Fredrika Bremer
Nina
Fredrika Bremer

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Bilder.

Die Jungfrau ging im Walde,
Im Buchenhain.
—   —   —   —
Hier singt eine Nachtigall für unsre Jungfrau.
                            Schwedisches Volkslied.

Diese, mein Leser, sind nicht prachtvoll, nicht schön, nicht denen gleich, die im Verlauf des Winters Stadt und Hof erfreut haben. Ueberdieß habe ich jetzt keine Lust zu scherzen, und glaube mir, nur mit tiefem Widerwillen zünde ich meine Lampe an, und beleuchte sie zur Steuer der Wahrheit. Meine Seele ist betrübt.

So auch die der Natur. Es ist ein heißer Sommertag. Qualm heißt sein Athem, drückende Schwüle sein Leben. Ein von Sonnenrauch verfinsterter Himmel hängt über einer vor Dürre vergelbten Erde. Alles so still auf den Bäumen, so still im Reiche der Sänger, so still auf den Wellen. Alles so matt, so matt! Matt summt die Mücke, matt erhebt sich die Blume im Grase, matt hängt das keuchende Thier den Kopf gegen die Erde. Still 241 nagen die Raupen an den saftlosen Blättern. Glühend und matt blickt die Sonne durch den Nebel und brennt noch im Untergehen.

Die Badgesellschaft ißt saure Milch in Pilshult. Nina ist allein zu Hause. Sie hat Kopfweh, und auf ihre Bitte hat man sie allein gelassen. Gegen Abend fühlt sie sich besser und geht aus, um Kühlung zu suchen. Eine wehmüthige Betäubung umwölkt ihre Sinne und matt ist ihr Gang in der dunsterfüllten Gegend. Das Rauschen eines kleinen Wasserfalles leitet ihre Schritte. Instinktmäßig geht sie seinem Gesange nach, um Erquickung zu suchen.

Frisch schäumen die Silberwogen. Saftgrün und blumengeschmückt ist das Ufer. Nina legt sich auf das weiche Sammtbett, ihre Hand spielt mit der Welle und ihr Auge folgt ihrem Laufe. Sie sieht, wie diese dahinfahren muß, rastlos, nothwendig, ohne zu wissen, von wannen sie kommt und wohin sie fährt. Dunkle Gefühle und Gedanken gehen vom Leben der Natur in das ihrige über. Ihre Seele schaukelt, wie eine wurzellose Blume auf der Welle (eine mißliche Art zu reisen); sie läßt sie schaukeln, sie fühlt sich besser: die Luft hier hat einige Frische; der Schleier der Schwüle ist gehoben; Thränen wehmüthigen Vergnügens zittern in Ninas Augen; das Verlangen, das mächtige, nach Leben und Glück schwellt ihre Brust.

Da hört sie in ihrer Nähe den Klang einer Cither. Der Sänger ist vom Laub verdeckt, aber Nina erkennt Don Juans melodische Stimme. Nina! fliehe, fliehe! Warum fliehst du nicht, du Unvorsichtige? Ninas erstes Gefühl ist aufzustehen und sich zu entfernen, allein ein unwillkürlicher Zauber lähmt ihre Sinne und ihr Wille ermangelt der Kraft, diese Unmacht zu besiegen. Sie bleibt und er singt in lieblichen, schmelzenden Tönen:

Liebe haucht den lebensfrischen
    Athem hin durch die Natur; 242
Blumendüfte sich vermischen
    Liebend auf der bunten Flur.

Siehst du nicht den Vogel kosen
    Mit dem Weibchen auf dem Baum?
Und es spielen dort die losen
    Wellen an des Ufers Saum.

Siehst du sich zusammenwinden
    Gräser in des Windes Tanz,
Wie sie zärtlich sich verbinden
    In der ew'gen Liebe Kranz?

Wie der Sonnengott sich schließet
    An die Erde liebewarm,
Und mit Himmelsfreud' begießet
    Seine Braut in seinem Arm?

Hörst du in des Flusses Brausen
    Töne herber Liebesqual,
Hörst du in des Waldes Sausen
    Stiller Liebesseufzer Zahl?

Ueberall im ganzen Raume
    Hör' ich Stimmen minniglich;
Und sie flüstern, wie im Traume:
    Einzige. ich liebe dich!

Engel flüstert so zum Engel,
    Mensch zum Menschen sehnsuchtweich;
Und von Stengel und zu Stengel
    Hallt es nach im Blumenreich.

Balsamvoll die Nacht sich gießet
    Auf die Erd' in sel'ger Ruh,
Herz dem Herzen sich erschließet,
    Aug dem Auge lächelt zu. 243

Ach wenn alle Wesen trinken
    Aus dem Quell der Seligkeit;
Soll nur dir vergebens winken,
    Mädchen, jene Himmelsfreud?

Willst du weinen und entsagen
    In der Zeit der Jugendlust?
Trink, des Lebens dunkle Fragen
    Lösen sich an Freundes Brust.

Liebe wird auch deinem Leben
    Licht und Lust und Trost im Schmerz
Und des Himmels Zauber geben;
    Oeffn' ihr dein verschloßnes Herz.

Der Gesang verstummt. Warum flieht Nina nicht? Der Sänger liegt zu ihren Füßen. Er gießt seine Liebe in brennenden Seufzern aus. Das Feurigste, was das Gefühl, das Schönste, was die Sprache hat, muß ihm seine Worte leihen. Tief und gewaltsam ergreifen sie Ninas Seele. Sie sieht sich angebetet, sie glaubt sich geliebt; die Entzückungen des Lebens umschweben sie schimmernd, blendend, bezaubernd, aber sie fürchtet ihr Gefühl; sie will fliehen. Don Juan hält sie zurück. »Laß uns lieben! Laß uns lieben!« flüsterte er in abgebrochenen, leidenschaftlichen, berauschten Tönen – »laß uns glücklich sein. Das Leben ist kurz und düster. Laß uns in den Armen des Genusses sterben.«

Er hat das Wort gesprochen, das still in der Tiefe ihrer Seele lag. Ein unendliches Beben, eine an Verzweiflung gränzende Schwachheit erfüllt ihr Herz, Gott und Himmel verschwinden, sie begehrt zu lieben und zu sterben. Noch betet in ihr ihr guter Engel, sie ruft einen Retter vor ihrer eigenen Schwachheit an, ihre Lippen stammeln den Namen Edla.

Seht ihr dieses häßliche, bleiche, abschreckende Gesicht, das sich Nemesisähnlich über beiden erhebt? Mit 244 einem Schrei der Freude und des Entsetzens zugleich ruft Nina: »Edla!« Sie sinkt zu ihren Füßen, sie umfaßt ihre Kniee, und die barmherzige Natur wirft einen Schleier über ihre Seele und ihre Sinne. Sie fällt in Ohnmacht. Edla nimmt sie in ihre Arme, wirft einen vernichtenden Blick auf den wie vom Donner gerührten Verführer, und trägt die leblose Nina fort.

Wuth im Herzen steht Don Juan da, sein Schicksal verfluchend. Sein Fuß stampft auf die Erde, und seine geballte Hand erhebt sich gegen den Himmel. Er ist im Begriff, den murmelnden Bach zu verlassen, als er Schritte nahen hört. Klara ist es, die bei Don Juans Anblick schnell stehen bleibt, und bloß bemerkt: »Man hat mir gesagt, ich werde Nina hier treffen?«

Klara hatte Etwas in ihrem Gesichte und ganzen Wesen, was mit einer ruhigen und klaren Sommernacht verglichen werden kann. Der wollüstige Don Juan hat sich bereits davon angezogen gefühlt. Im gegenwärtigen Augenblick empfindet er diesen Reiz mit verdoppelter Stärke. Das Sinnenfieber, das noch andauert, und eine Rachgierde, die das ganze weibliche Geschlecht treffen soll, gibt ihm einen teuflischen Plan ein. »Die Heiligen,« denkt er, » sind eben so leicht gefangen, wie die Kinder der Welt: nur muß man das Netz aus ihrem eigenen Garn flechten.« Allein er verhehlt seine Absicht mit Schlangenlist. Auf Klaras Frage nach Nina antwortete er: »Sie kommt bald zurück. Ach bleiben Sie einen Augenblick! Der Abend ist so mild; kann Ihr Herz es weniger sein? Wollen Sie kein Wort, keinen Blick des Trostes demjenigen schenken, dessen Herz von Unruhe verzehrt wird?«

Klara blieb still stehen, und sagte mit einer Stimme, welche Theilnahme verrieth: »Was kann ich für Sie thun? Sagen Sie es schnell! Ich muß gehen.«

Don Juan ist nahe getreten und sucht ihre Hand zu fassen, die Klara aber zurückzieht. »Sagen Sie mir 245 nur,« bittet er, »daß Sie mich nicht hassen, daß Sie einiges Wohlwollen für denjenigen haben, der gerne sein Leben dafür hingäbe, rein und gut zu sein, wie Sie, und an Ihrer Hand in den Himmel zu wandeln. Bleiben Sie, ach bleiben Sie! Ihre Nähe heiligt selbst die Luft um mich herum und erfüllt mein Herz mit einer reinen Sehnsucht. Liebliche, Heilige! Sagen Sie mir, daß der Himmel, den Sie kennen, mich nicht verworfen hat.«

»Der Himmel verwirft Niemand, der ihn mit Ernst sucht,« antwortete die stille Klara sanft. »Suchen Sie ihn so, und Sie werden ihn finden. Leben Sie wohl!«

»Bleiben Sie, himmlische Klara! Fürchten Sie mich?«

»Warum sollte ich Sie fürchten?« sagte Klara, indem sie stehen blieb, und ihn mit einer Verwunderung voll einfacher Würde ansah.

»So bleiben Sie, ach bleiben Sie bei demjenigen, dem Ihre Nähe Leben gibt.«

»Ich kann nicht! Sie können mich, wenn Sie wollen, bei Gräfin G. sprechen. Adieu!«

»O Klara, das ist hart! Sie sagen, daß der Himmel Niemand verwerfe. – Seien Sie nicht selbst strenger. Stoßen Sie einen Irrenden nicht zurück! Zeigen Sie mir den Weg zur Seligkeit, holder Engel! Erretten Sie eine Seele! O Klara, lassen Sie mich anfassen, lassen Sie mich an mein Herz drücken diese Hand, die . . .«

Aber er greift bloß in die leere Luft. Klaras guter Engel hat sie gewarnt, und sie hat seine Stimme gehört und ist seinem Winke gefolgt, denn keine Eitelkeit, weder geistliche, noch weltliche, wohnt in ihrer Seele. Gleich einem Schatten ist sie verschwunden, und hat sich in die Nacht des Waldes verborgen.

Mit einem Fluch wilden Zornes folgt Don Juan ihr nach. Aber freundliche Sterne wachen über Klara, und sie findet ihren Weg. Und als sie die Schritte ihres Verfolgers näher hinter sich hört, als Angst und 246 Müdigkeit ihre Füße lähmen, da sinkt sie gerettet in die Arme ihrer Freundin, die ihr entgegen gegangen ist.

Don Juan hat sich schnell hinter einen Baum zurückgezogen. Auf dem Baum ist ein Elsternnest, und die jungen Elstern lachen ihn aus, während er flucht.


Und jetzt . . . . sollen wir uns an das Bett begeben, in welchem Nina ruht, während Edla sich über sie hinneigt? Sollen wir die Schlummernde erwachen sehen? Wir wollen nicht. Wir wenden unsere Blicke ab von diesem Zusammentreffen.

O gewiß ist es eine bittere, bittere Sache, Augen. die uns früher so sanft, so liebend gefolgt waren, jetzt streng und mißbilligend auf uns blicken, oder sich mit schmerzlich gefühlter Verachtung abwenden, ja vielleicht gar mit Thränen der Demüthigung über unsere Schwachheit füllen zu sehen! Gewiß ist es bitter, gewiß ist es zermalmend, und dennoch . . . . gesegnete Thräne, gesegnetes Strafurtheil in einem geliebten Auge! Brenne, brenne in des Gefallenen Seele – brenne, denn du reinigst! Liebe! Freundschaft! Wer wollte sich nicht beugen vor eurer strafenden Hand, nicht demüthig eurem prüfenden, eurem urtheilenden Blicke sein Inneres erschließen? Wehe dem, der es nicht will, der sein Inneres hier verschließen könnte! Er ist auf immer verloren!

Drei Tage lang nach dem Abend, da Edla zurückgekehrt, lag Nina an einem heftigen Fieber. Edla selbst gebot ihr Stillschweigen, und weilte eine treue Wärterin bei ihr; – aber die Zärtlichkeit, aber die Vertraulichkeit war dahin. Edla war schweigsam, aber ihre bleiche Wange zeugte von dem tiefen Leiden ihrer Seele. Eines Abends, als Edla glaubte, Nina schlafe, strich sie sanft eine Locke weg, welche die Stirne bedeckte, die sie so sehr zu betrachten liebte. Nina fühlte es, ergriff schnell die 247 magere Hand und führte sie an ihre Lippen. Edla zog sie nicht zurück. Nina drückte Kuß um Kuß darauf und badete sie mit ihren Thränen. »Sprich mit mir,« bat sie, »sage mir ein freundliches Wort!«

Edla beugte sich über sie und sagte zärtlich: »Mein armes Kind, ich liebe dich noch immer!« Eine heiße Thräne fiel auf Ninas Arm; Nina küßte sie auf. »Jetzt werde ich bald wieder besser werden,« sagte sie mit getröstetem Herzen.

Ein paar Tage darauf war sie so weit wieder hergestellt, daß sie aufsitzen konnte, und Edla hinderte nun nicht länger eine Mittheilung, nach welcher beide verlangten. Nina öffnete ihr jetzt ihre ganze Seele. Edla forschte darin frei, sie forschte genau, unbeweglich, aber zärtlich. Nina gab sich so voll, so ganz, wie nur eine Menschenseele sich einer andern geben kann. Sie fühlte Linderung: ach! sie fühlte sich von zärtlichen und geschickten Händen behandelt. Göttliches Vertrauen, erfrischende Hingebung an einen Freund! Stärkende Demuth! Liebliche Bitterkeit! Ruhe nach dem Streit! Schön sagt Jean Paul darüber:

»Wenn der Mensch nicht mehr sein eigener Freund ist, so geht er zu seinem Bruder, der es noch ist, damit dieser mild mit ihm sprechen und ihm das Leben wieder geben möge.«

Und nicht bloß die milden Worte, nein, auch die strengen, ja selbst das Strafurtheil nimmt man gerne von den geliebten Lippen. Das Strafurtheil? Wunderst du dich? Nein, du schaust tiefer in dein Herz; du erkennst, daß es so ist. Der Seele heiligstes Mysterium – Gott wohnt in deinem Innersten!

Edla fand Ninas Willen rein. Hoch schlug ihr enges Herz vor Freude darüber, aber sie erschrack über den Seelenzustand, über die Schwäche, die Erschlaffung aller höheren Kräfte, die Nina so nahe ans Verderben geführt hatten. 248

Mit der ganzen Kraft ihres klaren Blickes, ihres überlegenen Verstandes sprach Edla jetzt zu ihr, und zeigte ihr ihre Lage, ihren Fehler in dem durchdringenden Lichte, das zugleich demüthigt und aufrichtet. Sie machte Nina mit sich selbst bekannt. Sie ließ sie fühlen, wie tief sie unter die wahre Frauenwürde herabgesunken sei, und weckte in ihr ein inniges Verlangen, sie wieder zu gewinnen.

Zuerst eine Thräne der Reue, dann ein Gebet, dann eine Handlung, dieß ist die Ordnung der Bekehrung.

»Du mußt,« sagte Edla, »dieses träumerische, träge Leben aufgeben. Du mußt handeln, mußt thätig sein, und du wirst in einer nützlichen Wirksamkeit für deine Mitmenschen dein Glück erkennen lernen. Nina, du mußt einen edlen Mann glücklich machen und dir selbst eine Stütze, einen Führer im Leben geben. Kannst du jetzt ruhig anhören, was ich dir zu sagen habe, oder wollen wir noch warten?«

»Nein, jetzt, jetzt Edla! Es ist besser, ich erfahre Alles. Schone mich nicht, Edla. Verdiene ich es denn? . . .«

»Nun gut! Es haben sieh unangenehme Gerüchte über das Verhältniß zwischen dir und Don Juan verbreitet. Erbleiche nicht darüber, Nina: erbleiche darüber, daß du Veranlassung dazu gegeben hast. Ein Scherz, den sich Don Juan über dich und mich erlaubte, gab ihnen einiges Gewicht; Graf Ludwig hat ihn gezwungen, zu widerrufen. Sie haben sich duellirt. Don Juan hat in einem Säbelhieb über die Stirne seine wohlverdiente Strafe erhalten.«

»Gütiger Gott! Und ich bin an Allem dem Schuld, ich Unglückliche! Und ist dieß auch Alles? Ist Nichts noch Schlimmeres geschehen? Steht kein Leben in Gefahr?« fragte Nina außer sich vor Schreck.

»Nein, sei ruhig. Don Juan ist abgereist. Seine Wunde ist nicht im Mindesten gefährlich, und wird wahrscheinlich nur eine tiefe Narbe zurücklassen. Graf 249 Ludwig ist es gelungen, ohne Schaden ihn zu bestrafen und dich zu beschützen. Er hat diese Gelegenheit benützt, um seine Gefühle für dich zu erklären. Er hat beim Vater um deine Hand angehalten.«

»Er ist edel! O er ist gut!« sagte die todesbleiche und tiefbwegte Nina. »O wie wenig verdiene ich Alles dieses. Könnte ich ihm doch recht danken! Hier ist meine Hand, Edla! Nimm sie in die deinige. Bestimme darüber, wie du es für gut findest. Ich habe meine Freiheit, meinen eigenen Willen so schlecht benützt! Ich übergebe sie dir. Sprich nur, und ich will in Allem gehorchen, und gerne gehorchen.«

»Dein eigener Wunsch, Nina, deine eigene wieder erwachte Kenntniß des Richtigsten und Besten soll uns bestimmen. Aber darüber kannst du in diesem aufgeregten Augenblick nicht urtheilen. Morgen, wenn die Ruhe einer Nacht deine Kräfte noch mehr gestärkt hat, wollen wir wieder davon sprechen.«

Und am Abend dieses Tages, als Nina in Edlas Fürsorge mehr Zärtlichkeit wahrnahm, als sie in ihren Zügen Spuren eines erleichterten Herzens sah; als wie in den Tagen ihrer Kindheit die Schwester gleich einem wachenden, stärkenden Engel neben ihrem Bette saß; als sie spielend die hübschen Blümchen, die sie für sie gepflückt, auf Ninas Decke ausbreitete und ihre weißen Arme damit schmückte, da fühlte Nina, daß Edla ihr Schicksal bestimmen werde, daß sie Alles thun könnte, um ihre Achtung, ihr Vertrauen wieder zu gewinnen, und eine langentbehrte Ruhe verbreitete sich über ihre Seele.

Am Morgen, als der Wind die freundlichen Blumen erweckte, und ein Strom von Luft, Gesang und Wohlgeruch durch das geöffnete Fenster hereindrang, da erwachte auch Nina zu einem neuen und stärkeren Leben. Bleich, aber still gefaßt und entschlossen stand sie auf. Vielleicht war sie nie schöner gewesen, als in diesem Augenblick, wo Demuth und Kraft ihr Wesen gleichsam 250 geheiligt hatten, und Resignation ihre schöne Stirne mit Himmelsglanz übergoß. Zwischen den beiden Schwestern entspann sich jetzt ein Gespräch, so wie es zwischen Mutter und Tochter schon oft stattgefunden hat, und sich noch oft wieder erneuern wird.

Die Tochter wird einwilligen in das, was die Mutter wünscht; sie wird ihren Willen als den klügsten, den besten finden; sie wird nur leise über Mangel an Liebe zu dem Freier klagen, sie wird Achtung, vielleicht Freundschaft für ihn fühlen, aber . . . aber . . .

Die Mutter wird von der Festigkeit einer auf den Fels Achtung gegründeten Verbindung sprechen: von dem Glück eines wirksamen und nützlichen Lebens für diejenigen, die uns theuer sind; von der Nothwendigkeit, ein Interesse, einen Zweck im Leben zu haben; von dem Frieden, der auf gut erfüllte Pflichten folgt u. s. w.

Ich weiß nur so viel, daß Edlas Worte nicht die eines dürftigen Verstandes waren. Sie entsprangen aus der tiefen Ueberzeugung, daß Graf Ludwig der edelste Mann sei und daß Nina nur in der Verbindung mit ihm die Kraft und die Thätigkeit entwickeln könne, ohne welche alles Leben nur armselig ist.

Nina wiederholte nur, was sie am Abend zuvor gesagt hatte. »Urtheile, beschließe für mich, Edla,« war ihre Bitte. »Ich traue mir selbst nicht mehr, ich bin ängstlich gegen mich geworden. Was du glaubst, das glaube ich auch; was du willst, will ich auch. Ich werde Graf Ludwig für das, was er für mich gethan hat, für seine treue Ergebenheit nach besten Kräften danken. Ich will versuchen, ihm eine würdige Gattin zu sein. Ich will die allgemeine Achtung wieder gewinnen und Alle glücklich machen, so weit es mir möglich ist. Dann werde gewiß auch ich das wirkliche Glück kennen lernen.«

Edla umarmte Nina, und diese war so glücklich über die wiedergeschenkte Zärtlichkeit der Schwester, daß sie sich mit einem Gefühl wahrer Befriedigung von Edla zu ihrem Vater führen ließ, um seiner Entscheidung die 251 Verfügung über die Hand der Tochter anheimzustellen. Ehe wir indeß den Vorhang von der Scene wegziehen, die den Schwestern im Zimmer des Präsidenten bevorstand, müssen wir den Leser zu einem andern Bilde führen, das am vergangenen Abend von noch mehr Leuten, als von mir gesehen worden ist.

Zum Präsidenten nämlich, der baarhauptig mit Hut und Leib seine Gemahlin vor einem heftigen Regenschauer zu schützen sucht; zum Präsidenten, der seine Galoschen auszieht, um sie der Gräfin zu überlassen, und so an ihrer Seite die Pfützen auf dem Wege austappt.

Dieß mag erklären, wie es kam, daß die beiden Schwestern ihren Vater in seinem Lehnstuhl sitzend trafen, sprachlos, mit entstelltem Gesicht und außer Stands, sich zu bewegen. Der Präsident hatte einen starken Nervenschlag bekommen. Gräfin Natalie promenirte im Brunnensaale umgeben von ihren Bekannten und Freunden.

Durch schleunige Anwendung passender Mittel war der Präsident nach einer Woche so weit wieder hergestellt, daß er sprechen und sich ein wenig bewegen konnte. Allein sein Bewußtsein war schwach, sein Gesicht noch entstellt und die linke Seite gelähmt. Mehrere herbeigerufene Aerzte erklärten einstimmig, nur der Einfluß eines wärmeren Klimas könne ihn vollkommen wieder herstellen. Man rieth zu einer Reise nach Nizza.

Wenn Gefahr droht, wenn irgend eine große Erschütterung durch das Leben des Menschen geht, dann hört die Macht flüchtiger Neigungen auf, und die Gefühle, die in seinem besseren Ich, in seinem innersten Wesen Wurzel gefaßt haben, werfen dann ihren Schleier weg und treten ans Tageslicht hervor. Dann schlägt die Siegesstunde der treuen, der wahrhaft liebenden Freundschaft.

So erging es dem Präsidenten. Als er die mächtige Hand der Krankheit über sich fühlte, als ihm die Nothwendigkeit einer noch in seinem geschwächten Zustand zu 252 unternehmenden Reise und eines längeren Aufenthaltes in fremdem Lande verkündigt wurde, da wandte er sich von seiner glänzenden Gemahlin und ihrer gemachten Zärtlichkeit ab, streckte die Arme gegen seine Tochter aus und stammelte: »Edla!« Er schien nicht ohne sie leben zu können, und war ruhig, wenn er sie nur in seiner Nähe sah. Edlas Entschluß, den Vater zu begleiten, war in demselben Augenblick gefaßt, da sie von der Reise sprechen hörte, und Gräfin Natalie durfte es als eine wirkliche Gunst des Schicksals ansehen, daß sie durch eine bedeutende Fußverrenkung zu ihrer wirklichen Verzweiflung, wie sie Jedermann versicherte, von der Mitreise entbunden wurde.

Edla wünschte sehr, Nina verlobt zu sehen, bevor sie aufs Neue genöthigt würde, sie zu verlassen. Nina ließ sich blind von Edla leiten. Gräfin Natalie, die auf einmal auffallend kalt gegen Nina geworden, und gegen Edla die Steifheit selber war, behauptete eine neutrale Stellung und führte bloß das Wort bienséance öfter als gewöhnlich im Munde. Graf Ludwig drang nicht ohne Ansprüche auf die Erfüllung seines Wunsches. – Wer ums Himmelswillen widersetzte sich denn jetzt? Niemand anders, als der arme, gute, kranke, geistesschwache Präsident selbst. Er schien sich in seiner Unklarheit in den Kopf gesetzt zu haben, Verlobung und Heirath seien Eins, und wenn Edla über Ninas Verlobung mit ihm sprach, antwortete er immer: »Uebers Jahr, wenn ich zurückkomme.« Vergebens suchte ihm Edla die Sache ruhig auseinanderzusetzen, er blieb bei seinem Spruche: »Uebers Jahr, wenn ich zurückkomme.« Endlich wurde er böse und sagte: »Meinst du denn, eine lustige Hochzeit und mein Zustand passen gut zusammen? Nein, übers Jahr u. s. w.« Edla entsagte nun allen weiteren Ueberredungsversuchen, und zugleich der Hoffnung, noch vor ihrer Abreise Nina mit dem Manne verbunden zu sehen, den sie so hoch achtete.

»Nimm mich mit,« bat Nina innig; »laß mich die 253 Pflege unseres Vaters mit dir theilen.« Edla konnte nicht ja sagen. Sie fürchtete für Ninas Gesundheit bei beständiger Beschäftigung mit einem Kranken, und wollte überdieß ganz frei sein, um alle ihre Gedanken, ihre Kräfte dem Vater widmen zu können. Auch hielt sie es nicht für gut, Nina und Graf Ludwig jetzt zu trennen. Es wurde daher beschlossen, die Zeit abzuwarten, und wenn nach Verfluß eines Jahres die Gesundheit und die Geisteskräfte des Präsidenten sich nicht gebessert hätten, dann dessenungeachtet die Verlobung des jungen Paares stattfinden zu lassen. Unterdessen solle Nina bei ihrer Stiefmutter bleiben, welche erklärte, sie beabsichtige, sich während der Abwesenheit des Präsidenten ganz und gar von der Welt zurückzuziehen, und auf eines seiner Güter weit oben in Norrland zu verbannen. Dort sollte auch Graf Ludwig in Ninas Gesellschaft den kommenden Frühling und Sommer zubringen. Edla war überzeugt, eine nähere Bekanntschaft mit ihm werde inzwischen bei Nina die Neigung hervorrufen, die er so wohl verdiene.

Nina war im Stillen sehr erfreut über diesen Aufschub der Entscheidung ihres Schicksals, wagte es aber kaum, sich selbst diesen innern Streit gegen Edlas Wünsche zu gestehen.

Es war Abend. Am nächsten Tag sollten Edla und der Präsident abreisen. Nina hatte mehrere Tage gemeinschaftlich mit Edla im Krankenzimmer ihres Vaters zugebracht, und ging jetzt auf die Bitte der Schwester hinaus, um ein wenig frische Luft zu schöpfen. Fräulein Margarethe befand sich nebst Klara und dem Baron H. sowie der ganzen übrigen Badgesellschaft auf einer Lustpartie, und die Alleen am Brunnen waren beinahe leer. Nur hin und wieder schleppte ein Siechling, der nicht im Stande war, eine größere Wanderung zu unternehmen, seine matten Schritte hin. Nina blieb auf dem Grasplatz vor ihres Vaters Hause stehen und athmete die reine liebliche Luft ein. Die Sonne ging klar unter, und kleine goldene und rothe Blümchen beugten sich nickend 254 und kosend um Ninas Füße. Die Bäume standen ruhig in herrlicher Vergoldung da und ertönten vom Gesange der Vögel. Nina sah voll Vergnügen um sich; – es war ein liebliches Gemälde: sie selbst das schönste Bild darin – aber sie sah dieß nicht. Sie blickte liebevoll zur Sonne hinauf, küßte kosend ihre Strahlen, die auf ihre marmorweißen Hände fielen, und die Sonne beleuchtete die schöne Tochter mit mütterlichem Liebesblick. Bald sah Nina, wie eine, ihrem Ansehen nach dem Handwerksstande angehörige Familie langsam unter dem Schatten der Bäume hervorkam und sich endlich nicht weit von ihr auf eine Bank setzte. Der Mann und das Weib hatten gutmüthige, redliche Gesichter, aber vom Kummer gefurcht. Die Kinder waren bleich und still. Man sah, daß sie Kinder der Armuth waren. Ein Livreebedienter mit einem Korb voll der ausgesuchtesten Früchte ging an ihnen vorbei, und der Mann fragte ihn in einiger Verlegenheit, ob er nicht ein Paar von diesen Früchten kaufen könnte. Der Bediente antwortete, es gehe nicht an, denn sie seien ein Geschenk an Fräulein Nina G., die schöne Tochter Sr. Excellenz. In diesem Augenblick bemerkte er Nina, trat zu ihr hin und übergab ihr mit einer tiefen Verbeugung den saftreichen Korb. Nina gab dem Boten viele Danksagungen an die Gräfin Nordstjerna auf, und nachdem sie einige schöne Trauben für ihren Vater und Edla zurückgelegt, nahm sie den Korb, ging erröthend zu der Handwerkerfamilie und bat auf die verbindlichste Art, man möchte die schöne Gabe mit ihr theilen. Ninas unbeschreibliche Anmuth, ihre rührende Güte und das Wohlwollen, das sich auf ihrem Gesichte malte, machte auf die bleiche Familie vielleicht einen noch angenehmeren Eindruck, als die angebotenen Früchte. Das sichtbare Vergnügen, das ihre Gabe hervorbrachte, erfreute Nina. Sie nahm selbst das jüngste Kind auf ihren Schooß und gab ihm von dem Obste, das sie unter nochmaligen herzlichen Ermahnungen, zuzugreifen, auf den Tisch ausbreitete. Als sie nun alle um sich herum 255 hocherfreut sah, und das Kleine auf ihrem Schooß vor Vergnügen über den Schmauß zappelte, da empfand sie ein reines Wohlbehagen, wie sie nur selten in diesem Maße empfunden hatte. Die guten Leute wurden bald gesprächig, und Nina hörte mit Theilnahme – was den Begüterten der Erde zu hören immer gut ist – die Erzählung von Leiden, welche hauptsächlich die Bewohner der Hütten heimsuchen. Doch war hier keine Klage, keine Verzweiflung, sondern fromme Hoffnung schlug ihre frischen Blätter über das Leben aus, welches Noth und Krankheit gebleicht hatte. Nina befand sich wohl in diesem kleinen Kreise, wo augenscheinlich gegenseitige Liebe zu Hause war; sie fühlte sich heimisch unter diesen Leuten und liebkoste herzlich den Kleinen, den sie auf ihrem Schooße hatte. Auf einmal sah sie Graf Ludwig vor sich, der mit einem starken Ausdruck der Mißbilligung in seinem strengen Gesichte die Scene ansah. Sogleich verschwand ihr behagliches Gefühl, und ein gewisser Zwang verbreitete sich bei der Handwerkerfamilie. Die Kinder rückten näher zu ihren Aeltern, und die Aeltern hörten auf, von den Früchten zu genießen. Graf Ludwig trat zu Nina und sagte mit starker Betonung zu ihr: »Sollte es für Fräulein G. nicht besser passen, ein wenig in den Alleen auf und ab zu gehen, als hier zu sitzen? Der Abend fängt an kühl zu werden!« Nina hatte dieß bisher nicht empfunden, aber jetzt schien es ihr wirklich kühl zu sein. Sie erfüllte indeß den Wunsch des Grafen und stand auf, nachdem sie den kleinen garstigen Jungen noch einmal geküßt hatte, der sich nur ungern von ihr zu trennen schien. Die Handwerkerfamilie stand ebenfalls auf, und wandte sich mit warmen Danksagungen an Nina. Graf Ludwig gestattete ihr kaum, dieselben mit ihrer gewöhnlichen Anmuth entgegenzunehmen und zu beantworten; er zog sie beinahe von dem Platze und sagte nachläßig: »Schon gut, ihr lieben Leute. Die Kinder können das Uebrige mitnehmen.«

»Kennen Sie diese Leute, mit denen Sie so eben 256 en famille waren?« fragte er Nina, als sie sich entfernten.

»Nein,« antwortete diese, indem sie ihn mit einiger Unruhe ansah.

»Ich auch nicht,« sagte er gleichgültig. »Vielleicht ehrliche Leute, vielleicht auch Galgenvögel.«

»Lassen Sie uns das Beste glauben,« sagte Nina mild. »Ich glaube nicht bloß, sondern bin auch durch das ganze Aussehen und Gespräch dieser Leute überzeugt worden, daß sie redlich und ehrlich sind.«

»Das Räthlichste bleibt indeß immer, so schnellen und intimen Freundschaften, namentlich mit Menschen dieser Art, aus dem Wege zu gehen. Dieß ist das Beste für uns und für sie.«

Nina ließ sich durch die Herbheit in Graf Ludwigs Ausdruck nicht irre machen, sondern erzählte einfach und freundlich, wie die Bekanntschaft sich entsponnen hatte. Graf Ludwig verzog sarkastisch den Mund, und sagte:

»Ich gebe zu, daß nach dieser Darstellung etwas mehr Romantik in der Sache liegt – ja, Sie dürfen sogar hoffen, die ganze Scene dereinst in einem Roman paradiren zu sehen.«

»Sie dürfen mir glauben, daß ich daran nicht gedacht habe,« sagte Nina Etwas aufgeregt.

»Ganz anders und vermuthlich ganz matt,« fuhr Graf Ludwig fort, »wäre das Ding ausgefallen, wenn Sie es einfach und verständig behandelt hätten, d. h. wenn Sie dieser Handwerkerfamilie die Früchte durch Ihren Bedienten hätten zustellen lassen. Ich stehe dafür, daß sie ihnen eben so gut geschmeckt haben würden.«

»Das möchte ich doch nicht behaupten,« sagte Nina Etwas eifrig, » denn wie leicht hätte sich ihr Zartgefühl dadurch verletzt finden können? Ueberdieß warum sollte meine Art zu handeln nicht die einfachste gewesen sein, wenn man den Ort und die Umstände bedenkt? Ist nicht gerade das unnatürlich, wenn der Mensch im alltäglichen Leben sich immer in eine Art Vertheidigungzustand 257 gegenüber von seinem Mitmenschen befindet? Im Himmel, wo Alles in seiner Ordnung ist, werden sich die Leute gewiß auch ganz anders und weit herzlicher begegnen, als hier gewöhnlich geschieht.«

»Lassen Sie uns solche Begegnungen bis dorthin aufsparen,« sagte Graf Ludwig trocken. »Wir leben jetzt auf der Erde, und welch unangenehme Folgen aus unvorsichtigen Bekanntschaften entspringen können, haben wir oft Gelegenheit zu sehen.«

O meine junge Leserin, ich sehe im Geiste, wie hier deine Augen blitzen, und wie du an Ninas Stelle stolz dein Köpfchen erhoben und geantwortet hättest:

»Wenn der Herr Graf der Ansicht sind, meine Unvorsichtigkeiten könnten unangenehme Folgen für ihn haben, so will ich ihn diesen nicht aussetzen, und es ist das Beste, wir trennen uns auf immer.«

Wie liebe ich diese Sinnesart bei dir und deine Antwort, du Gute! denn daß du so denken und antworten kannst, ist mir ein sicheres Zeichen, daß dein Herz und dein Wandel rein sind, und du dir Nichts vorzuwerfen hast.

So stand es aber nicht um Nina. Sie hatte sich große Schwachheit, große Unvorsichtigkeit vorzuwerfen, und deßwegen antwortete sie nicht auf diese Weise. Nina schwieg, obgleich die Härte in Graf Ludwigs Anspielung ihr Herz schwellen machte und Thränen in ihre Augen drängte; allein ihre natürliche Demuth, das Bewußtsein, gefehlt zu haben, die Erinnerung an des Grafen Benehmen in der letztverflossenen Zeit, Alles dieß ließ keine Spur von Aerger in ihr aufkommen; sie schwieg bloß tiefniedergeschlagen, während sie am Arm des strengen Liebhabers unter den dichtbelaubten Bäumen hinging. Graf Ludwig brach das Stillschweigen mit folgenden Worten: »Wenn ich vorhin zu eifrig oder zu hart über diese Sache gesprochen habe, so nehmen Sie es mir nicht übel. Die Natur hat mir eine geschmeidige und schmeichelnde Zunge versagt, und ich weiß, daß es mir schwer ist, den Damen 258 zu gefallen. Dieß ist mein Unglück, aber glauben Sie mir, ich meine es gut.«

»Das glaube und weiß ich,« sagte Nina mit Wärme, gerührt von dem Tone, mit dem er die letzten Worte ausgesprochen hatte, und sie drückte leicht seine Hand, als er die ihrige an die Lippen führte. Schweigend spazierten sie weiter, und Nina erging es, wie oft in Graf Ludwigs Nähe, d. h. ein Geist des Schweigens schien über sie gekommen zu sein. Sie fand keine Worte, um sich auszusprechen, und auch ihre Gefühle und Gedanken waren gleichsam gefesselt. Zwei ganz ungleiche Empfindungen können diesen Zustand hervorbringen – die Liebe und die Furcht. Ninas Empfindung war nicht Liebe.

Als sie umkehrten, war es finster geworden. Die Luft war feucht, und kühle Nebel standen zwischen ihnen und ihrer Heimath. Ein Schauer durchfuhr Ninas zarte Gestalt. »Sind Sie unwohl?« fragte Graf Ludwig mit Theilnahme. »Nein,« antwortete sie, »aber ich friere.« Sie gingen schneller. Diese Wanderung an Ludwigs Seite bedrückte Nina. Sie kam ihr wie ein Bild ihres künftigen. Lebens vor. Alles so stumm, so kühl und dunkel. Sie gingen an dem Tische vorbei, an welchem die Handwerkerfamilie gesessen hatte. Er befand sich in demselben Zustand, wie vorher, und die Früchte waren nicht mitgenommen worden. Graf Ludwig murmelte Etwas von »dummem Hochmuth« zwischen den Zähnen. Nina dachte an ein anderes Wort, sprach aber Nichts. Sie eilte, um an Edlas Seite, in ihrer Gesellschaft den unfreundlichen Eindruck, den sie empfangen hatte, zu vergessen. Es war ein eigenthümlicher, unglücklicher Umstand, daß Edla beinahe nie, Nina dagegen oft bei Graf Ludwig diese Charakterzüge und Launen wahrnahm, aus welchen man ersehen kann, was der Mensch in seinem Hauswesen, in seinem Alltagsleben und für seine Umgebung ist. Vielleicht sah auch Edla gar zu ausschließlich auf das, was den Staatsmann und Staatsbürger auszeichnet. Nina dagegen hatte mehr Gefühl für die Tugenden, 259 welche das Glück des Familienlebens begründen. Gleichwohl hatte sie jetzt allen eigenen Willen dermaßen unterdrückt, daß sie ihren Gedanken nicht erlaubte, bei dem zu verweilen, was sie an Graf Ludwig verletzte und kalt machte. Sie richtete sich nach seinen Wünschen, dachte an seine ausgezeichneten Eigenschaften, achtete sie und versuchte es in allem Ernst ihn zu lieben. Ein Versuch zu lieben ist eine Sisyphusarbeit.

Edla reiste mit ihrem Vater ab, der sich wie ein Kind ganz ihrer Leitung überließ, und tief erschütternd war diese Trennung für die durch Gemüthsbewegungen bereits sehr geschwächte Nina. Was Edla betrifft, so schien sie ruhig, und nur ihr auffallendes Zittern am ganzen Leibe verrieth den schmerzhaften Streit, der in ihrem Innern vorging. Sie hielt Nina lange an ihre Brust gedrückt, gleich als wollte sie ihr die Kraft mittheilen, die darin wohnte; sodann legte sie ihre Hand in die des Grafen Ludwig, und sah beide mit einem unbeschreiblichen Blicke an, konnte aber nicht sprechen.

Wir können unmöglich von all dem Gerede, all den Erzählungen, Ausrufungen und Anekdötchen Notiz nehmen, welche die Ereignisse in der G.'schen Familie bei der Badgesellschaft hervorriefen. Sie waren eine unerschöpfliche Quelle für Gespräche, Zuflüsterungen und Muthmaßungen. Die Quintessenz davon verdichtete sich meistens in dem Ausruf: »Die arme Gräfin! O das ist ihr theuer zu stehen gekommen!« und in der moralischen Schlußfolgerung: »Was sind wir doch, wir arme Menschen? Heute frisch und gesund, morgen am Rande des Grabes. Das Beste ist, man hält sich stets bereit.«

Nach Edlas Abreise schien Nina allmählig wieder in ihre frühere farblose Gleichgültigkeit zu verfallen, allein sie kämpfte sichtbar dagegen. Ein stiller, milder Ernst, eine unbeschreiblich anziehende Liebenswürdigkeit gegen Alle breitete eine Art Zauber über sie und ihre Umgebung aus. Auch Graf Ludwig fühlte den Einfluß desselben immer mehr, und wurde in ihrer Nähe milder. 260 Er hatte die Empfindung, sie sei das einzige Weib für ihn; er fühlte sich von Tag zu Tag mehr zu ihr hingezogen; sie wurde ihm immer nothwendiger, und er nahm es beinahe als ein Unglück auf, als ihm durch den Tod eines gleichgültigen Verwandten ein großes Erbe in Frankreich zufiel, dessen Ueberwachung seine persönliche Anwesenheit erforderte.

Kurz nach Edlas Abreise mußte auch er sich von Nina trennen. Er that es mit aufrichtiger und tiefer Bekümmerniß, und konnte nicht einmal die Zeit des Wiedersehens mit Gewißheit bestimmen. Wie viel leichter Nina nach seiner Abreise das Leben und sogar die Luft um sich her fühlte, davon hatte Graf Ludwig keine Vorstellung. Er glaubte, sie habe sich fest an ihn gekettet, als an ihre künftige Stütze im Leben, und wir wollen nicht läugnen, daß dieser Gedanke an eine Stütze allein schon manches schwache weibliche Wesen bestimmt hat, sich mit Hingebung an eine harte, ja sogar eine Felsennatur anzuschließen. So war es indeß nicht bei Nina; was sie bedurfte, war eine von innen heraus belebende Kraft, war eine Sonne. Graf Ludwig glaubte, sie sehe zu ihm als zu einer Art höherem Wesen hinauf, und dieß war wirklich die Art von Ergebenheit, die seine herrschsüchtige Seele am liebsten wünschte.

Kurz nach Edlas Abreise erhielt Nina von ihr folgende Zeilen:

»Wenn wir von denen, die wir lieben, entfernt sind, geschieht es oft, daß ein Wort, eine Handlung uns ins Gedächtniß zurückkehrt, begleitet von dem stillen Vorwurf: du warst nicht mild, nicht schonend genug. Auch ich, liebe Nina, habe solche Erinnerungen, und möchte so gern den Eindruck manchen Augenblicks von unserm letzten Zusammensein bei dir verwischen.«

»Ich bin fern von dir, und kann nicht mit dir sprechen, muß also schreiben. Meine gute Schwester, bewahre diese meine innige Bitte in deinem Herzen: 261

»Sei nicht zu streng gegen dich selbst; beurtheile dich selbst nicht zu hart, und laß dich vor Allem durch das Ereigniß, das einen Schatten auf deinen Ruf geworfen hat, nicht gar zu tief in deinen eigenen Gedanken herabsetzen. Die wirkliche, vollbrachte That ist es, die uns in den Augen der Gesellschaft herabsetzt, aber der eigentliche Fall geschieht nicht durch diese. Er ist lange vorher in uns selbst vorgegangen. Der erste Gedanke, Nina, das erste unreine Gefühl, das muß gefürchtet, das muß bekämpft werden. Wache über die Bewegungen in deiner Seele, meine Schwester; sie sind es, die, geordnet und geheiligt, allmählig den Werth deines Wesens schaffen; sie sind es, die ungeordnet deine Seele allmählig in das Niedrige, in das Verächtliche hinabziehen, und dieß auch, wenn keine That den Blicken der Menschen deine Schwachheit verrathen hat. Unser geordnetes Staatswesen, unsere gesellschaftlichen Verhältnisse, die Vorschriften weltlicher Klugheit verhindern manche äußere Unordnung. Aber wie wenig Menschen sind aus reiner Liebe zur Tugend tugendhaft, wie wenige bemühen sich, auch vor den Blicken des Schöpfers rein zu erscheinen, und doch ist dieß die einzige wahre Tugend, die einzige reine Reinheit. Wenn die Liebe zu ihr, wenn das Streben nach ihr in des Menschen Seele erlischt, dann ist er gesunken. Wenn sie wieder belebt werden, dann richtet sich der Mensch auf und kommt Gott näher, auch wenn er in den Augen seiner Mitmenschen tief gesunken ist. Aber der Bund mit dem Heiligen führt meistens auch zur Versöhnung mit der Gesellschaft, und auf diesem Wege gewonnen, muß sie uns kostbar sein. Aber, Nina, keine Verwandlung geschieht auf einmal. Auch in der Puppe arbeiten unabläßig die Kräfte, welche später die strahlenden Flügel des Schmetterlings entwickeln. Unsere tägliche Beschäftigung, unsere Gesellschaft, unsere Gespräche und Lektüre, unsere Gedanken und unsere Gefühle sind Fäden, die in unmerklichem, aber innigem Zusammenhang das Gewebe unseres Lebens bilden. Der Augenblick 262 bereitet die Ewigkeit. Wir verschleudern den erstern, und wie können wir dann die Fülle der letztern gewinnen? Die Minute geht mit der Stunde schwanger, die Stunde mit dem Tag, der Tag mit dem Monat, der Monat mit dem Jahr, das Jahr mit dem ganzen Leben des Menschen; dächten wir oft daran, wie weit besser würden wir dann nicht denken!«

»Mein gutes Kind, erkenne vor Allem, was du jetzt zu thun hast; denke an die verflossene Zeit, hauptsächlich um daraus Licht für die zukünftige zu schöpfen; denke an den Weg nach Oben, den du zu wandern hast, und wenn deine Seele sich gereinigt, wenn dein Wille sich liebevoll unter den Willen des göttlichen geordnet hat, dann wird dein Herz ruhig werden, dann wirst du des edelsten Mannes würdig sein, und glücklich machen deine

»Edla.«

 

Ende des ersten Theils.

 


 


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