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9. Der Becher

Auf dem silbernen Becher, den das Töchterchen des Schiffsreeders dem Kommandeur von »Salomons Gericht« überreicht hatte, befand sich in der Mitte eines getriebenen Kranzes von Blumen und Früchten ein blankes Schildchen. Dahinein ließ Lorens von einem Goldschmied den Namen Inge schneiden, genau in den schönen, steilen Buchstaben der alten Bibel, aus der Jens Grethen ihn das Lesen gelehrt hatte. Er zeigte den Becher mehreren Bekannten, als er mit siebzig bis achtzig andern Grönlandfahrern zusammen von Hamburg aus heimreiste. Danach war der Becher verschwunden. Lorens wollte kein Wesens davon machen, denn die auf dem Fährschiff waren allemann Sylter, und auf Sylt galt ein Diebstahl für ehrloser als ein Totschlag. Aber er konnte doch nicht unterlassen, Inge davon zu erzählen. Es wurmte Inge mächtig, und sie dachte Tag und Nacht darüber nach, wie sie wohl den Becher wieder bekommen könnte.

Nun gab es zu dieser Zeit in Morsum einen berühmten Hexenmeister. Er hieß Jappe Gyden. Einen Vater hatte er nie gehabt. Gyde, seine Mutter, hatte ihn aus dem Watt gefischt; auch sie war schon eine Hexe gewesen. Jappe sagte man nach, daß er Diebe herausbringen könnte und sie zwingen, das Gestohlene wiederzugeben. An diesen Jappe mußte Inge denken, so oft sie an den Becher dachte, und das war fast Tag und Nacht. Sie mochte kaum mehr essen und konnte nicht mehr schlafen, so sehr lag ihr der Becher im Sinn. Mit Lorens mochte sie nicht mehr darüber sprechen. Er hatte den Becher schnell vergessen, zählte nur immer seine blanken Taler und lief bei allen Zimmerleuten der Insel umher, um zu erkunden, wie oft er noch fahren müßte, ehe er sich ein Haus nach seinem Sinn bauen könnte.

Endlich konnte Inge ihre Begierde nach dem silbernen Becher nicht länger mehr bemeistern. An einem warmen Herbsttage, an dem Lorens mit ihrem Vater noch einmal auf Fischfang gefahren war, machte sie sich heimlich auf und ging zu Jappe Gyden, dem Hexenmeister. Er saß im Sonnenschein vor seinem Hause auf einer Bank und rauchte seine Pfeife. Inge blieb erschreckt stehen – das tat sonst niemand auf Sylt; dazu war der Wind meist zu stark. Zum Sitzen ging man doch ins Haus hinein; wer hatte denn eine Bank außen unterm Fenster? Jappe nickte ihr aber zu, als hätte er sie schon erwartet; da gab es kein Ausweichen mehr.

»Du bist Inge Erk Andresen und willst deinen Becher wieder haben,« sagte er ruhig. Er hatte von dem Diebstahl gehört; schließlich sprach sich so etwas auf der Insel herum. So hatte er Inge wirklich schon erwartet; sie hätte doch kein Frauenzimmer sein müssen, wenn sie solch blankes Spielding ohne Nachforschen hätte aufgeben können. Nun waren bei dem schönen Wetter heute noch eine ganze Menge Fischer unterwegs, und Jappe hatte von seiner Bank aus deutlich Erk Andresens Kutter mit dem braunen Flicken im weißen Segel erkannt. Es war wirklich keine Hexerei, dies und das zusammen zu reimen. Aber Inge erschien es doch so.

»Komm nur herein,« fuhr Jappe fort; »magst gewißlich nicht beim Hexenmeister vor der Tür stehen.«

Er humpelte voran, und Inge folgte zögernd mit schlagendem Herzen. Draußen lag der warme Sonnenschein in der Luft; drinnen war es dunkel und feuchtkalt, denn das Haus lag tief, und im August noch hatte eine hohe Flut darin gestanden. Jappe ging mit Inge in die Küche; da packte sie ihren Korb aus. Sorgfältig hatte sie vorher erkundet, was der Hexenmeister vor allem schätzte: Butter, frische Eier, ein gutes Stück Schinken, vom Knochen abgelöst, und endlich ein Paar Sohlensocken, die sie selbst aus Grauweb Grauweb = eigengewebtes graues Wollzeug. verfertigt und mit festen Ledersohlen versehen hatte.

»Ich meine, sie sollen für den Winter taugen,« pries sie schüchtern ihre eigene Arbeit.

»Das kann wohl sein,« gab er ungerührt zurück und verstaute ihre Schätze in den dunklen Ecken und Verließen der Küche, ohne sich mit Dank groß aufzuhalten. Dann holte er ein Mehlsieb herbei, legte eine geöffnete Schere hinein und darauf einen großen rostigen Schlüssel. So stellte er das Sieb in ein Gefäß mit Wasser, daß Schere und Schlüssel reichlich davon bedeckt waren, und fing an, langsam das Sieb zu drehen.

»Nun nenne mir nacheinander die Namen von allen, denen Lorens den Becher gezeigt hat,« gebot er, und Inge zählte auf:

»Manne Jens Grethen – Niggels Jens Grethen – Boy Michel Boysen – Aaners Claasen – Erk Jungpidder Heiken –« aber bei keinem wollte sich der Schlüssel rühren.

»Von diesen ist es keiner gewesen,« erklärte der Hexenmeister bestimmt. »So nenne mir solche, die sonst noch auf dem Schiff waren. Breite aber nicht mehr aus, als gedroschen werden kann, sondern nenne vor allem solche, auf die du einen Verdacht hast, daß sie dich lieber haben als Lorens.«

Inges Gesicht verdunkelte sich.

»Gerson Cruppius,« sagte sie leise, und siehe da – sofort rührte das Sieb in Jappes Hand sich stärker und der Schlüssel drehte sich auf der Schere halb um sich selbst. Inge erbebte.

»Das sieht verdächtig aus,« meinte der Hexenmeister gewichtig und senkte die lange Hakennase über das Wasser. »Nenne noch andere Namen – ein bei ein – zwischendurch immer wieder Gerson Cruppius – wir wollen sehen –«

Und sie sahen – sahen – Inge mit immer steigendem Grauen, daß bei allen andern Namen der Schlüssel ruhig auf der Schere liegen blieb, bei dem Namen Gerson Cruppius aber das Sieb immer stärker zuckte und der Schlüssel sich immer lebhafter rührte; endlich rutschte er sogar ganz von der Schere hinunter.

»Ich kann das Sieb auch kaum mehr halten,« seufzte Jappe und legte es auf den Rand der Schüssel. »Daß Gerson der Dieb ist, steht nun fest. Aber nun handelt es sich darum, wie wir den Becher wiederbekommen.«

Er beugte sich über das Wasser und sah angestrengt hinein, während er das Sieb leise schüttelte; nach einer Weile seufzte er noch einmal.

»Jee, Inge, das tut mir nun leid, aber ich sehe deutlich, daß er den Becher noch draußen auf dem Schiff aus Lorens' Sack nahm und in den eigenen steckte. Da kann ich dir nun nicht helfen. Über Diebsgut, das auf dem Wasser gestohlen oder sonst über Wasser gegangen ist, habe ich keine Macht mehr. Aber vielleicht kannst du selbst im Wasser sehen, wo er mit dem Becher abgeblieben ist.«

Atemlos beugte sich nun auch Inge über das Gefäß. Der schwere Torfqualm vom Herde her beklemmte sie – dazu das Grauen, das ihr immer näher ans Herz kroch –

»Sieh recht genau hin,« sagte Jappe und rüttelte stärker an dem Sieb, so daß Inge Schlüssel und Schere kaum mehr unterscheiden konnte; »du mußt den Schlüssel im Auge behalten.«

»Mir wird schwindlich,« antwortete Inge.

»Das ist gut, so wirst du bald sehen, was du sehen willst. Denke immer nur an Gerson, an sein Haus – weißt du, wie der Weg dort geht?«

»Wohl weiß ich das,« antwortete Inge halb bewußtlos; »südnord geht er, auf Archsumburg zu.«

»Wer geht? Vielleicht Gerson selbst?«

»Ja – nein – ich weiß nicht – ja, er geht nach dem Burgwall und hebt den Düt Düt = Deckel aus Grassoden. von einer Bergentenhöhle –«

»Genug,« sagte Jappe schnell und ließ das Sieb nun ganz ins Wasser fallen. »Es ist ganz klar: er hat den Becher am Burgwall versteckt oder vergraben. Ja, da kann ich dir nun nicht helfen.«

Inge saß noch einen Augenblick wie betäubt, dann richtete sie sich entschlossen auf.

»Lorens kann ihn suchen.«

»Das wird nichts nützen. Diebsgut versinkt, je mehr ihm nachgegraben wird. Da müßte schon einer kommen, der den Platz genau kennt, der nur die Hand in die Erde steckt und gleich den Becher greift.«

»So muß ich es also selbst tun.«

»Du?« rief der Hexenmeister aus; »wie willst du den Platz denn finden?«

»Ich habe ihn doch gesehen –« Inge schloß die Augen; »ich sehe ihn auch jetzt noch – ganz deutlich – ich werde sogleich dorthin gehen.«

»Damit würdest du alles verderben,« antwortete der Hexenmeister ärgerlich; »wenn du es tun willst, dann muß es bei Neumond sein und um Mitternacht. Du darfst aber niemand bei dir haben und niemand vorher davon wissen lassen. Ich täte es nicht, wenn ich an deiner Stelle wäre,« fügte er eifernd hinzu; »es ist sehr, sehr gefährlich, in solcher Nacht draußen zu sein. Auch die Unterirdischen werden böse, wenn man sie stört.«

»Die Unterirdischen haben mir noch nie etwas getan,« sagte Inge zuversichtlich; »und das kam so: als meine Mutter noch lebte, nahm sie mich abends oft mit, wenn sie zu den Schafen hinausging. Da fanden wir bei Tinnumburg einmal eine zerbrochene Schaufel. Die haben die Unterirdischen uns auf den Weg gelegt, sagte meine Mutter, damit wir ihnen helfen; geh, laß uns einen Nagel für sie holen. Wir gingen zum Schmied und ließen uns einen Nagel geben; den legten wir auf die Schaufel. Als wir hernach vom Melken zurückkamen, waren Schaufel und Nagel verschwunden; statt dessen lag ein Kuchen an der Stelle. Den habe ich gegessen, und seitdem tun mir die Unterirdischen nichts. Ja, ich werde hingehen. Bei Neumond, sagtest du? Wohl, ich werde es nicht vergessen. Und um Mitternacht – ganz allein –«

»Dies ist nur der Anfang,« bestätigte Jappe Gyden widerstrebend. »Es ist noch anderes dabei, das darf ich dir aber nicht sagen, sondern du mußt es von selbst wissen. Es ist sehr schwer. Mach mir hinterher nur keine Vorwürfe, wenn du den Becher nicht findest.«

»Ich werde ihn finden,« sagte Inge zuversichtlich; dann ging sie. –

Bis Neumond waren noch zehn Tage. Inge lebte sie wie im Fieber. Sie vertraute fest Jappe Gydens Hexenkünsten und machte sich nicht klar, daß er einfach ein geriebener Schlauberger war, der dies und das zusammenspann und den Rest dem Zufall überließ. Ihm war es durchaus nicht recht, daß sie auf sein Hexenwort hin handeln wollte, aber Inge dachte gar nicht, daß sie es lassen könnte. Jede Nacht, wenn sie ins Wandbett stieg und die Türen hinter sich zuzog, packte sie das Grausen, wenn sie daran dachte, daß sie bald statt dessen das sichere Haus verlassen und in die dunkle Nacht hinauswandern sollte. Dann schlugen ihr die Zähne wie im Frost zusammen. Aber stärker noch als das Grausen war ihre Begierde nach dem Becher. Die zog sie – je kleiner der Mond wurde – desto unbarmherziger aus Bett und Haus. In den letzten beiden Nächten konnte sie es vor Unruhe schon kaum mehr aushalten, aber als dann die Neumondnacht kam, wurde sie wieder ganz ruhig. Am Abend war Lorens bei ihr gewesen; sie hatte ihn geliebkost, wie sie selten tat.

»Hast du mich auch lieb, Lorens? Denkst du wohl noch an den Becher?«

»Manchmal – dann ärgere ich mich. Deshalb denke ich lieber nicht daran.«

»Ich denke aber daran, und denke, daß Gerson Cruppius ihn nahm.«

Lorens bewegte unbehaglich die Schultern.

»Er verfolgt mich nicht mehr; er weicht mir aus,« gestand er; »aber wir wollen kein Geschrei davon machen. Wenn er ihn nahm, tat er es, damit ich ihn dir nicht schenken konnte. Gewiß hat er ihn vergraben; wir würden ihn nicht bei ihm finden.«

Damit war Lorens dann gegangen, und bald darauf waren Vater und Brüder in die Betten gestiegen. Inge wartete noch, bis sie sicher schnarchten, dann rüstete sie für ihren Gang. Sie nahm den alten Mantel ihrer Mutter und das enge Käppchen. Dann griff sie nach ihrem Psalmbuch; das wollte sie als Waffe gegen alle bösen Geister benutzen.

»Mutter,« bat sie leise; »steh mir bei!« Und sie meinte einen kühlen Hauch zu fühlen, der sie ganz einhüllte.

Die Nacht war unwirtlich, kalt und naß. Stöhnend wälzte sich ein schwerer Nordwest von der Norderheide herab über die tieferliegenden Dörfer. Knarrend rieb sich der Holunder an der Hauswand. Inge schlich den Graben entlang, obgleich er nicht ganz leer war. Sie duckte sich tief hinein, als ein Trupp wilder Dunkelläufer schreiend und lärmend auf dem Wege an ihr vorüberzog. Sie sah Lichter in einiger Entfernung an einer Stelle, wo doch kein Haus stand, sah Schatten vorüberfliegen, und doch keine Menschen dabei. Ihr Grauen wuchs, aber der Zwang, den Becher zu holen, nahm noch stärker zu.

Als sie den Burgwall von Archsum erreicht hatte, war die Nacht vollständig finster geworden – kein Stern zu sehen. Inge lauschte, ob ihr der Nordwest vielleicht die Stimme der Keitumer Kirchenglocke zutrüge – vergebens.

»Mutter –« flüsterte sie beklommen; »Mutter, wie spät ist es denn? Und – Mutter, wo soll ich nur suchen? Ich weiß doch nicht, an welcher Seite die Höhle war.«

Da hörte sie – wie zur Antwort – einen schweren Schritt auf dem Wege. Unwillkürlich schmiegte sie sich eng an den Wall. Jetzt sprang das Grausen plötzlich mit voller Gewalt wieder in ihr auf. Sie zitterte an allen Gliedern. Wie hatte sie es nur wagen können, um Mitternacht hierher zu gehen!

Die Schritte kamen näher. Indem sie ihre Augen aufs äußerste anstrengte, erkannte Inge die Gestalt eines Mannes, der nun vom Wege ab und auf sie zu bog. Was wollte er am Burgwall? Nur wenige Schritte von ihr entfernt kniete er nieder, hob den Sodendeckel von einer Bergentenhöhle, griff hinein – da sprang Inge hinzu und faßte den Gegenstand, den er soeben aus der Erde zog.

»Gib mir den Becher, Gerson Cruppius; er ist mein.«

Im Schrecken über den unvermuteten Angriff erkannte Gerson nicht Inges Stimme. Er sah nur eine weibliche Gestalt über sich – hoch und stattlich wie die seiner verstorbenen Mutter. Er sah den Mantel, der dem ihren glich, und sah die Umrisse des enganliegenden Käppchens, das unter den Lebenden nicht eine mehr trug, und ein abergläubisches Entsetzen befiel ihn. Stöhnend sank er in sich zusammen.

»Mutter – Mutter, ich bin kein Dieb –«

Inge achtete nicht auf ihn. Sie rieb den Becher an ihrem Mantel und tastete daran herum, bis sie die eingeschnittenen Buchstaben fühlte, von denen Lorens ihr gesprochen hatte.

»Inge!« flüsterte sie in seliger Freude.

»Ja – Inge –« klang es heiser zu ihren Füßen; »ich kann nicht mehr ohne sie leben! Aber Inge –«

»Ich habe Lorens lieb, das weißt du wohl,« entgegnete Inge ruhig und löste sich von ihm, der nach ihrem Mantel griff.

»Du auch, Mutter, du auch?« rief der Mann gequält; »ihm sind alle wohl gesonnen – verflucht aber bin ich –«

Er raffte sich auf und taumelte fort. Inge blieb allein mit dem Becher in der Hand. Sie küßte ihn und küßte ihr Psalmbuch.

»Ich danke dir, Mutter,« sagte sie in Ehrfurcht; dann machte auch sie sich auf den Heimweg.

Den Rest der Nacht hindurch trieb Inge im Bett mit ihrem Becher kindisches Spiel. Sie drückte ihn an ihre warme Brust, bis er selbst auch warm wurde; dann rieb sie ihn mit dem wollenen Bettzeug, küßte ihn, putzte ihn, wieder und wieder. Als endlich die Sonne aus der Himmelstür trat und Inge den Becher in ihrem Licht beschaute, glänzte und blinkte er, als wäre er soeben aus der Hand des Goldschmiedes hervorgegangen.

Am Abend zeigte sie ihn Lorens. Er griff mit beiden Händen danach, hielt ihn ans Herdfeuer, drehte ihn um und um, nach dem Schildchen mit dem eingeschnittenen Namen suchend, und da er es fand, wußte er erst recht nicht, was er dazu sagen sollte. Als Inge ihm alles erzählte, erschrak er bis ins Herz hinein.

»Um Gott – Inge, wie konntest du?«

»Mutter stand mir bei, Lorens, ich habe kaum einen Augenblick Angst gehabt. Aber nun wollen wir Vater auch den Becher zeigen; er weiß noch nichts.«

Erk Andresen erschrak nicht weniger als Lorens.

»Hättest du mir nur vorher davon gesprochen!«

»Dann würdet Ihr es mir verboten haben,« antwortete Inge lachend. »Freut Ihr Euch denn gar nicht, daß wir den Becher nun haben?«

Doch, das taten sie. Allmählich kam auch bei dem Alten die Freude durch. Sie saßen lange in der warmen Küche beisammen, ließen den Glanz des Bechers im Feuerschein spielen, fragten und sprachen immer wieder Inges Erlebnisse durch. Spät war es, als Lorens endlich aufbrach, und da es ein stiller Abend war, kam Erk Andresen auch mit vor die Tür.

»Schönes Wetter,« sagte er behaglich. »Andrees wollte vontage vontage = heute. noch einmal nach See hinaus. Kann sein, daß er uns auch ein paar frische Fische bringt.«

Die jungen Leute hörten nicht auf ihn. Sie standen noch innerhalb der Tür, und die Dunkelheit des Hauses hüllte sie ein. Inge legte ihre Arme zärtlich um ihres Liebsten Hals.

»Freust du dich? Freust du dich auch wirklich, Lorens?«

Er antwortete nicht, sondern küßte sie nur – immer heißer, bis der Vater ihn rief.

»Lorens, sieh – was ist das für ein Licht?«

Halb widerstrebend traten die jungen Leute zu ihm hinaus.

»Ein Licht, Vater?«

»Unter Hörnum; siehst du es nicht?«

»Ein Stern,« meinte Inge, aber die Männer hatten für solch weiberhafte Erklärung keine Ohren.

Angestrengt schaute Lorens nach Süden.

»Ich sehe nichts,« sagte er endlich.

»Aber es kommt doch näher – so schnell wie kein Schiff kommen könnte,« rief Erk Andresen erregt. »Seht doch – nun unter Rantum – oha, das Wadenssiel herauf –«

Seine Stimme sank. Er packte Lorens am Arm und deutete – deutete ins schwarze Nichts hinein. Lorens schwieg.

»Das ist Vorspuk Vorspuk = Warnung vor kommendem Unglück., Vater,« flüsterte Inge zitternd; »wo seht Ihr es nun?«

»Es steigt an Land,« antwortete er leise; »es kommt herauf – sieh – seht doch –!«

Er wich zurück, als käme das, was er sah, geradeswegs auf ihn zu. Dann wandte er sich, trat auf den Weg hinaus, legte die Hand über die Augen und schaute nach Nordost hinauf. Lorens kroch ein Schaudern über den Rücken; er fühlte, wie Inge in seinen Armen immer heftiger zitterte.

Da seufzte Erk Andresen tief auf, als ließe die Anspannung nach, und kam zu ihnen zurück.

»Habt ihr euch erschrocken, als es so nahe kam?« fragte er, und seine Stimme klang wieder so natürlich, daß die jungen Leute erleichtert aufatmeten; »ich sah es noch den Keitumer Kirchweg hinauftanzen. Gott gebe, daß es nichts Schlimmes bringt! Uuha« – er gähnte – »bin ich müde! Gute Nacht zusammen!«

Damit ging er ins Haus, und sie hörten, wie er die Bettüren aufschob und mit dem Bettstock das Stroh plusterte; dann wurde es still.

»Sahst du etwas, Lorens?« fragte Inge leise; »ich habe nichts gesehen.«

»Ich auch nicht,« antwortete Lorens bedenklich; »kann Vater vorsehen Vorsehen = solchen Vorspuk sehen können.

»Weiß nicht – so war er noch nie; wenn es nur nichts Schlimmes bedeutet! Jey Erken – die Großmutter, weißt du? – die sah einmal etwas – ich weiß nicht, was. Aber danach haben durch Jahre bei ihnen die Bettüren offen gestanden – immer war eins krank im Hause.«

Lorens schüttelte sich. Er dachte ungern an den langen Heimweg im Dunkeln, aber Inge mochte sich auch nicht von ihm trennen, die Angst trieb sie in seine Arme. So blieben sie unter der Tür stehen, bis die Brüder heimkamen und Lorens mit Hallo begrüßten.

»Wir bringen dich auf den Weg.«

»Sage ihnen nichts; sprich mit niemand darüber,« flüsterte Inge beim letzten Kuß. –

Zwei Tage später kamen Andrees Erken und Johannes Cruppius vom Fischfang zurück. Zu dritt waren sie ausgefahren, nur zwei kamen heim. Bleich und verstört saß Andrees Erken bei seinen Leuten in der Küche.

»Wir hatten Gerson mitgenommen,« berichtete er; »ich wollte, wir hätten es nicht getan. Er war den ganzen Tag wunderlich; gegen Abend wurde er immer unruhiger. Mutter ruft; hörst du es nicht, Johannes? fragte er. Aber Johannes hörte nichts. Kann man wohl auf dem Wasser gehen? fragte er dann weiter. Jee – sagt Johannes, ich nicht, aber Petrus konnte es. Auch man halb, sage ich; nachher mußte ihn Jesus Christus doch auffischen. Da sagt Gerson: ja, ja, Mutter, dann will ich wohl kommen – steigt über Bord, geht ein paar Schritte, dann war er fort.«

»Geht ein paar Schritte –« wiederholte Inge wie erstarrt.

»So wahr mir Gott helfe!« sagte Andrees feierlich; »Johannes hat es auch gesehen: geht ein paar Schritte, dann war er fort – uha, ich mag es nicht Anna sagen.«

Sie schwiegen alle. Gerson Cruppius war auf See geblieben – es blieben manche und – er lag uns allen quer im Fahrwasser, dachte Erk Andresen. Aber vor seinem Tode war Gerson auf dem Wasser gegangen wie Petrus, der Jünger des Herrn. Geht ein paar Schritte – so wahr mir Gott helfe – darüber vergaß der Alte, was er selbst gesehen hatte, und Inge erinnerte ihn auch nicht daran.

Noch ein Tag ging vorüber, dann trieb die Leiche des Ertrunkenen auf Hörnum an. Andrees Erken und Johannes Cruppius fuhren aus, sie heimzuholen. Als sie aber auf der Rückfahrt unter Rantum waren, dachten sie, daß das Wasser zu schnell fallen würde, als daß sie um Morsum Nösse auf Keitum segeln könnten. So nahmen sie Kurs auf Tinnum und machten im Wadenssiel fest. Andrees ging zu seinem Vater nach Pferd und Wagen. Dann fuhr er den Toten an seines Vaters Haus vorüber den Keitumer Kirchweg hinauf. Der Alte schaute ihm nach, aber erst, als ihm der Wagen wieder außer Sicht war, fiel ihm das Lichtermännchen Lichtermännchen = eine Art Vorspuk. ein, das den gleichen Weg hinaufgetanzt war; an dem Abend, da Gerson Cruppius dem Ruf seiner Mutter folgte – auf dem Wasser ging und versank.

»So wird sie ihn wohl erlöst haben, und er wird Ruhe im Grabe finden,« schloß Erk Andresen, als er ein paar Stunden später mit Lorens und Inge darüber sprach.


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