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18. Der Strandinspektor

Als bei diesem Herbstthing Peter Matthißen, der Landvogt, Lorens den Hahn zum drittenmal fragte, ob er sich nicht endlich ganz für die See bedanken wollte, antwortete dieser mit einem unwillkürlichen Seufzer:

»Das Reißen fragt nicht nach dem Wollen. An jedem Nebeltag schließt es mich krumm, das paßt sich nicht für einen Grönlandkommandeur.«

»So komme ich morgen abend zu dir,« sagte Peter Matthißen; »ich habe lange auf dich gewartet.«

Als der Landvogt am andern Abend kam, hatte Inge blankgeputzte Öllämpchen in Stube und Pesel entzündet, in dem vielarmigen Deckenleuchter und auf dem Tisch aber brannten Kerzen, die Lorens aus London mitgebracht hatte. Es sah schmuck und festlich aus, und als Peter Matthißen eintrat und sich behaglich die Hände rieb in der warmen Stube – denn draußen wehte ein fliegender Südwest – da mußte Lorens unwillkürlich an seinen ersten Besuch bei des Landvogts Vater, dem glücklichen Matthis, denken, und er lächelte still vor sich hin. Ja, er hatte erreicht, was er damals als Junge geträumt hatte. Sein Haus war eins der ersten auf der Insel, und an seine Frau reichte keine andere heran. Sein Auge leuchtete auf, als sie nun hereinkam, um den Gast zu begrüßen und den Wein einzuschenken, den Merret mit des Vaters silbernen Krügen zugleich von draußen brachte. Während das junge Mädchen die Pfeifen stopfte, und noch einmal ringsum die Lichter putzte, sprach Inge ein paar ruhige Worte zu Peter Matthißen über den Sturm draußen, die Ernte vom Jahr – und fragte ihn nach Frau und Kindern. Dabei aber war ihr Wesen so voll ruhiger Würde, daß der Landvogt ihr mit Ehrerbietung antwortete und auch seinerseits ein paar rasche Fragen über Gemeindeangelegenheiten an sie richtete.

»Ihr Frauen wißt besser darüber Bescheid als die Männer, die sich draußen herumtreiben,« sagte er lächelnd, und ein Widerschein seines Lächelns ging auch über ihr Gesicht.

»Lorens will sich nun für die See bedanken, da ist es gut, wenn er sich in Gemeindefragen einarbeitet,« antwortete sie freundlich und ging dann mit Merret hinaus; »gute Verrichtung!«

»Ja, Lorens, deine Frau hat recht,« sagte der Landvogt lebhaft. »Ich komme nicht ohne Grund zu dir. Mir machen die Sylter noch graue Haare, wenn ich nicht einen Helfer hier finde.«

Soeben hatte Lorens Hahn noch in behaglicher Freude seiner Frau und Tochter nachgeblickt, nun wurde sein Blick kühl und prüfend, sein Gesicht verschlossen.

»Es wäre wohl gut, wenn du Sylt ganz abgeben könntest,« meinte er zurückhaltend und sog an seiner Pfeife, aber Peter Matthißen wehrte sogleich ab.

»Dänemark hat kein Geld, um euch Syltern wieder einen eigenen Landvogt zu geben« – und wird es so lange nicht haben, bis mein Ältester ausstudiert haben wird, setzte er in Gedanken hinzu. »Nein, nein, den eigenen Vogt laßt nur schwimmen, den fischt ihr doch nicht. Für alles andere kann ich auch wohl aufkommen, nur – der Strand!«

Über Lorens Hahns Gesicht ging ein Wolkenschatten.

»Muchel Carstensen ist alt.«

»Wohl, wohl, er tut, was er kann, und der Sohn läuft wohl auch einmal für ihn –«

Der Landvogt brach ab und beobachtete das Gesicht seines Wirtes, aber das war kalt und gleichgültig. Bedächtig nahm er einen Schluck Wein, drehte und wendete den schönen Krug bewundernd hin und her und fing dann wieder an:

»Carsten Muchels, der Sohn, macht sich Hoffnung auf die Strandvogtei, wenn der Vater stirbt, und wenn ich keinen Beweis gegen ihn habe, muß er sie wohl auch bekommen.«

»Soll ich meinen Nachbarn auf die Finger passen?« fragte Lorens spöttisch, aber er war innerlich erregter, als er sich merken ließ. Jener Weihnachtsabend stand wieder vor ihm, an dem er dem Nachbarn Manne Tettens blutige Hand auf den Tisch geworfen hatte. Noch heute nagte der Gedanke an ihm, daß er den Mord hätte verhindern können, wenn er nicht mit seinem Kinde gespielt und nicht erst den Strandvogt gefragt hätte, ehe er sich auf den Weg machte.

»Gerade das ist es, was ich von dir wünsche,« sagte Peter Matthißen ruhig und tat, als sähe er nicht, wie Lorens betroffen aufhorchte. »Ich habe die Angelegenheit mit dem Justizrat Meley in Tondern oft und oft besprochen. Ich will dich zum Strandinspektor von Sylt machen. Du sollst die Vögte inspizieren und auch das erste Wort in allen Dingen haben, die die Dünenländereien betreffen. Es liegt alles bereit. Sobald du ja sagst, geht mein Gesuch an die deutsche Kanzlei nach Kopenhagen, und der Justizrat wird es befürworten.«

»Weshalb hängt das von meinem Ja ab?« fragte Lorens mißtrauisch.

»Weil ich einen Strandinspektor anstellen muß, wenn mir einer bewilligt wird, und weil ich keinem Sylter sonst genug traue, um ihn hier an den Strand zu setzen. Ein Sylter muß es aber sein, und du hast noch unter meinem Vater gefahren. Oder kannst du mir einen andern nennen?«

Lorens sann nach – nicht über einen anderen; er wußte viel zu genau, daß nur er selbst diesen Posten würde ausfüllen können. Aber das Angebot kam ihm überraschend, und er brauchte Zeit, um sich über seine eigenen Gedanken klar zu werden.

»Wie begründest du dein Gesuch?« fragte er endlich. Der Landvogt zuckte lässig die Achseln.

»Mit der Wahrheit: der Sylter Strand bringt zu wenig ein. In den letzten Jahren müssen einige kostbare Schiffe hier aufgelaufen sein, und was meldet Muchel Carstensen? Ein paar Schiffsgeräte und etwas Wrackholz.«

»Rantum muß einen Vogt bekommen, der Distrikt ist zu groß.«

»Aber die Vögte müssen eine Faust über sich spüren, sonst taugen sie nichts,« rief Peter Matthißen ärgerlich. »Carsten Muchels ist gut genug, wenn ihm einer auf die Finger paßt. Wenn er Alleinherr ist, wird er genau so gut in die eigene Tasche wirtschaften, wie sein Vater tat und der Rantumer tun wird, wenn du es nicht selbst bist. Ich will dich aber nicht nach Rantum setzen; ich will, daß du den ganzen Strand unter dir haben sollst von Hörnum Odde bis Listland hinauf. Laß die Vögte die Arbeit tun, aber paß du den Vögten auf, das ist's, was ich von dir will. Ich bin ehrlich, so sei du es auch; willst du, oder willst du nicht?«

Lorens stand auf, denn die Lichter brannten trübe. Er griff nach der Schere, um sie zu putzen, aber in Wahrheit wollte er sein Gesicht vor seinem Gast verbergen. Ob ich will? dachte er düster; ich habe keine Wahl. Vor meiner Seele steht einer mit handlosem Armstumpf, der zwingt mich an den Strand. Laut aber sprach er wie gleichgültig:

»Morgen, ehe dein Schiff geht, will ich dir Antwort bringen.« –

Ehe das neue Jahr anbrach, hatte Lorens Petersen Hahn seine Bestallung als Inspektor des gesamten Strand- und Dünengeländes von Sylt in Händen, und von da ab trieb es ihn hinaus bei gutem und schlechtem Wetter, bei schlechtestem aber am meisten. Wenn die See rief, wenn der Strand raste und die Dünen kochten, lief er mit langen Schritten durch den wilden Wirbel und spähte nach allen Seiten, wie die Möwen taten, die dicht über ihn dahinstrichen. Wurde sein Reißen auch nicht besser auf diesen Wegen, so wurde es doch nicht schlimmer, als wenn er hinterm Ofen gesessen hätte. Inge rieb ihn mit fliegendem Öl und strickte ihm wollene Rumpfwärmer. Ihm aber war wohl, wenn er draußen umherlaufen konnte. Er konnte den Mord in der Weihnachtsnacht nicht vergessen, und wenn er daheim blieb, quälte ihn die Erinnerung daran, als hätte er selbst ihn begangen.

So lief er am Strande umher und merkte bald, wie nötig eine scharfe Aufsicht war. Wohl brachte die steigende Bildung der Seefahrer steigenden Wohlstand nach Sylt, aber es gab doch immer noch viele, die, auch ohne Not zu leiden, gern mitnahmen, was die See ihnen vor die Füße warf. Es brauchte nicht immer ein ganzes Schiff mit voller Ladung zu sein – sie nahmen auch einzelne Balken, Bretter, Kisten oder Ballen, die von einem Schiffbruch auf hoher See herrührten. Wenn bei starkem Westwind sich tagsüber Spuren solchen Schiffbruchs zeigten, waren nachts die Dünen voll von Strandläufern, die eifrig nach Beute ausspähten. Muchel Carstensen hatte sich selten mehr nachts aufgemacht. Carsten Muchels, sein Sohn, würde es auch nicht getan haben, wenn Lorens ihm nicht mit dem Verlust seines Amtes gedroht hätte.

Ein Winterabend kam, an dem die See schwere Seidenballen, in Ölzeug eingenäht und Fässer voll kostbaren Weines auf den Strand rollte. Lorens hatte sich überzeugt, daß Carsten Muchels mit einigen zuverlässigen Männern südlich Westerland beim Bergen beschäftigt war. Die würden sich schon gegenseitig auf die Finger sehen, meinte er bei sich und ging weiter nach Rantum zu. Eine gute Stunde lang sah er nichts Verdächtiges, dann traf er einen jungen Menschen, der bei seinem Erscheinen nicht die Flucht ergriff, sondern ihm schon von weither winkte.

»Der scheint ein gutes Gewissen zu haben,« brummte er vor sich hin, und da er ihn erkannte, setzte er freundlich hinzu: »Nun, Niß Taken, wo brennt's?«

»Auf Hörnum, Lorens Hahn, da ist ein Schiff mit Tabak angekommen, aber wir Rantumer können allein nichts machen, die Amrumer und Führer sind uns zuvorgekommen.«

»Ihr Rantumer wolltet natürlich nur für des Königs Kasse bergen,« sagte Lorens spottend, aber der junge Mensch hielt seinem Blick tapfer stand.

»Wir Sylter haben wohl erstes Anrecht an den Bergelohn.«

»Hast recht,« antwortete Lorens, schnell versöhnt. »Lauf, was du kannst, Carsten Muchels ist beim Bergen noch vor Westerland. Er soll alle Westerländer aufbieten.«

Mit langen Schritten wanderte Lorens weiter nach Süden zu. Die See stand hoch, der Wind ihm halb entgegen, und der Strand war weich; es war ein mühsames Wandern. Die Dunkelheit der Nacht überfiel ihn längst, ehe er Hörnum erreicht hatte. Aber sein Zorn über den Einbruch der Amrumer und Föhrer verrauchte bei der langen Wanderung durchaus nicht, und als er endlich einen halbwüchsigen Bengel traf, der einen schweren Ballen hinter sich herschleppte, verwalkte er ihn ohne weiteres Verhör so herzhaft, daß der Junge heulend um Gnade schrie.

»Ich wollte ihn Euch ja nur bringen, Lorens-Ohm,« schrie er aus Leibeskräften.

»So? Das wollte ich dir auch nur geraten haben,« antwortete Lorens ungerührt, der jetzt erst einen seiner eigenen Brudersöhne erkannte; »ist Vater auch draußen?«

»Alle Mann,« sagte der Junge und rieb sich den Rücken; »aber gegen die Amrumer kommen sie doch nicht auf.«

So war es auch. Als Lorens endlich die Unglücksstelle erreicht hatte, fand er dort einen wüsten Knäuel von Menschen, die mit Fäusten und Schimpfreden aufeinander losfuhren. Was einer glücklich geborgen hatte, wurde ihm im Schutz der Nacht von dem andern wieder geraubt, und als Jan Petersen Hahn die Rantumer hatte aufreizen wollen, gegen die Amrumer und Föhrer geschlossen vorzugehen, da hatten ihn die Amrumer in die See gestoßen, und er hatte sich nur mit Mühe retten können.

»Laßt sie nur laufen,« rief Lorens mit lauter Stimme, »die Westerländer kommen schon, Niß Taken hat sie geholt.«

Die Fäuste der Männer sanken herab. Die Westerländer kamen? Dann hatten die Rantumer freilich nicht mehr nötig zu kämpfen. Die Amrumer und Föhrer aber mußten machen, daß sie in ihre Boote kamen, denn mit den Westerländern vereint waren die Rantumer ihnen an Zahl weit überlegen. Sie schleppten also ihre Beute, die so groß nicht war, nach dem Watt hinüber. Dort aber waren inzwischen ein paar Boote auf geheimnisvolle Weise verschwunden, und da die Amrumer und Föhrer sich nun in die zurückgebliebenen Boote teilen mußten, gingen diese so tief, daß sie kaum ein paar der schweren Ballen mitnehmen konnten.

Bald danach kamen die Westerländer in Scharen an, manche gleich mit Pferd und Wagen, um die reiche Beute auch bergen zu können. Mittlerweile war es Mitternacht geworden und in der Dunkelheit von Meer und Himmel nicht das geringste mehr zu erkennen. Lorens ließ ein Feuer in den Dünen anzünden und alle bisher gefundenen Ballen daneben aufstapeln. Das waren nicht viele. Zwei waren auseinander gebrochen, die gab Lorens frei. Sie enthielten wirklich Tabak, und die Männer stopften sich die Pfeifen oder, wer keine Pfeife bei sich hatte, nahm eine Handvoll in den Mund und kaute ihn. Das tröstete über die langen Stunden des Wartens. Wunderlich aber war, daß sich in den langen Brandungswellen, so weit die Sylter sie auch mit Fackeln ableuchteten, kein einziger Ballen mehr zeigen wollte.

»Wo liegt denn das Schiff?« fragte Lorens.

Da stellte sich denn heraus, daß niemand von den Syltern das Schiff wirklich gesehen hatte. Ein Rantumer hatte die Amrumer kommen sehen; daraufhin waren sie allemann nach Hörnum gezogen, wo sie die Amrumer schon mit Bergen beschäftigt fanden. Die hatten gesagt, das Schiff wäre weit draußen auf Hörnum Odde aufgelaufen. Der Süd-Nord ziehende Strom aber hatte die Ballen den Hörnumer Strand hinaufgetragen.

Der Tag brach an, doch kein Schiff zeigte sich. Auf Hörnum Odde wurden nun bei Niedrigwasser noch ein halbes Dutzend Tabaksballen gefunden – das war alles. Das Schiff selbst aber war und blieb verschwunden, und endlich zogen die Männer brummend ab. Lorens meinte bei sich, daß die Amrumer den Rantumern wohl nur etwas vorgeschnackt hätten, aber die Sage von diesem Tabaksschiff ging noch lange auf Sylt um. Zwei Braderuper Fischer ertranken bei der Suche danach, die Föhrer und Amrumer kamen immer wieder, und endlich sogar Blankeneser und Helgoländer, aber, wie der Chronist berichtet: »Haben all nichts gefischet.«

Nächte wie diese zeigten Lorens wohl, daß er nicht mehr der Jüngste war, denn danach lag er, stöhnend vor Gliederschmerzen, ein paar Tage im Wandbett, aber solche Nächte zeigten ihm auch, wie stark die Neigung zum Strandlaufen allen Syltern im Blute rumorte. Es ist mit dem Strandgang wie mit der Jagd. Wohl mancher Mensch wird zum Wilderer, nur weil er die Jagdleidenschaft nicht bezähmen kann. Das Strandlaufen aber führt zu Diebstahl, Hehlerei, Raub und Mord, wenn nicht die wenigen, die klarer sehen, die Begierden ihrer Mitmenschen zu fesseln imstande sind.

Lorens Petersen Hahn wußte, was Jagdleidenschaft ist, denn er hatte hundertmal selbst in ihrem Banne gestanden, sobald ein aufsteigender Strahl den blasenden Walfisch verriet, der selbst vom Schiffe aus noch nicht zu sehen war. Er hatte sich der Leidenschaft auch rückhaltlos hingegeben und mehr als einmal Schiff und Leben auch an unsicheren Gewinn gewagt. Aber der Walfisch war auch freies Wild, und die Jagd auf ihn stand jedem Schiffe frei, das nur die Fuhrt ins Eis wagen mochte. Was am Sylter Strande antrieb, war hingegen nicht frei, und Lorens setzte sich nun ganz dafür ein, diese Tatsache seinen Landsleuten ins Bewußtsein zu bringen und ihnen das Gewissen zu schärfen.

Die Sylter murrten. Sie sahen ihr Unrecht nicht ein, ebensowenig wie ein Wilderer, dessen Leidenschaft alle Vernunft überwuchert. Aber Lorens der Hahn hatte als Grönlandkommandeur Tag für Tag ein halbes Hundert zum Teil rohe und unbändige Männer unterm Daumen halten müssen, so ließ er sich auch jetzt von den Strandläufern nicht einschüchtern. Wem er Strandraub nachweisen konnte, den zeigte er ohne Erbarmen an. Wen er aber etwa selbst bei verdächtigem Tun erwischte, den züchtigte er ohne viel Federlesens an Ort und Stelle. Nach einigen Jahren setzte er es durch, daß Niß Taken zum Strandvogt von Rantum gemacht wurde. Den zog er auch zu seiner Meinung herüber, daß ein tüchtiger Stockhieb meist wirksamer ist als ein langwieriges Klageverfahren.

So reinigte Lorens Petersen Hahn allmählich den Sylter Strand von allen, die Unrecht tun wollten. Es ging oft hart auf hart, aber wer strandjen geht, ist am liebsten allein, weil er keinem Genossen einen leckeren Fund gönnen mag. So stand Lorens immer nur dem einzelnen gegenüber, und da er das Bewußtsein des Rechttuns auf seiner Seite hatte, wurde er immer noch Herr über den Gegner. Trotzdem er sich aber auf die Art alle Strandläufer von Sylt zu Feinden machte, wagte doch niemand, ihn öffentlich anzugreifen. Rechtlichkeit, Menschlichkeit und die Überlegenheit seines Geistes dienten ihm als Schutzwehr – fester und sicherer, als wäre sie aus Stahl und Eisen gewesen.

Lorens Petersen Hahn duldete nicht, daß jemand auch nur einen Balken auf eigene Rechnung vom Strande holte, aber er schaffte manch armer Witwe selbst Strandholz genug für den ganzen Winter ins Haus und bezahlte es aus der eigenen Tasche. Er war unnachsichtlich hart gegen solche, die aus Trägheit nicht vorankamen und arm blieben, weil sie nichts gelernt hatten, aber den ganzen Winter hindurch stand sein Haus jedem offen, der etwas von ihm zu lernen begehrte, und niemand bat ihn je vergebens um einen Rat. Mit der helfenden Tat griff er nur dort ein, wo durch Krankheit oder Tod des Ernährers unverschuldete Not entstanden war, sonst aber war sein Wahlspruch: Selbst ist der Mann! Oder, wie die Seeleute sprechen: Gott hilft dem Schiffer wohl, aber rudern muß er doch selbst.

Als Lorens Petersen Hahn endlich im vierundsiebzigsten Jahre seines Lebens starb, trauerten mit Inge und ihren Töchtern alle die um seinen Heimgang, denen er Gutes erwiesen hatte, oder die ihn um seiner Rechtlichkeit, Menschlichkeit und der Überlegenheit seines Geistes willen geliebt hatten. Da er keinen Sohn hinterließ und die männlichen Nachkommen seiner Brüder endlich auch ausstarben, ist der Name Hahn heute von der Insel verschwunden, aber seine Eigenschaften sind in den Nachkommen seiner Töchter, deren es hundert Jahre nach seinem Tode schon 278 gab, noch heute lebendig, und sein Andenken wird nicht sterben, solange die Insel selbst noch dem Ansturm der wilden Nordsee trotzigen Widerstand bietet.

Worterklärungen als Fußnoten eingepflegt. Re.


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