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16. Das Volk richtet

Ein Jahr nachdem Manne Tettens »Hoffnung« am Sylter Strande zerschlagen war, fingen die beiden Brüder, mit denen Aaners und Niggels Petersen Hahn so lange zusammen gelebt hatten, an, sich ein Haus zu bauen. Ihre Hütte fiele ihnen über dem Kopf zusammen, sagten sie, und die Düne drückte das Strohdach ein. Aber das war seit Jahren schon so gewesen, und nie hatten sie Geld für ein anderes Haus aufbringen können. Wie sie nun dazu kamen, war ein Rätsel. Sie hatten über »Lorens Schulmeister« gelacht und die ganze Lernerei verachtet. So fuhren sie auch jetzt noch als einfache Matrosen, und was sie als solche auf ehrliche Art verdient hatten, konnten die andern Sylter ihnen auf Heller und Pfennig nachrechnen; das reichte bei weitem nicht zum Hausbau. Die Brüder backten ihr Haus aber nicht etwa selbst aus altem Wrackholz und Heideplaggen zusammen, wie in diesen armen Zeiten manche taten, sondern sie nahmen richtig einen Zimmermann an und ließen sich Backsteine von Husum kommen. Jedermann sah es und wunderte sich heimlich, aber niemand sprach darüber.

Auch im folgenden Sommer fanden die Brüder kein Schiff, das sie als Steuerleute oder Harpuniere mitgenommen hätte; wieder mußten sie als Matrosen fahren. Da kamen sie im Herbst zu Lorens und fragten ihn, ob sie nun nicht doch bei ihm lernen dürften. Er wich der Frage aus.

»Mein Bruder Manne wohnt euch näher und kann euch lehren, was ihr braucht, so gut wie ich. Weshalb geht ihr nicht zu ihm?«

»Er sagt, sein Pesel sei voll, er könne keine Schüler mehr annehmen.«

»So ist mein Haus übervoll,« antwortete Lorens und sah an ihnen vorüber.

Der ältere Bruder fuhr hoch.

»Was willst du damit sagen?«

»Die Wahrheit –« und da Inge soeben in die Stube trat, fragte er sie: »Wieviele kommen zu mir zum Lernen?«

»Achtzehn Junggäste außer den Kindern.«

»So seht ihr wohl, daß mein Haus übervoll ist. Schafft euch doch selbst Bücher an, daraus könnt ihr so gut lernen, wie ich es für mich einst tat.«

Die Brüder zogen ab, und Inge sah ihnen mit halbem Blick nach.

»Ihr Haus zerfällt, kaum daß es fertig geworden ist. In den Stuben sitzt der Schwamm. Das Rohrdach muß nach jedem Wind geflickt werden, und man sagt, daß in den neuen Balken schon der Totenwurm pickt.«

»Sie kamen, um mich zu bitten, und doch hatte ich ein Gefühl, als wären sie mir feindlich,« antwortete Lorens nachdenklich.

»Kein Wunder,« rief Inge. »Hättest du Manne Tettens Hand nicht gefunden, so wäre er verschollen geblieben, und niemand dächte an Mord.«

»Inge – um Gott, wahr' deinen Mund! Du weißt nichts und kannst nichts beweisen.«

»Ich bin nicht die einzige, die so spricht: wie kommt es, daß dies neue Haus so bald verfällt? Es ist von Blutgeld erbaut, da halten Steine und Holz nicht zusammen.«

Lorens schwieg, und nach einer Weile sprach Inge wie aus seinen Gedanken heraus:

»Hättest du die Hand nicht gefunden, so wäre der Schrecken nicht über die Insel gegangen, und wir würden auch heute noch von dem leben, was uns der Teufel auf den Strand wirft.« Sie trat zu ihm und legte ein buntes Gestrick vor ihn auf den Tisch: »Sieh, was unsere Älteste schafft. Der Jude gibt ihr bares Geld dafür.« –

Nein, Inge war nicht die einzige, die sich über den Verfall des neugebauten Hauses wunderte, und als erst einmal das Wort »Blutgeld« gedacht war, ging es auch von Mund zu Munde, obgleich jeder sich hütete, es laut auszusprechen. Als diese Stimmung erst die Kinder ergriffen hatte, war kein Halten mehr. In einer dunklen Nacht prasselte ein Steinhagel gegen die Fenster, von denen kaum eines heil blieb. Durch die leeren Höhlungen aber fuhr dann nicht nur der Wind, sondern faule Fische und tote Katzen flogen den Brüdern in die Stuben, ohne daß sie die Übeltäter je erwischen konnten. Die roten Backsteinmauern wurden von allen Mathematikschülern von Rantum als Schreibtafeln benutzt, auf denen sie mit Kreide ihre Formeln ausrechneten. An den Balken und Türpfosten erprobte jeder Sylter die Güte seines Messers. Die stattlichen Kühe im Stall fraßen gutes Heu, aber heimlich wurden sie oft von fremder Hand gemolken. Dazu kam ein Unglück nach dem andern, an dem niemand Schuld hatte. Die blöde Ingeborg, die den Brüdern haushielt, weil sich sonst keine Frau auf der Insel dazu fand, wurde von einem ungebärdigen Pferde vor die Brust geschlagen, daß ihr Herz zersprang und sie auf der Stelle tot umfiel; die Schafe wurden von einer hohen Flut geholt; eine Kuh brachte ein totes Kalb zur Welt; die Schweine wollten nicht fett werden trotz Molken und Fischfutter.

Immer mehr befestigte sich bei allen Syltern die Überzeugung, daß die beiden Brüder die Mörder des Manne Tetten wären und seinem Gelde ihren Wohlstand verdankten. Aber niemand stellte sie unter Anklage, kein Nachbar ließ ihnen gegenüber ein Wort fallen, das seine Meinung verraten hätte. Auf dem Petrithing war es, als trügen die Brüder die Pest in ihren Kleidern. Wo sie gingen und standen, war ein leerer Raum um sie, aber wenn sie von sich aus sich an die andern wendeten mit einem Wort, einer Frage, so trafen sie auf glatte Mienen und kalte Augen.

Eines Abends saß Jey, die Witwe des Manne Tetten, noch spät am Herdfeuer und strickte, wie die meisten Frauen jetzt taten, die auch ihrerseits Geld ins Haus schaffen wollten. Da trat ein kaum mittelgroßer, aber starker Mann mit finsterem Gesicht zu ihr in die Küche; eine brandrote Narbe lief ihm über die rechte Schläfe.

»Kennst du mich, Jey?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Ich bin Jan Petersen Hahn. Wir Rantumer wollen nicht, daß die Mörder Manne Tettens noch länger auf Sylt leben.«

»Wollt ihr die Klage vor den Landvogt bringen? Das hättet ihr am Petrithing tun müssen.«

»Der Landvogt würde uns nicht hören. Wir haben jeder Spur nachgeforscht; es gibt keine Beweise, und nur auf ›frommer Leute Reden‹, wie früher, hört heute kein studierter Landvogt mehr.«

»Was wollt ihr dann tun? Man kann Blut nicht mit Blut abwaschen.«

Jan Petersen Hahn zog einen Gegenstand aus seinem Wams und legte ihn vor Jey Mannen hin. Die Frau schrie halb erstickt auf.

»Die Hand – die Hand – wie ist es möglich, daß sie noch lebt? Habt ihr sie wieder ausgegraben?«

»Höre,« sagte Jan und klopfte mit der Hand auf den Tisch; »sie ist aus Holz. Muchel Carstensen hat sie geschnitzt den Winter durch. Er konnte das Bild nicht loswerden, seit sie auf seinem Tisch gelegen hatte. Du weißt, er ist geschickt mit dem Messer; hat er nicht das Kanzelbort in der Westerländer Kirche geschnitzt mit Herz und Kreuz und Anker? Nun fand er einen braunen Baumknorren im Tuul, fast wie eine geballte Faust. Da hat er mit dem Messer nur nachgeholfen, und jeder, der sie sah, schrie auf, wie du tatest.«

Die Frau stand aufrecht am Tisch, sah auf das hölzerne Schnitzwerk, und die Tränen rannen ihr still über das bleiche Gesicht. Endlich überwand sie sich und nahm die Hand auf, drehte und wendete sie langsam und betrachtete sie von allen Seiten. Dann ging sie hinaus, und als sie nach einer Weile zurückkam, trug sie einen kleinen Gegenstand in der hohlen Hand. Es war ihres Mannes silberner Daumenring; sie schob ihn selbst auf das hölzerne Schnitzwerk und gab es Jan Petersen Hahn zurück.

»Nimm,« sagte sie ruhig. »Das war es doch, was Ihr von mir wolltet.« –

Der folgende Tag war ein Sonntag, und wie immer im Winterhalbjahr waren alle Kirchen der Insel bis auf den letzten Platz gefüllt. Am dritten Fenster der Männerseite standen an diesem wie an jedem andern Sonntage die beiden Brüder, die das Sylter Volk für die Mörder des Manne Tetten hielt. Aber sie sahen mit finsteren Gesichtern vor sich zu Boden oder auf den Pastor, denn auch hier in der Kirche fühlten sie einen leeren Raum um sich her, obgleich die andern Männer ihnen so nahe standen, daß sie sie fast berührten.

Mitten unter der Predigt klopfte es dicht neben dem älteren der beiden Brüder von außen an das Fenster. Gleichgültig lenkte er den Blick dorthin, dann wurde er aschfahl. Eine der kleinen grünen Glasscheiben war aus dem Fenster herausgefallen. In der Lücke aber zeigte sich – zeigte sich –

Er packte seinen Bruder am Arm.

»Sieh – sieh –!«

»Was denn?«

»Nun ist es fort – Gott Dank!«

»Was sahst du denn?«

»Nichts – nein, es war wohl nichts.« Doch hafteten seine Blicke wie festgebannt an dem runden Loch, und plötzlich sah auch der jüngere Bruder, daß von außen eine Hand hineingriff – eine Hand mit einem silbernen Ring am Daumen.

»Siehst du auch die Hand!« fragte er, und seine Augen wurden stier.

Manne Petersen Hahn, der ihm zunächst stand, drehte sich nach ihm um, als hätte der Mann ihn angeredet.

»Hee?«

»Nichts, nichts,« sagte der ältere Bruder mit grauem Gesicht, aber der jüngere wiederholte lallend:

»Siehst du auch die Hand?«

»Welche Hand?« fragte Manne erstaunt.

»Die Hand im Fenster –«

»Da ist keine Hand.«

»Doch – nein, jetzt ist sie fort – Gott Dank!«

Der Pastor predigte ruhig weiter, als merkte er nichts von der Unruhe der Gemeinde. Einen Augenblick war es auch still, dann aber klopfte es wieder am Fenster, und der ältere Bruder packte den Arm des jüngeren:

»Halt's Maul, was du auch sehen magst,« raunte er ihm zu, aber Manne Petersen Hahn drehte sich doch nach ihnen um und stieß dann seinen Nachbar an:

»Sieh die beiden, die haben guten Branntwein im Haus, scheint mir.«

»Hee?«

»Ja, sie sehen eine Hand im Fenster; du auch?«

Manne hatte seine Stimme so wenig gedämpft, daß sich noch mehrere andere nach ihm und den Brüdern umdrehten.

»Da ist wohl ein dummer Junge außen vor.«

»Nein, nein, es ist eine Männerhand,« sagte der jüngere Bruder, und seine Knie schlotterten. Die Männer drängten sich an ihn.

»Wo denn? Draußen in der Luft? Eine Hand allein?«

»Nein, hier innen am Fenster –« er stöhnte, denn der ältere Bruder preßte seinen Arm wie in einem Schraubstock.

»Hier ist doch keine Hand? Ihr habt einen sitzen,« lachte Manne Petersen Hahn, unbekümmert um den predigenden Pastor auf der Kanzel, und die um ihn standen, stimmten ein: »Wo ist da eine Hand? Wie sieht sie aus?«

»Eines Mannes Hand, sagst du?« half Aaners ein, als er sah, daß der jüngere wieder sprechen wollte.

»Seht ihr sie nicht?« stöhnte der und sah mit verglastem Blick auf das Fenster. »Der Ring – oh Gott, der Ring!«

»Welcher Ring?« fragte ein alter Mann und trat näher.

»Seht ihr nicht, wie die Sonne darauf scheint? Der silberne Ring am Daumen – oh, Gott Dank, nun ist es wieder fort!«

»Einen silbernen Ring am Daumen trägt niemand auf der Insel, seit Manne Tetten ermordet wurde,« sprach der Alte schwer. »Was ist's, daß ihr seine Hand seht?«

Die Brüder sahen sich wirr um, wie aus schrecklichem Traum erwacht. Sie sahen die Augen der ganzen Gemeinde auf sich gerichtet, und in jedem lasen sie die gleiche Frage: Was ist's, daß ihr Manne Tettens Hand seht? Dann öffneten sich vor ihnen die Reihen der Andächtigen, und die beiden Brüder gingen durch sie hindurch, ohne daß einer sie angerührt hätte. Der Pastor auf der Kanzel aber hob seine Arme, und die Leute sanken in die Knie.

»So kniet nieder und empfanget den Segen Gottes! Der Herr segne euch und behüte euch, der Herr erhebe sein Angesicht und gebe euch seinen Frieden.«

Er hob die Finger und machte das Zeichen des Kreuzes. Rauschend und scharrend erhob sich schwerfällig die Gemeinde. Dann schob sich alles zur Tür hinaus, und draußen auf dem Friedhof kam tropfenweise das Gespräch wieder in Gang.

»Schöne Predigt, hee? Was unser Pastor nicht priestern kann!«

»Wohl, wohl – ich glaub' wahrhaftig, der Wind geht nach Süden.«

»Einen Mond Mond = Monat müssen wir sicher noch warten, ehe die Elbe eisfrei ist.«

»Ich will auf Amsterdam.«

»Hast du gehört, daß auf Föhr ein Englischmann ist, der Grönlandkommandeure sucht?«

»Hee? Was? Nein, was soll das?«

»Lorens Hahn hat vom Landvogt eine Anfrage gehabt. Ich geh' vontage noch zu ihm.«

»Ein Englischmann Englischmann = eigentlich englisches Schiff; hier Engländer – wunderlich!«

Sie sprachen alle von Schiffahrt, und die Weiber strebten zu ihren Kochtöpfen. Niemand fragte den Brüdern nach, niemand warf auch nur einen Blick auf das stattliche Haus, das immer noch das neuste im Dorf war und doch so seltsam verfallen und öde aussah. Am anderen Tage waren die Brüder verschwunden, und als sie nicht wiederkamen, ging eine Nachbarin hin, löste das Vieh und stellte die Stalltür auf. So gingen Pferde und Kühe hinaus auf die Außenweiden, wenn es sie hungerte, und kamen die Kühe mit vollem Euter nach Hause, wurden sie von den Ärmsten im Dorf gemolken. Die Pferde fing wohl eine oder die andere der Frauen gelegentlich zur Feldarbeit ein, aber niemand wollte das Vieh regelrecht betreuen, und so verkam es bald. Das stattliche Haus aber verfiel. Ein Märzsturm riß Löcher ins Rohrdach; der Regen schlug hinein. Es waren noch nicht drei Jahre vergangen, da zeigte nur noch ein Trümmerhaufen die Stätte an, wo es gestanden hatte. Von den Brüdern aber kam nie wieder eine Kunde nach Sylt.


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