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Zum Geleit

Wage zu wünschen und dir selbst deine Wünsche zu verwirklichen! So wirst du ein Mann werden wie Lorens Petersen Hahn, der seinen Landsleuten der Führer zu einem besseren Leben wurde und sich selbst aus Rechtlichkeit, Menschlichkeit und Überlegenheit des Geistes sein Glück erbaute.

Walfischfängerflotte.
Nach einer Darstellung aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts

1. Heimat und Kindheit

Lorens, der älteste Sohn des Peter Jens Grethen in Rantum auf Sylt, wurde im Herbst des Jahres 1668 geboren. Damals war die Insel Sylt noch ein gut Teil größer als heute; in den zwei und ein halb Jahrhunderten, die inzwischen vergangen sind, hat die See ringsum viel Land abgenagt. Damals lag bei Rantum hinter den breiten Dünenketten noch viel fettes Marschland, Äcker und Weiden. Heute ist die Insel dort so schmal geworden, daß man von den Dünen herab nach Westen die See und nach Osten das Wattenmeer überschauen kann. Auf dem schmalen Streifen Landes hinter den Dünen stehen nur noch wenige Häuser, und die Stelle, an der Lorens Jens Grethens Geburtshaus stand, liegt längst schon unter dem blanken Meeresspiegel.

Daß Lorens daheim auf Sylt nicht nach seinem Vater Lorens Petersen, sondern nach seinem Großvater Lorens Jens Grethen genannt wurde, lag daran, daß sein Vater noch in jedem Jahr auf Helgoland fuhr, um dort zu fischen. Der Großvater aber blieb auch im Sommer daheim, und weil Lorens helle Augen und ein lustiges Wesen hatte, kümmerte er sich mehr um ihn, als um seine jüngeren Brüder und lehrte ihn alles, was er selbst verstand. Er nahm ihn mit, wenn er die Pferde von der Weide holte. Zuerst setzte er Lorens vor sich auf das gleiche Pferd, das er selbst ritt; dann ließ er ihn neben sich das freie Pferd reiten, und ehe Lorens noch sechs Jahre alt wurde, schickte er ihn allein auf die Weide, um die Pferde zu holen. Mochte der Junge selbst sehen, wie er eins an den Pfahl heranlockte, von dem er sich dann auf den Rücken des Tieres hinüberschwingen konnte. Brachte er das nicht fertig – nun, so mußte er die Pferde freilich am Tüder heimführen, und das war für so kurze Beine ein langer Weg.

Lorens Jens Grethen lernte an seines Vaters alter Schaluppe die Segel zu setzen und das Ruder zu handhaben, sobald er nur die Kräfte dazu hatte, diese schweren Dinge überhaupt fest anzupacken. Hei, das war eine Lust, so über die Wellen zu reiten – schöner noch als auf dem Pferderücken über das flache Land! Auch zum Schollentreten nahm ihn der Großvater mit ins Watt hinaus. Bei Niedrigwasser tritt man ein bei ein flache Gruben in den schlickigen Grund. Dann läßt man die Flut einmal darüber hingehen, und wenn danach das Wasser wieder verläuft, bergen sich die Plattfische, die Schollen und Butts in den tieferen Fußtapfen. Schreitet der Fischer nun die selbstgetretenen Reihen wieder ab, so tritt er bald auf einen ruhenden Fisch; der schnellt davon, und nun heißt es: zupacken! sonst ist der Fisch verschwunden, ehe des Menschen Auge ihm folgen kann. Lorens mußte sich ärgern, daß in des Großvaters Fußtapfen meist größere Fische lagen als in seinen eigenen. Aber wenn es ans Greifen der davonschnellenden Schollen ging, dann war er dem Alten doch über, und ehe der sich nur einmal gebückt oder mit dem Nagelstock einen Fisch gespießt hatte, warf der Junge schon drei in seinen Korb.

Alles, was Jens Grethen so seinen Enkel lehrte, kam dem Jungen lustig vor. Täglich wurde das Leben bunter und reicher. Auch was er ihm über die Tiefen im Watt sagte, wie die Ströme zur Zeit der Flut liefen, und wie sie zur Ebbezeit wieder in die offene See hinauszogen, das konnte sich Lorens wohl merken, und er sah schon mit eigenen Augen, daß bei Vollmond und Neumond die Flut um die Mittagszeit hochkam, zwischenein dann morgens und abends.

Aber dann kam ein Tag, an dem ihn der Großvater griff und sagte: »Nun sollst du auch lesen lernen.«

Und an diesem Tage erlebte Lorens eine große Enttäuschung, denn Lesenlernen das hieß nicht draußen in Sonne und Wind umherlaufen, hieß nicht fischen und reiten und jagen. Sondern Lesenlernen hieß: still neben dem Großvater sitzen, mit dem kleinen Finger seinem großen Finger nachrutschen auf den langen Zeilen der großen Bibel, und Wort für Wort nachsprechen, was der Großvater ihm vorsprach. Hatte Lorens nicht hundertmal schon erlebt, daß alles, was »Lernen« hieß, letzten Endes doch irgendwas Schönes barg, so würde er ihm wohl davongelaufen sein. So aber tat er, wie der Großvater ihn wies, bis eines Tages all die sonderbaren Striche und Häkchen ganz von selbst einen Sinn bekamen und Lorens viel merkwürdige Dinge erzählten.

Es war um diese Zeit, daß der Vater von einer Reise nach Husum ein Buch mitbrachte. Das hieß »Der Schatzkasten« und war nicht halb so groß und so dick wie Jens Grethens alte Bibel. Dafür aber enthielt es auch nicht so viele große und unverständliche Worte wie diese, denn zwischen seinen Worten saßen allzumal Zahlen wie Beeren im Heidekraut; die gaben den Worten gleich ihren Sinn. Der Sinn für Zahlen nämlich ist den Syltern von der Natur fürs Leben mitgegeben und war es auch damals schon. Zählen und rechnen konnten sie alle, lang ehe sie noch wußten, was das Wort überhaupt bedeutete. So kam es, daß sie die Mathematik, die den Inhalt des »Schatzkastens« bildete, verstehen lernten, ohne daß sie einen Lehrer dafür gehabt hatten. Sie saßen alle beisammen, alle die Männer und Burschen, die im Sommer auf Helgoland fuhren, und steckten die Nasen in dies Buch. Jens Grethen las ihnen die Worte, die zwischen den Zahlen standen, vor und suchte sie zu deuten. Es gab aber manche, zu denen die Zahlen allein deutlicher sprachen, nur hätten sie freilich nicht sagen können, was sie meinten.

Lorens saß in einem dunklen Winkel hinter dem Rücken der Männer, sperrte beide Ohren auf und verstand die Meinung der Worte sowohl als auch die der Zahlen. Wenn aber die Männer anfingen von Helgoland und dem Fischfang in der freien See zu sprechen, dann glühten seine Backen, und seine Augen leuchteten aus dem Dunkel wie die Augen der Katze, die einen Vogel spürt. Da merkte der Großvater, wie sein Sinn hinaus stand, und er holte ihn bei Nacht aus dem Bett und führte ihn auf die nächste Düne. Von dort aus wies er ihm die Sterne und nannte sie ihm, wie sonst niemand im Dorf sie kannte. Nicht nur den Himmelswagen Himmelswagen = Großer Bär. und den Nordstern, Friggas Rocken Friggas Rocken = Gürtel des Orion. und Thors Hammer Thors Hammer = Schwert des Orion. zeigte er ihm, sondern er lehrte ihn auch, darauf zu merken, wie gefällig sich das Gewusel der kleineren Sterne zu Gruppen und Bildern zusammenschloß, und lehrte ihn, darauf zu achten, wie der ganze Sternhimmel sich langsam rundum drehte. Lorens nahm das alles mit Begierde in sich auf, denn er fühlte, daß es zu dem freien und weiten Leben da draußen bei Helgoland und auf der offenen See gehörte. Im Winter war draußen nicht viel zu holen, da konnte er tagsüber soviel schlafen, wie er mochte. Dafür lief er nun nachts hinaus, auch ohne den Großvater, hockte irgendwo in Windschutz und staunte die Bewegung des Himmels an. So lernte er endlich, was dem Großvater selbst noch schwer fiel: die Stunden der Nacht nach den wandernden Sternen zu messen auch dann, wenn Nebelschleier zwischen Himmel und Erde zogen und die Sternbilder teilweise verwischten.


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