, aus Furcht vor dem Schornsteinfeuer; sie besorgte zwar, aus Mangel an frischer Luft krank zu werden, allein an ein Ausgehen war gar nicht zu denken; wie leicht konnte der erste beste Wagen sie überfahren, wie leicht konnte ein Blumentopf von einem Fenster herab 131 ihr auf den Kopf fallen oder am Ende konnte sie gar die Treppe hinabstürzen und Hals und Bein brechen. Nein, nein, auszugehen das war unmöglich. Sie fürchtete sich so sehr davor, daß sie, um nur kein neues Kleid kaufen zu müssen, in dem alten, welches bereits Etwas abgenutzt war, kaum zu sitzen wagte. Endlich trieb sie es so weit, daß sie weder Hand noch Fuß mehr rührte. Mit allen diesen Scrupeln hatte die Vorsicht auch ihre Wirthin, das alte Fräulein angesteckt, und als eines Tags oder Nachts Feuer im Hause ausbrach, wagten es die beiden Freundinnen nicht, Etwas für ihre Rettung zu thun, und wären unfehlbar verbrannt, wenn nicht ein Nachtwächter und ein Schornsteinfeger sie auf die Schultern genommen und in Sicherheit gebracht hätten.

Inzwischen rannte der Eifer in der Welt umher, schwitzte und schrie, predigte und riß die Menschen bald da-, bald dorthin. Er nahm den Bauer vom Pflug, die Mutter von ihren Kindern, den Beamten von seiner Kanzlei weg, nur um ihnen irgend eine andere Beschäftigung zu geben. Sodann entfernte er sich auf einmal von ihnen und ließ sie nach besten Kräften selbst für sich sorgen. Als er über Europa sprang, um in China die Heiden zu bekehren, kam er in Rußland einer Mine, die eben gesprengt wurde, zu nahe, wurde vom Pulver versengt und – o weh! – sogar blind. Er rannte noch einige Zeit in der Welt herum, stiftete aber Nichts als Verwirrung, bekam Händel mit der Polizei und mußte sich endlich einen Lohnbedienten anschaffen, der es gegen ein bestimmtes Monatsgeld auf sich nahm, ihn dahin zurückzuführen, woher er gekommen war.

Die Demuth hatte keine so gefährlichen Abenteuer zu bestehen, allein sie sah, als sie jetzt auf eigenen Füßen stand, so jammervoll aus, daß kein Mensch sie aufnehmen wollte, und nachdem sie sich bald unter tiefen Bücklingen, bald sogar auf den Knieen rutschend, in der Welt herumgeschleppt, an allen Thüren angeklopft, überall ihr: Ich bin Nichts! gelispelt, überall Grobheiten bekommen 132 hatte und als ein Nichts behandelt worden war, mußte sie wieder umkehren und langte ganz zerlumpt und beinahe vernichtet auf dem verabredeten Sammelplatze an.

Hier am Fuße der Heldensäule sah sie nach und nach alle ihre früheren Reisegefährten sich einstellen. Aber großer Gott, wie verändert waren sie nicht alle! Sie konnte sie kaum wieder erkennen. Der Eifer hatte seine funkelnden Augen nicht mehr, und war überdieß am rechten Fuße lahm; der Muth trug den Arm in der Binde und sah auf und nieder aus, wie ein Bruder Liederlich. Die Wahrhaftigkeit hatte überall blaue Flecken. Jähzorn lag auf ihrer vormals so himmelklaren Stirne und jedes andere Wort, das sie sagte, war eine Grobheit; der Edelmuth sah aus wie ein Komödiant und scherzte und prahlte schrecklich; die Mäßigkeit hatte sich in einen Geizhals verwandelt; die Vorsicht war der bloße Schatten eines Hasen; die Geduld und Barmherzigkeit sahen so mager, so elend und herabgekommen aus, daß es ein Jammer war, sie anzuschauen; die gute Laune war Nichts weniger, als nüchtern; die Klugheit befand sich noch am Besten, allein ich versichere euch, daß sie deßhalb auch im höchsten Grade aufgeblasen und hochmüthig war; sie maß ihre Schritte und Worte vornehm ab, schnupfte jeden Augenblick, warf sich gewaltig in die Brust, sah alle Andere über die Achsel an, spannte die Nasenflügel aus und war mit einem Wort unerträglich.

Ihr könnt euch denken, meine jungen Freundinnen, daß dieses Zusammentreffen der Tugenden nichts weniger als erbaulich und heiter sein konnte. Sie sahen aber auch in ihrer dermaligen Gestalt wahrhaftig mehr aus wie Laster. Indeß waren sie kaum eine Stunde beisammen gewesen, hatten sich die Hände geschüttelt und einander wieder erkannt, als ihr Aussehen sich zu verwandeln begann und sie wieder ihren früheren Charakter annahmen. Die Klugheit holte aus ihrer Reiseapotheke eine Salbe und strich sie dem Eifer über die Augen, so daß sie 133 sogleich wieder aufgingen und zu funkeln anfingen, wie früher. Die gute Laune erschrack dermaßen über die Durchsichtigkeit und das dunstähnliche Wesen der Demuth, daß sie auf der Stelle nüchtern wurde und der Gesellschaft den Vorschlag machte, sich in der nächsten Restauration mit einer kleinen Bowle Punsch zu stärken, einander die erstandenen Abenteuer zu erzählen und einen gemeinsamen Entschluß für die Zukunft zu fassen. Bravo! sagte der Muth und bot der Vorsicht die Hand; die gute Laune nahm die Demuth auf ihre Arme und hüpfte mit ihr den Andern voraus, die einträchtiglich nachfolgten.

Es würde viel zu weitschweifig sein, wenn ich jetzt alle die Geschichten wiederholen wollte, die in der Restauration auf dem großen Kirchberg erzählt wurden. Ich will euch daher bloß mit dem Resultat dieser Zusammenkunft bekannt machen, und dieses bestand in einem Beschluß, sich künftighin so selten und so wenig als möglich zu trennen, denn sie fanden, daß sie jede für sich und auf eigene Faust, ohne den Rath und die Hülfe der Andern, lauter Dummheiten begingen. Mit diesem Beschluß waren Alle ungemein zufrieden. Sie beschloßen ihr Mahl mit einem Liede, das die gute Laune improvisirt hatte und das sofort zum Bundeslied der Tugenden erhoben wurde. Da mir indeß die Verse nicht mehr recht im Gedächtnisse sind und ich die gute Laune nicht gern durch Verstümmlung ihres Gesangs in üble Laune versetzen möchte, so schließe ich hier meine Erzählung und überlasse es euch, die betreffenden Anwendungen zu machen.

Die jungen Mädchen ergötzten sich sehr an dieser Geschichte und wollten Fragen stellen und eine Menge Erklärungen verlangen; Fräulein Margarethe aber ließ sich durchaus auf keine weitere Erörterungen ein, sondern bat ihre Freundinnen, sie nach besten Kräften zu verdauen. Eva und Aurora erhoben sich bald darauf, um Abschied zu nehmen; Eleonore folgte ihnen, nachdem sie 134 Klara um Erlaubniß gebeten hatte, wieder zu kommen und mit ihr vom Heirathen zu sprechen. Fräulein Margarethe behielt sich vor, dabei den Advokaten des Freiers zu machen. Eleonore willigte lächelnd und seufzend ein, allein auf dem Heimwege lauteten ihre Gefühle über die Ehe mehr »nein, ja, nein,« als »ja, nein, ja«. Aurora und Eva beabsichtigten, sich kostbare Kostüme zu einem Liebhabertheater zum Besten der Abgebrannten in W. anzuschaffen.

Fräulein Margarethe, die jetzt den tüllfressenden Liebhaber und Klaras Abscheu vor der Ehe zusammenstellte, sagte mit vielem Ernst zu ihr:

»Klara, entweder bist du ein ganz außerordentliches Wesen, oder du befindest dich auf höchst gefährlichen Wegen.«

Klara schwieg und Margarethe fuhr fort: »Dein Abscheu vor der Ehe ist nicht natürlich. Ich kann es wohl begreifen, daß man keine Lust hat, in dieselbe hineinzuhüpfen, wie auf einen Ball, allein deine Widerspenstigkeit und überhaupt deine Ansichten über das Leben sind sowohl unbiblisch, als unnatürlich. Der Mensch ist nicht dazu geschaffen, allein zu leben. Auch kann ich durchaus nicht sagen, daß es mir sehr angenehm sein würde, von dir als Tollhäuslerin angesehen zu werden, wenn mich einmal, was recht wohl möglich ist, die Lust anwandelte zu heirathen, ohne in meinen Auserkorenen geradezu vernarrt zu sein.«

»Und wenn du auch heirathest,« sagte Klara, »so werde ich dieß nie für thöricht erklären; denn Niemand scheint mir geeigneter zu sein, als du, die Wohlfahrt anderer Leute zu fördern. Freude und Glück begleiten dich durch das Leben und wirken auf Alle, die um dich sind.«

»Es freut mich, daß du so von mir denkst,« sagte Fräulein Margarethe, indem sie ihr die Hand drückte.

»Aber,« fuhr Klara fort, »wenn du wüßtest, was Nothleiden, was Hungern heißt; wenn du wüßtest, wie 135 viel Leute es auf der Welt gibt, die es täglich erfahren müssen, dann würdest du nicht heirathen, sondern ledig bleiben, um den Dürftigen zu helfen und die Hungrigen zu speisen.«

»Meine beste Klara,« sagte Fräulein Margarethe mit dem wohlbekannten feinen Lächeln auf ihren Lippen, »dann würde ich wahrscheinlich verdienen, von Sr. Heiligkeit dem Pabst kanonisirt und noch nach hundert Jahren als heilige Margarethe angerufen zu werden; ob ich aber etwas wirklich Gutes damit stiften würde, daran zweifle ich; im Gegentheil würde ich wahrscheinlich nur die Zahl der Faullenzer und Taugenichtse vergrößern. Ueberhaupt muß ich dir aufrichtig sagen, Klara, daß ich in Beziehung auf Werke der Barmherzigkeit meine eigenen Gedanken habe. Ich halte die Langeweile für die schwerste Noth der Welt, das Gähnen für die schlimmste Pest und denjenigen, der es versteht, sie mit unschädlichen Mitteln zu verscheuchen, für einen der ausgezeichnetsten Wohlthäter seines Geschlechtes. Ein herzliches Lachen ist mehr werth, als Dukaten.«

»Ja, das ist wahr,« antwortete Klara. »Allein die Langeweile ist ein selbstverschuldetes Unglück und diejenigen, die Veranlassung haben zu gähnen, könnten, wenn sie verständig wären, auch Veranlassung haben, vergnügt zu sein. Aber . . . .«

»Nun aber? . . . .«

»Aber mit den Leidenden, von denen ich spreche, verhält es sich nicht so. Aeußeres Elend drückt sie hart zu Boden. Wenn sie sich auch erheben wollten, so könnten sie es oft nicht; Noth und Krankheit liegen ihnen mit Centnerlast auf Leib und Seele. Die Unglücklichen vermodern bei lebendigem Leibe.«

»Dieß begegnet wohl auch manchem Reichen,« sagte Fräulein Margarethe. »Ich gestehe, daß ich die Ansicht habe, die Leute seien selbst daran schuld, wenn sie in Noth gerathen. Ehrliche und geordnete Leute schlagen sich überall gut durch. Ueberdieß ist es schwer, Almosen zu 136 geben, denn wahrscheinlich erhält es öfter der Unwürdige als der wirklich Bedürftige.«

»Das mag allerdings eine Schwierigkeit sein,« sagte Klara, »allein wenn man keine Mühe scheut und die Zeit nicht spart, so läßt sie sich schon überwinden. Glaube ja nicht, daß Jeder, der den redlichen Willen dazu hat, auch im Stande ist, sich zu helfen. Ach es gibt Bedrängnisse, denen man nicht ausweichen, es gibt Elend, das man nicht abwenden kann. Ja man kann selbst die Fehler und Mängel der Menschen als ein Unglück betrachten, woran sie nicht schuld sind. Man spricht oft von den Ausschweifungen der Armen, von ihren Vergnügungen . . . . Ach, wenn du wüßtest, wie dürftig diese Vergnügungen in das Leben so vieler Menschen gesäet sind. Wenn ihnen nun das Leben sehr drückend ist, wenn sie einen Augenblick dem lockenden Vergnügen nicht widerstehen können, wenn sie ein paar Minuten genießen wollen und dadurch ihr tägliches Brod verlieren? Sollen die Armen denn für diesen Augenblick ihr ganzes Leben büßen? Verdienen sie nicht aufgerichtet und unterstützt zu werden? Soll man an ihnen als Verbrechen strafen, was bei den vom Glück Begünstigten eine verzeihliche Schwachheit heißt? O wenn du wüßtest, wie manche solche Verbrechen aus Mangel entstehen, aus Mangel an Brod und aus Mangel an aller Freude! Auch die Armen bedürfen der Freude; sie ist ihnen so nöthig, als Brod – Freude ist die frische Luft, welche macht, daß man leicht athmet, daß man gerne lebt, daß man an Gottes Güte glaubt . . . .«

Klaras Thränen floßen so reichlich, daß sie inne halten mußte. Fräulein Margarethe schwieg, allein Klara hatte ihr eine Seite des Lebens eröffnet, die sie bisher nur selten gesehen hatte. Sie warf einen langen Blick über Scenen, die sie bei ihrem Charakter und ihrer Stellung im Leben nur flüchtig aufgefaßt – und ihr Herz ward beklommen.

Was darauf folgte, sage ich nicht; es ist zu einfach, 137 zu heilig, um ausposaunt zu werden. Wenn aber die Leserin vermuthet, daß Fräulein Margarethe Klara zu ihrer Schatzmeisterin ernannt, und Klara heiße Freudenthränen darüber vergossen habe, so will ich ihr bekennen, daß sie der Hauptsache auf die Spur gekommen ist.

Und du, strenger Verehrer des Verdienstes und Gegner der Almosen, schüttle nicht den Kopf über diese Gesellschaft. Lege dein Geld an zu Fabriken, zu Gewerben, zu was du willst – aber laß Klara in Ruhe. Sei ohne Furcht! Sie wird nicht ihr Seidenkleid dem Weibe des Taglöhners schenken, sie wird dem Branntweinsäufer kein Geld geben, sie wird nicht, wie eine gewisse junge, liebenswürdige Gräfin, ihre türkischen Pantoffeln abziehen, und sie einem kleinen, dürftigen Schornsteinfegerjungen zuwerfen. Sie wird das arme Kind in die Schule schicken, dem Arbeitslosen Arbeit, dem Kranken Arzneimittel verschaffen u. s. w.; sie wird ihre Almosen klug spenden. Heißt das nicht, sein Kapital auf Zinsen anlegen? Und sollte es nur hie und da einen leichteren Augenblick in einem düstern Leben, eine kleine Linderung bei unheilbaren Schmerzen hervorbringen, so . . .

Ach, wie es auch die Weisen auf der Erde ordnen, wie wohl es auch bestellt sein mag, für das Unglück und für unverschuldete Leiden wird immer Platz bleiben, somit auch immer Platz und Gelegenheit für barmherzige Schwestern. 138

 


 


 << zurück weiter >>