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2. Wie Lorens den Zunamen »der Hahn« erhielt

Es waren in diesen Zeiten viel kriegerische Unruhen auf dem Festlande. Der dänische König hatte den Herzog von Schleswig und Holstein aus dem Lande vertrieben und schickte nun Werber nach Sylt, um dort Soldaten anwerben zu lassen. Aber die Sylter wollten nicht dem fremden König gegen den eigenen Herzog dienen und gingen durch, ehe die Werber sie greifen konnten. Peter Jens Grethen nahm Lorens mit nach Helgoland, denn wenn Lorens auch erst elf Jahre alt war, so war er doch groß und kräftig für sein Alter, und die Dänen würden ihn wohl gern als Trommlerjungen mitgenommen haben.

Peter Jens Grethen fuhr mit einem Helgoländer auf Part, d. h. sie teilten sich in die Arbeit und teilten auch den Gewinn. Aber dieser Helgoländer hatte eigene Jungen und konnte Lorens nicht brauchen. So kam Lorens zu einem andern. Auf dessen Schaluppe war er der einzige Junge unter lauter Männern, aber der Schiffer duldete nicht, daß er von den Männern geschunden wurde, denn er merkte bald, wie nützlich ihm Lorens sein konnte, weil er den Gang der Gestirne kannte und auch an dunklen Tagen nicht leicht den Sinn für die Himmelsrichtungen verlor. Lorens aber war glücklich tagaus, tagein, wenn er nur das lebendige Wasser unterm Kiel spürte und den blanken Fisch zwischen seinen Fingern.

Im Herbst waren die Kriegsgerüchte noch nicht zum Schweigen gekommen. Da ging der Vater allein nach Sylt zurück, um nach den Seinen zu sehen. Er selbst könnte den Werbern wohl aus dem Wege gehen, meinte er, aber er wollte nicht Lorens noch überher hüten; nach Helgoland oder, wie der Schiffer sagte: »aufs Land« würden die Werber wohl nicht kommen.

So blieb Lorens auch im Winter bei dem Helgoländer Fischer, und er war es zufrieden. Auch im Winter kam mancher Tag, an dem man wohl ein paar Butt einbringen konnte, und wenn es sonst nichts gab, warf man Hummer und Taschenkrebs ins kochende Wasser und zerbrach ihnen die Scheren. Wenn auch nicht alle Tage Fangtag, so war doch jeden Tag Eßtag. Der Schiffer hielt ihn gut. Sie strickten Strümpfe und strickten Netze für den nächsten Sommer, und flickten die langen Grundleinen, mit denen man den Schellfisch fängt. Dazwischen kletterte Lorens mit den andern Buben am Felsen herum, wenn die Schnepfen strichen, und griff sie mit der Hand, wenn sie sich in die Ritzen und Löcher duckten, um von dem Fluge über die stürmische See auszuruhen. Er fing mit dem Ketscher die Kleinvögel, die in dunklen Nebelnächten sich nach der Feuerblüse zogen, und er traf tagsüber mit der Schleuder manche Krähe zu Tode. So brachte er immer etwas in den Kochtopf; das gewann ihm das Herz der Hausfrau. Der Schiffer selbst schüttelte freilich manchmal den Kopf über ihn: »Junge, sitz' doch still!« Aber das nützte nicht viel.

Lorens hielt den Winter wohl aus, aber er brannte aufs Frühjahr, und niemand schaute gespannter als er nach den ersten Fischen aus. Denn es ist nicht so wie manche glauben, daß die Nordsee zu allen Jahreszeiten und bei jedem Wetter voll ist von Fischen aller Arten, so daß man nur die Netze auszulegen braucht, um sie dann gefüllt wieder einzuziehen. Sondern jeder Fisch hat seine Zeit, und wer den Schellfisch verpaßt, muß hernach mit dem Hering vorlieb nehmen.

Endlich kam der März; es kam der Schellfisch und der Dorsch, den die Fischer auch Kabeljau nennen. Aber die Helgoländer kamen immer noch nicht in Schwung. Ach gewiß, sie standen mit der Sonne zugleich auf und gingen an Bord. Sie legten die Leinen aus und nahmen sie ein paar Stunden später wieder ein und sammelten auf, was Gott ihnen bescherte. Aber das alles ging so gemächlich vor sich, daß Lorens schier aus der Haut fuhr. Das Doppelte würden sie fangen können, wenn sie nur früher aufstehen möchten, dachte er bei sich, aber als er dem Schiffer damit kam, wurde der böse.

»Was?« knurrte er; »ist Boy jetzt Kapitän? Will der Junge den Schiffer lehren? Soll ich ausfahren, ehe die Hähne krähen? Soll ich dem Nachbarn den Wind abkneifen? Das mag wohl auf Sylt Sitte sein – ein Helgoländer tut das nicht und wenn er darüber hungern müßte. Ein guter Nachbar ist besser als ein erzürnter Freund; das merke dir, mein Jüngsken!«

Und als Lorens trotzdem noch einmal anfing: »Jee, Baas Baas = Schiffer., es bleiben genug für den Nachbarn, auch wenn Ihr einen Fang voraus tut –« da nahm ihn der Alte unsanft bei den Ohren.

Ein paar Tage danach sprang der Wind, der im Nordosten eingeschlafen war, plötzlich bei Nacht im Südwesten wieder auf. Schwer schlug die Brandung auf den Strand und rollte die Steine und abgebröckelten Felsstücke, die dort lagen, mit schrillem Geräusch hin und her. Der Ton drang vom Erdboden aus durch die hölzernen Wände des Bettes, in dem Lorens schlief, und weckte ihn auf. Er horchte darauf und horchte auf des Schiffers dröhnendes Schnarchen. Dann kroch er leise aus dem Stroh und lief vor die Tür. Der Himmel war noch dunkel, die Sterne blinzelten hell, aber Lorens erkannte den glänzenden Funkler, den der Großvater den Frühlingsstern nannte, wie er eben über der Wasserfläche auftauchte. So wußte er, daß die Nacht vorüber war, und er meinte auch schon die Morgenluft zu spüren. Er lauschte – kein Wind war zu hören, aber die Brandung klang, als drückte ein Sturm weit im Südwesten schon auf das Wasser. Jetzt müßten wir ausfahren, dachte er zornig, dann könnten wir noch einen Fang tun, ehe das Wetter kommt. Aber der Baas steht nicht auf, ehe die Hähne krähen – das dauert noch zwei Stunden. Könnt ihr nicht eher aufwachen, ihr dummes Hühnervolk? Und indem er so dachte, krähte Lorens in seinem Ärger laut hinaus: »Kikeriki!«

Da rumpelte es neben ihm im Hühnerstall. Dumpf scholl krähender Gegenruf daraus hervor, und als Lorens noch ganz verdutzt darauf horchte, antwortete schon ein zweiter aus des Nachbars Stall – ein dritter von weiterher. Nun griff einer den Ruf auf, dessen Stall über Nacht offen gestanden hatte. Der kletterte auf den Misthaufen, schlug mit den Flügeln und krähte kampflustig in die kalte, dunkle Morgenluft hinaus: »Kikeriki – kikeriki!«

Im nächsten Augenblick waren die Hähne vom Oberland wach – in des Nachbars Haus flammte ein Schein auf, als bliese jemand das Herdfeuer an – da lief Lorens ins Haus zurück, stürzte sich auf den Fischer, rüttelte und schüttelte ihn und schrie ihm ins Ohr: »Baas – Baas – die Hähne krähn!«

»Verdammich! Bin ich noch müde,« brummte der Fischer, aber er griff nach den Stiefeln und schalt auf seine Frau, die die Morgensuppe nicht bereit hatte. Dann aber kamen sie doch bald aufs Wasser hinaus, und hatten die Leinen ausgelegt, ehe noch die Sonne sich blicken ließ. Das gab einen Fang! Es schien fast, als ob die Fische doppelt so schnell anbissen, solange die Dämmerung die Leinen unsichtbar machte. Lorens plagte den Schiffer, nach kürzerer Zeit schon, als sonst übertage üblich war, die Leinen wieder einzuholen, und wirklich waren sie überreichlich besetzt. Als sie bald nach Mittag des Wetters wegen heimfahren mußten, hatten sie nicht weniger als sonst an einem vollen Fangtage. Da legte der Schiffer seine Hände überm Ruder zusammen, wie nach einem guten Fang seine Gewohnheit war, und sagte aus Herzensgrunde: »Gott sei Dank für diesen Tag! Morgen mehr!« Und wahrhaftig bescherte ihm Gott am andern Tage, da sie wieder so früh ausfuhren, aber bis zum Abend draußen sein konnten, noch bessern Fang.

Das ging einige Tage so weiter, aber den Helgoländer Jungen gefiel dies Leben nicht so gut wie dem Sylter. Sie schlichen ihm nach und lauerten ihm auf und kamen bald dahinter, daß er Nacht für Nacht schon vor Morgengrauen die Hähne reizte, bis sie vor der Zeit zu krähen begannen. Da fielen sie abends allemann über ihn her und verprügelten ihn auf gemeinsame Kosten. Es war ein arger Knäuel und ein solches Gewühl von Armen und Beinen, daß Lorens kaum mehr abbekam als die andern alle auch. Aber als der Kampf vorüber war, konnte er sich doch kaum mehr aufrecht halten und lehnte trutzig mit dem Rücken an der Hauswand, während seine Gegner mit geballten Fäusten und wütenden Schimpfreden immer wieder auf ihn eindrangen. Ein Fremder, der gerade vorüber ging, blieb stehen.

»Hee?« machte er und sah Lorens an, der sich das Blut aus dem Gesicht wischen wollte, es aber nur verschmierte; »wer bist denn du?«

»Lorens Petersen von Sylt,« antwortete der Junge und richtete sich straffer auf, doch ehe der Fremde weiterfragen konnte, schrie ein Helgoländer dazwischen:

»Lorens Petersen hieß er – jetzt heißt er der Hahn!« Und die andern fielen lärmend ein: »Ja, ja, der Hahn – der Hahn – Lorens der Hahn!«

»Der Hahn?« wiederholte der Fremde verwundert, und Lorens fing an zu lachen. Trotz Blut, Schrammen und Beulen lachte er aus Herzensgrunde. Doch je mehr er lachte, um so wütender schrien seine Widersacher. Es dauerte einige Zeit, ehe der Fremde aus der Geschichte klug werden konnte; doch dann schüttelte er den Kopf.

»Bist unklug,« sagte er kurz. »Boy ist nicht Kapitän. Du paßt nicht hierher; komm mit.«

Lorens hielt mit Lachen inne. »Wohin?«

»Auf Grönland.«

Der Junge lehnte sich fester an die Hauswand. Er kannte die großen Grönlandfahrer wohl, die an Helgoland vorüber nach Norden auf den Walfischfang fuhren, aber sie hatten ihn noch nie gelockt. Dort oben an Deck, haushoch überm Wasser, konnte man gewiß die See nicht so spüren wie in der kleinen Schaluppe. Und gar Speck schneiden, statt die glatten, frischen Fische zwischen den Fingern zu spüren – nein, das mochte er nicht. Der Fremde sah sein Zögern und zuckte die Achseln.

»Bist unklug,« wiederholte er. »Wirst noch einmal an mich denken, wenn du dies satt hast. Dann such mich in Hamburg.« – Er warf Lorens ein Geldstück zu, das der geschickt mit der Hand auffing. Dann ging er weiter, und die Buben starrten ihm mit offenen Mäulern nach.

»Wer war das?« fragte Lorens nach einer Weile.

»Kennst du ihn nicht? Matthis Peters von Föhr war das, der glückliche Matthis. Oha, der hat schon mehr Walfische gefangen als du Heringe. Zeige, was er dir gegeben hat. Einen holländischen Gulden – wahrhaftig, du hast auch mehr Fisch als Leine im Boot »Mehr Fisch als Leine im Boot« = mehr Glück, als dir rechtmäßig zusteht.

Sie wollten ihm das Geldstück abnehmen, aber Lorens ballte die Hand zur Faust und kämpfte sich durch den Knäuel hindurch. Als sein Vater ein paar Tage später ankam, zeigte er ihm den Gulden und erzählte sein Erlebnis.

»Weshalb fährt Vater nicht auf Grönland?« fragte er dann, aber Peter Jens Grethen gab ihm keine andere Antwort als die alte Rede:

»Lieber zu still, als zuviel.« –

Das Jahr brachte einen schönen Sommer. Ein paar Gewitter gingen über See nieder, die Leinen und Netze in Gefahr brachten, sonst aber gab es meist stilles Wetter. Leise gewiegt von der Dünung der Gezeitenströme ruhten die Schaluppen, Ewer und Kutter wie schwimmende Enten auf dem Wasser. Kein Unglück störte den ruhigen Gang der Ereignisse, aber wenn die Schiffe mit ihrem Fang die Elbe hinaufsegeln wollten, um ihn in Hamburg zu Markt zu bringen und in der flauen Luft kein Vorwärtskommen war, dann kam mehr als einmal dem jungen Lorens des Vaters Wort: »Lieber zu still als zuviel« störend in den Sinn, und er hörte des glücklichen Matthis spöttische Stimme: »Bist unklug – komm mit!«

Erst als im Hochsommer der Hering kam und bald danach auch das Wetter unruhig wurde, belebte sich der Betrieb, und dabei vergaß Lorens der Hahn alle überflüssigen Gedanken und hätte gern wieder gekräht, um ein paar Fangstunden am Tage mehr herauszuschlagen. Im Herbst aber machten die Stürme, daß er tagsüber kaum genug Essen hinunterschlingen konnte und abends doch todmüde ins Stroh kroch, so nahm ihn die schwere Arbeit mit. Aber seine Glieder reckten und streckten sich dabei und seine Muskeln wurden steinhart. Er nahm es mit manchem auf, der um Jahre älter war als er.

In diesem Winter war es Lorens schon selbstverständlich, auf dem »Land« zu bleiben, um im nächsten Frühjahr als erster Sylter mit hinaus zu fahren. So ging ein Jahr nach dem andern hin, und als er kaum ins fünfzehnte Lebensjahr eingetreten war, kam ein Tag, an dem er die achtzig Fragen des Helgoländer Ältestenrates über die Gestirne des Himmels und den Lauf des Herings und des Kabeljau, über die Sandbänke und Gründe zwischen Wangeroog und Eiderstedt, über die Einfahrt in die Elbe und alle See- und Landkennungen auf dem Wege von Helgoland nach Hamburg mit Auszeichnung beantworten konnte. Danach bekam er seinen Schein als vollbefahrener Mann und konnte nun, wie sein Vater und andere Sylter auch, mit einem Helgoländer auf Part fahren – wenn er wollte. Er wußte nun aber selbst nicht recht, ob er wollte. Sein Schiffer entließ ihn, er brauchte einen Jungen an Bord, keinen vierten Mann. So ging Lorens Jens Grethen oder, wie auf seinem Helgoländer Schein stand: Lorens Petersen der Hahn im nächsten Herbst einmal wieder nach Sylt zurück, nur weil er mit sich selbst nicht recht einig werden konnte.


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