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14. Weihnachten im Dunkel

Im Frühjahr reisten die Seefahrer wieder aus, und die Feldbestellung sollte beginnen. Es wehten aber harte und kalte Winde den ganzen April und Mai hindurch, und als sie endlich einschliefen, und die Sonne nun die Erde erwärmen mochte, war der Boden so ausgedörrt, daß nichts aus ihm hervorwachsen konnte. Das Vieh rieb sich die Mäuler blutig, nur um die spärlichen Grashalme recht genau abzuweiden, und als das Korn endlich hochkam, standen die einzelnen Halme so dünn wie sonst auf Brachland. Im Sommer zeigten sich überall auf den Weiden gelbe Ameisen, die fraßen den Schafkötel, daß nur die leeren Häutchen liegen blieben. So mußten die Frauen die kaum trockenen Kuhfladen brennen, und zum Winter blieb ihnen nichts als loses Heidekraut zur Feuerung. Das Wasser stand im Watt fast den ganzen Sommer über so hoch, daß es nicht möglich war, Seetorf zu stechen.

Als die Seefahrer im Herbst wieder heimkehrten, fehlte es an Grütze, an Brot, an Feuerung. Wer aber zur See fährt, kann gut essen, und wo sich in einem Hause zwei oder drei Junggäste Junggäste = junge Seefahrer. an den Tisch setzten, spürte die Mutter bald, wie kärglich die Ernte gewesen war. Wenn die Handelsjuden, die im Herbst auf die Insel kamen, nicht berichtet hätten, daß es auf dem Festland noch viel schlimmer aussah, würden die Männer wohl hinübergefahren sein, um dort Lebensmittel aufzukaufen. So warfen sie ihren Erwerb des Sommers fast verächtlich in den Kasten – konnte man die Silberlinge doch nicht essen!

Inge hatte besser vorgesorgt als alle andern Frauen. Sie hatte von Anfang an sparsamer gewirtschaftet und im Herbst noch eine alte Kuh gegen Futter vertauscht. So konnte sie die drei Kühe, die ihr blieben, gut durch den Winter bringen. Aber so weit voraus wie Inge dachten die wenigsten Frauen, und daß es ihnen noch besser ging als allen Nachbarn, das drückte Inge, wie es auch Lorens belastete. Aber wie sollten sie Rat schaffen? Als Lorens nach Rantum ging, um zu sehen, ob er seiner Mutter irgendwie helfen müßte, wußte die alte Frau auch nichts weiter als:

»Unser Herrgott segne den Strand.«

»Müßt Ihr nicht sagen, Mutter. Was auf Strand kommt, ist nicht ohne weiteres unser.«

»Wenn ich hungere, ist alles mein, was ich essen kann.«

Lorens seufzte. So dachten wohl die meisten Sylter, aber Jens Grethen hatte anders gesprochen.

»Hungert Ihr denn, Mutter? So soll Jan doch ein Schaf schlachten.«

»Nur zum Essen? Das fehlt noch! Auch mag ich kein Fleisch.«

»Wollt Ihr Fische? Inge soll morgen welche bringen.«

Die alte Frau schwieg. Im Grunde genommen fehlte es ihr an nichts. Seit Jan ihr eine Schwiegertochter ins Haus gebracht hatte, war sie aufs beste versorgt. Die junge Frau hatte eine gute Hand fürs Vieh. Sie hatten zwei Schweine geschlachtet, und der Grünkohl stand üppig hinterm Haus. Von den Schafen konnten sie gut noch ein oder das andere ans Messer nehmen, und Milch hatten sie immer noch genug. Nur an Grütze und Brotkorn fehlte es hier wie in allen andern Häusern, und Mutter Gondel gehörte zu denen, die immer nur nach Unerreichbarem Hunger haben.

Als Lorens abends bei Inge in der Küche saß, war er so still und sein Gesicht so dunkel, daß Inge die Kinder früh ins Bett jagte und den beiden Männern – denn Niggels hauste immer noch mit ihnen – eine Pfeife stopfte.

»Mußt dir nicht mehr Sorgen machen, als Not ist, Lorens,« sagte sie dabei. »Güter der Welt sind Ebbe und Flut unterworfen.«

»Wohl, und auf die tiefsten Ebben folgen die höchsten Fluten,« antwortete er bitter. »Das ist Altweiberweisheit. Ich meine, man muß auch den Ebbestrom nützen.«

»Wie das?«

Lorens sog an seiner Pfeife.

»Statt zu jammern und den lieben langen Tag strandjen zu gehen, sollten die Leute lieber die leere Zeit nützen, um tüchtig zu lernen. Aber es kommen weniger zu mir als vorm Jahr.«

»Jee –« meinte Niggels und zog den Ton so lang wie eine Reise nach Ostindien. »Du bist zu streng, Lorens. Bei diesem Wetter könnte doch jeden Tag ein Schiff auf Strand kommen.«

»Und wenn es käme –?«

Niggels bewegte unbehaglich die Schultern in seiner Wolljacke.

»Jee – Lorens –«

»Jawohl – jee, Lorens,« äffte der ältere Bruder ihm zornig nach. »Ihr meint wohl, weil wir keinen Landvogt auf Sylt haben, könnten wir gut drei Drittel von jeder Strandung nehmen.«

Niggels antwortete nicht mehr, und schweigend rauchten die Männer weiter, während Inge mit den Töpfen klapperte. Endlich klopfte Niggels seine Pfeife aus und ging mit kurzem »Gute Nacht zusammen« aus der Tür. Da sah Lorens auf. – »Mir ist angst, Inge,« sagte er wie ein Kind, das sich vor der Dunkelheit fürchtet.

»Mußt nicht, Lorens. Es steht nirgend ganz so schlimm, wie die Leute tun.«

»Magst recht haben; aber schlimmer, als sie ertragen können, ist schlimm genug, und die wenigsten können es noch lange ertragen.«

»Weil sie nicht beizeiten vorsorgten.«

»Und weshalb taten sie es nicht? Doch nur aus Dummheit. Unklug sind sie und unwissend, aber wenn man ihnen die Hand bietet, daß sie etwas lernen sollen, dann haben sie keine Lust.«

»Mußt Geduld haben, Lorens,« sagte Inge tröstend, und nach einer Weile: »Ist es das allein, was dich drückt?«

Lorens biß auf seine leere Pfeife.

»Sie hoffen alle auf Strandsegen.«

Über Inges Gesicht ging ein heller Schein.

»Wenn es Brotkorn wäre –« sagte sie leise.

»Denkst du auch so?« rief Lorens schmerzlich. »Ach, Inge, was an unsern Strand kommt, ist die Frucht von eines andern Menschen saurer Arbeit. Niemand aber erntet ungestraft, wo er nicht gesät hat.«

»Wenn Gott es uns schickt?«

Lorens stand auf und riß das kleine Fenster auf. Es war draußen nichts zu sehen als die schwere Dunkelheit einer Regennacht, aber er steckte den Kopf durch die Luke, als erstickte er drinnen. Dann schloß er das Fenster wieder mit ruhigerer Hand.

»Ist es wirklich Gott, der uns das Strandgut schickt?« fragte er nachdrücklich. »Strandsegen nennt Ihr es – aber was ist aus all dem Segen geworden, den uns der Teufel in den letzten Jahren auf den Strand warf?«

»Ich weiß nicht,« antwortete Inge und horchte auf das Heulen des Windes, das von einer wilden See sprach. »Ich meine nur: wenn es doch einem Schiff bestimmt ist, aufzulaufen und es hat Brotkorn – höre nur den Sturm! Ich glaube, Niggels ging auch noch aus.«

Lorens faßte ihre Hand.

»Inge,« bat er erregt; »du mußt mich hören. Du mußt denken lernen wie ich, sonst stehe ich ganz allein. Die Männer laufen alle an den Strand, aber ihre Gier ist so gewachsen, daß sie sich nicht mehr mit dem begnügen werden, was ihnen als Bergelohn rechtlich zusteht. Ach, Inge, ich wünsche, daß alle, die uns lieb sind, reine Hände behalten – so wünsche du nicht, daß uns Brotkorn am Strande wächst. Glaube mir, es ist Teufelssaat.«

Die Tür sprang auf. Es war einer ins Haus gekommen, hinter dem der Sturm dreinfegte. Als Lorens hinausging, fand er seinen Nachbarn, Muchel Carstensen, den alten Strandvogt, und eine Angst befiel ihn, als wären seine Befürchtungen schon Wirklichkeit geworden.

»Was ist?« fragte Lorens im Innersten erschreckt, aber der Alte sah ihn nur erstaunt an.

»Was soll sein? Ich bringe den Kessel zurück, den Inge meiner Tet gestern lieh. Ob ihr nicht morgen unsern Schlachterpunsch kosten wollt, läßt Tet euch fragen.«

Inge bat ihn in die warme Küche, und der alte Mann saß behaglich schwatzend eine gute Weile bei ihnen.

»Schlecht Wetter draußen,« sagte er, als er sich endlich wieder aufmachte. »Ich muß morgen an den Strand, aber es ist ja rein wie verhext – bei all dem Sturm kaum ein Spierchen Wrackholz nun schon den ganzen Herbst.«

Das Haus des Lorens Petersen Hahn in Westerland-Süderende

Er ging, und Inge rieb sich die Augen.

»Ah jee, bin ich müde!«

»Geh schlafen,« sagte Lorens und horchte nach draußen. »Wenn der Strandvogt nicht wacht, muß ich es tun.«

»Mußt du?«

»Ja, ich fühle, es hängt Unheil über dem Strand.«

Da ließ Inge ihn ziehen. Sie reichte ihm selbst Mütze und Stock und half ihm sorglich, die im Winde schlagende Haustür wieder zu schließen. –

Von nun an duldete es Lorens keine schlimme Nacht mehr im Hause. Wenn Inge es ihm auch noch so warm und gemütlich daheim machte – je mehr der Wind draußen heulte, desto weniger litt es ihn drinnen. Der alte Strandvogt kümmerte sich um nichts mehr, seit kein Landvogt mehr auf Sylt war, der ihm auf die Finger sehen konnte. Die andern Sylter aber liefen tagaus, tagein an den Strand und nachts erst recht. Tagsüber paßten sie sich wohl gegenseitig auf – da hätte niemand unbemerkt einen angetriebenen Balken nach Hause schaffen können. Aber je höher die Not stieg, je knapper Lebensmittel und Feuerung wurden, desto mehr Männer und sogar Frauen gingen heimlich bei Nacht über die Dünen, um im Schutz der Dunkelheit zu bergen, was etwa angetrieben sein mochte. Es war aber fast wie ein Wunder, daß trotz aller Stürme in diesem Herbst noch nicht ein einziges Schiff am Sylter Strande aufgelaufen war.

Das Weihnachtsfest kam heran, und Inge richtete einen Schmaus, schöner noch als in anderen Jahren. Sie meinte, da der ganze Winter so kümmerlich wäre, müßte sie einmal den Kindern auch ganz besonders Gutes gönnen. Sie hatte noch einen Krug Sirup im Hause, den gab sie in eins dran, obgleich er sonst wohl für zweimal gereicht hätte. Das gab einen Jubel und ein Geschlecke. Die Kinder klebten fast aneinander, so hatten sie sich mit dem süßen Zeug eingeferkelt, und Niggels-Ohm, der immer Narrenkram im Kopf hatte, brachte ihnen bei, wie sie sich gegenseitig ablecken sollten. Das gab ein Geschrei und Gequieke, daß Inge sich mit beiden Händen die Ohren zuhielt. Und Lorens lachte, bis ihm die Tränen aus den Augen traten.

Dann – mitten im tollsten Lärm – fing er wieder an, hinauszuhorchen. Es war böses Wetter und – kein Zweifel – der Wind drehte nach Westen und ging immer mehr auf. Lorens wollte die Fensterluke öffnen, aber Inges stummer Blick hielt ihn zurück.

»Nicht heute,« bat dieser Blick. »Bleibe nur heute nacht bei uns, es ist Jöölfest Jöölfest = Julfest., Christabend, da wird doch nichts geschehen.«

Lorens ließ die Hand sinken und blieb. Er zwang sich, in die Lust der Kinder einzustimmen, und fast war es, als vergäße er seine Unruhe, da Merret, die sein Liebling war, ihm auf die Knie kletterte und lachend fragte:

»Wollt Ihr mich auch mal lecken, Vater?«

»Küssen will ich dich, mein Pummelke,« rief er und nahm das mollige Ding in die Arme, sein Gesichtchen, sein blondes Haar, seinen kleinen Speckhals mit Küssen bedeckend. Die Schwestern schrien vor Vergnügen, weil Merret verzweifelt strampelte, denn das Küssen war nicht ihr Fall. Als der Vater sie endlich losließ, lief sie zu Inge und barg weinend ihr Gesicht in der Mutter Rock:

»Nun mußt du mich aber ganz waschen!«

Niggels lachte und Inge auch, aber es wurde einen Augenblick stiller, denn die kleinen Schwestern zogen bedenkliche Gesichter, als sie Merret weinen sahen. Da griff Lorens doch nach Mütze und Stock.

»Nein, Inge,« sagte er als Antwort auf ihren traurigen Blick; »ich bleibe nicht fort. Ich will nur einmal sehen, ob Muchel Carstensen vielleicht unterwegs ist. Es ist ein fliegender Sturm vonnacht.«

Das war es. Als Lorens hinauskam, sprang ihm der Sturm entgegen, als wollte er ihn ins Haus zurückdrücken. Aber Lorens stemmte sich gegen ihn und ging zu Muchel Carstensen hinüber. Da war das Haus voll, denn Muchel hatte eine Menge erwachsener Kinder und eine ganze Hetze Enkel. Seine Tet aber hatte gerade wie Inge gemeint: wenn der ganze Winter so kümmerlich ist, muß der Jöölschmaus doppelt schön sein. So hatte sie reichlich gegeben und von jedem das Beste. Sie kamen Lorens mit vollen Branntweingläsern entgegen.

»Wo bleiben Niggels und Inge?«

»Bei den Kindern. Ich wollte Euch nur anbieten mitzukommen wenn ihr vonnacht noch hinaus müßt, Muchel Carstensen.«

Der Strandvogt starrte Lorens mit offenem Munde an.

»Hinaus? Heute nacht? Ich denke gar nicht daran. Es ist ja pechfinster. Ich bin ein alter Mann, ich sehe nicht die Hand vor Augen. Wenn du gehen willst, so tue es nur; du stiehlst mir schon keine Balken.«

Die andern lachten lärmend, aber die alte Tet sagte mit ihrer zittrigen Stimme:

»Am Christabend sind alle Engel draußen.«

»Zum Jöölfest sind auch böse Geister unterwegs,« gab Lorens hart zurück. Dann wandte er sich: »Gute Nacht zusammen.«

Draußen stand er einen Augenblick zaudernd still. Sollte er Inge noch sagen, daß er nun doch an den Strand gehen mußte? Ach nein, sie würde ihn zu halten versuchen, und er konnte doch nicht zu Hause bleiben, wenn draußen so böses Wetter war. Ob er sie davon überzeugen könnte? Dann würde sie es auch wohl ohne Worte verstehen, wenn er fortblieb, besser, als wenn Niggels dabei war und die Kinder. Er bohrte die Fäuste in die Augenhöhlen, um das liebliche Bild zu verscheuchen, das ihn heimlocken wollte. Da rührte etwas leise an seine Knie, und in dem matten Schein, der aus Muchel Carstensens Fenstern in die dunkle Nacht hinausfiel, bemerkte er Rolf, des Strandvogts großen Hund, der ihn meistens auf seinen Gängen begleitete.

»Willst du mitkommen?« fragte Lorens, und der Hund stieß ein kurzes Bellen aus.

»Ja, ja.«

»So komm; mag sein, daß wir umsonst gehen, dann können wir nachher ruhig schlafen.«

Es tat Lorens gut, seine eigene Stimme zu hören. Ein Druck lag auf ihm, der seinen Herzschlag lähmte und ihm die Kehle zusammenschnürte. So sprach er mit dem Hunde, der verständig sich dicht neben ihm hielt, statt auf Köterart hin und wider zu springen. Lorens nahm den Kurs steil West, um so schnell wie möglich den Strand zu erreichen. Ihn wunderte, daß im alten Krug kein noch so spärlicher Lichtschein zu sehen war. Wo konnte die blöde Ingeborg sich in einer solchen Nacht herumtreiben? Denn das Wetter war schlimm. Der Regen schüttete nur so herunter, und der Wind fuhr hinterdrein, daß die Tropfen wie Peitschenhiebe des Wanderers Gesicht trafen. In den Dünen war es noch schlimmer. Der Sand flog in Wolken, so naß er war, und winselnd kroch der Hund hinter Lorens drein. Als sie an den Strand hinunterkamen, riß der Himmel auf. Ein paar Sterne traten klar in die Lücke, und über den brechenden Wellen lag eine matte Helligkeit.

Langsam ging Lorens bis an den Saum der Wellen hinunter, dann wandte er sich nach Norden, um erst den Westerländer Distrikt bis an die Grenze von Kampen hin abzuschreiten. Aber als er wenige Schritte gegangen war, blieb der Hund heulend stehen, und gleichzeitig verstärkte sich die Angst, die Lorens an der Kehle saß, so sehr, daß der Schrecken ihn herumriß. Er packte den Hund fest, nahm das wollene Langtuch, das er selbst um den Hals gewickelt hatte, ab und band das eine Ende dem Hunde um den Hals; das andere behielt er fest in der Hand. Er war jetzt sicher, daß er etwas finden würde und dachte, daß ihm des Hundes gute Nase vielleicht dabei nützen könnte. So wollte er ihn nicht missen, wenn ihm nun auch der Regen in den Hals schlug und in Bächen über Brust und Rücken rann. Ihn schauerte; dann wieder war ihm glühheiß wie im Fieber. Er schaute aus, daß ihm die Augen schmerzten, und allmählich lernte er in der Dunkelheit sehen, wie er es noch nie gekonnt hatte.

Heulend fuhr der Sturm über Mensch und Tier hin. Donnernd brachen sich die Wogen ihm zur Seite. Lorens hörte nichts von alledem. Er war nur Auge. Seine ganze starke Manneskraft richtete sich ausschließlich auf das Sehen, und er war noch kaum mehr als eine halbe Stunde nach Süden hinunter gegangen, so fand er, was er suchte. Nicht gar weit vom Strande zeichnete sich über dem tosenden dunklen Wasser deutlich der schwarze Rumpf eines Schiffes ab; ein langer Mast stach schräge in die hellere Himmelswölbung hinauf.

»Er schlägt nicht mehr, so liegt er wohl fest,« sagte Lorens zu dem Hunde. »Das ist vor zwei Stunden bei Hochwasser aufgelaufen – ein Gotteswunder, daß die Rantumer noch nicht dabei sind.«

Ein paar Schritte weiter lagen Bretter und Balken auf dem Strande, daneben eine runde Wollmütze. Lorens hob sie auf.

»Sieh, die ist auf Sylt zu Hause. Die stammt nicht vom Wrack,« meinte er und hielt sie dem Hunde an die Nase. Der roch daran, fuhr mit der Nase auf den Sand, roch wieder und stieß einen leisen Laut aus, halb Winseln, halb Heulen, der Lorens ein kaltes Entsetzen überjagte.

»Such, Rolf – such, gutes Tier.«

Der Hund fuhr mit der Nase hin und her. Wo die Mütze gelegen hatte, waren die Wellen darüber hingegangen, und der schlagende Regen hatte danach den durchlässigen Sandboden ausgelaugt. Lorens nahm den Hund kürzer und führte ihn in flachem Bogen nach den Dünen hinauf. Plötzlich jaulte der Hund laut auf und strebte dann mit der Nase voran wieder den Wellen zu. Lorens ließ ihn gewähren.

»So gut – so brav – ja, mein Hund, nun zurück – ah mei, hier haben sie etwas geschleppt wie einen Sack. Wohl – wohl – hier die Dünenschlucht hinauf – ins Deichtal?«

Unter Mann und Hund öffnete sich ein weites flaches Tal, das Deichtal, so genannt nach dem Rest eines vorzeiten zerstörten Deiches, der vom Watt her auf dies Dünental zuschnitt. Über die Dünenkette jagte der Sturm, so daß Lorens sich nicht halten konnte. Er stolperte den Abhang hinunter und riß den Hund mit. Der heulte mit borstig gesträubtem Haar, fuhr mit der Nase im Kreise umher, fand die Spur, verlor sie wieder und wurde nur immer aufgeregter.

»Ruhe, mein guter Hund, der Sack war schwer, sie können noch nicht weit sein. Und wenn sie bis Rantum gelaufen sind, wir holen sie doch noch ein.«

Aber alles Zureden nützte nichts. Der Hund heulte wie rasend, riß das wollene Langtuch mitten durch und jagte davon. Wenige Augenblicke später tönte ein wütendes Bellen und der kreischende Schrei einer Weiberstimme. So schnell ihm die Dunkelheit und der holperige Boden erlaubten, folgte Lorens dem Hunde, aber all sein Pfeifen und Rufen stillte des Hundes Bellen nicht. Als er ihn fast erreicht hatte, klang ein anderer Ton dazwischen, ein hilfloses Weinen, und zu seinem Erstaunen fand Lorens neben sich in einer Erdkuhle ein zusammengekauertes Menschenwesen, die blöde Ingeborg aus dem alten Kruge. Der Hund aber stand einige Schritte davon entfernt und verbellte ein anderes Wild.

»Lorens – Lorens, der Hund frißt mich!«

»Er denkt gar nicht daran – Ingeborg Claußen?« rief Lorens erstaunt. »Was tust du hier in einer solchen Nacht? Mach, daß du nach Hause kommst.«

Sie weinte.

»Sie hatten mich zum Jöölschmsus geladen, aber das Haus war leer. Ich ging an den Strand – huh, da waren schwarze Männer – Angst – Angst –«

»Geh nach Hause,« wiederholte Lorens. »Still, Rolf, was hast du da?«

Der Hund wandte sich mit leisem Knurren um. Vor ihm auf weißem Sandfleck lag ein dunkler Gegenstand. Lorens hob ihn auf und ließ ihn im gleichen Augenblick mit einem Schrei des Ekels und Entsetzens wieder fallen – es war eines Menschen Hand.

Wieder knurrte der Hund, denn die blöde Ingeborg kroch heran.

»Das ist mein, der Ring ist mein, sie warfen ihn mir zu –«

»Wer?«

»Die schwarzen Männer – uuha, sie hackten sie aus dem Sande, wo sie den Sack untergegraben hatten. Das ist mein Julklapp, aber der Hund wollte mich beißen, da warf ich es fort – gib her, Lorens, es ist mein Ring –«

»Wo haben die Männer den Sack vergraben?« fragte Lorens heftig, aber die blöde Ingeborg antwortete nur:

»Gib mir den Ring, den Ring – du bist ein Dieb – huh, Lorens Hahn ist ein Dieb!«

Sie griff nach der Hand, aber der Hund packte sie am Rock. Schreiend riß sie sich los und war gleich darauf in der Dunkelheit verschwunden.

Mit Mühe überwand Lorens seinen Ekel und hob die Hand auf. Es war eine harte, von Sonne und Wetter gebeizte Schifferfaust. Am Daumen saß ein breiter Ring – Lorens stutzte. Hatte er diesen Daumen mit diesem Ring nicht schon einmal gesehen? Wo nur? wo?

»Such – such –« rief er dem Hunde zu, aber obgleich der um und um fuhr, konnte er doch keine Spur mehr finden.

Endlich gab Lorens es auf und ging nach Westerland zurück. Die Unruhe war von ihm genommen, aber er trug schwer an seinem grausigen Fund, als hätte er selbst einen Mord begangen. In des Strandvogts Hause war immer noch Licht hinter allen Fenstern. Da trat er ein. Drinnen war lustiges Leben. Sie rauchten und tranken, die jüngeren Leute tanzten in dem engen Raum, und die Alten riefen ihnen lärmend Beifall.

»Hee, Lorens –« rief der Strandvogt gutgelaunt – »hast schnelle Beine, wenn sie dich derweil nach Hörnum hin und wieder zurücktrugen. Nun zeig auch, was du gefunden hast.«

»Ja,« antwortete Lorens und warf die Hand auf den Tisch mitten zwischen Becher und Krüge. »Dies fand ich.«

Sie traten lärmend näher, lachend, neugierig. Dann verstummte das Lachen, und die Gesichter wurden fahl.

»Eine Hand – eines Menschen Hand – sieh nur, sie blutet noch –«

Die Frauen fingen vor Angst an zu weinen. Muchel Carstensen traten die Augen stier aus dem Kopfe. Lorens drehte die Hand um, daß der Daumen zu oberst lag.

»Kennt einer den Ring? Mir ist, ich müßte ihn kennen, aber mein Kopf ist schwer, ich kann mich nicht besinnen.«

Die Männer schoben die Frauen zur Seite und beugten sich über den Tisch. In dem Schein der Lampe glänzte am Daumen der Hand ein plumper Silberring, matt geworden von Alter und Salzwasser. In der Mitte verbreiterte er sich zu einer Platte. Auf der war eine Marke eingeschnitten: ein langer Stab mit zwei kurzen Querbalken.

»Tetten –?« sagte einer der Söhne Muchel Carstensens halb fragend; da griff plötzlich ein anderer, der jüngste von ihnen allen, nach der Hand und hob sie hoch an das Licht.

»Manne Tetten aus Archsum,« rief er. »Das ist Mannes Ring – so wahr ich lebe! – meiner Frau Bruder.«

Die junge Frau stieß einen schrillen Schrei aus und drängte sich vor.

»Manne – oh, wie kommt doch sein Ring an diese Hand?«

Alle schwiegen auf diese Frage, bis endlich Lorens die Antwort gab:

»Wessen der Ring war, dessen wird auch die Hand sein.«

»Die Hand –« wiederholte die junge Frau wie blöde. »Die Hand –? Aber die ist doch nicht – es kann doch nicht – wo ist denn Manne? Um Gott, Lorens, wo ließest du Manne?«

»Ihn fand ich nicht.«

Sie starrten ihn alle an.

»Sprich, Lorens,« forderte Muchel Carstensen; »wie fandest du die Hand? Du kannst doch nicht die Hand ohne den Mann gefunden haben?«

»Dein Hund war mit mir gelaufen, der spürte sie auf. Ich hatte diese Mütze am Strande gefunden. Da liegt ein Wrack, Muchel Carstensen, Ihr werdet in aller Herrgottsfrühe hinaus müssen.«

»Die Mütze, die Mütze,« drängte Manne Tettens Schwester; »weise sie mir, kann sein, daß ich sie kenne.«

Lorens gab sie ihr, aber in gleicher Art wie diese waren wohl hundert Seemannsmützen auf Sylt gestrickt. Die junge Frau wandte sie um und um und konnte doch kein Zeichen finden.

»War Manne denn so spät noch auf See?« fragte Lorens.

»Er war vorm Jahr mit seiner Schmack und fünf andern Sylter Mann von den Dänen aufgegriffen und zum Kriegsdienst gezwungen,« erklärte sein Schwager. »Einmal hatten wir Botschaft von ihm aus Esbjerg, das ist aber lange her. Seitdem wußten wir nichts von ihm.«

Plötzlich fing die junge Frau an zu weinen.

»O Gott, o Gott, wenn er umgekommen wäre – Peter war mit ihm und Schwenn und drei Morsumer. Aber das ist doch nicht möglich, nicht wahr? Wie könnte die Hand allein auf Strand kommen?«

»Ich fand sie nicht am Strande; der Hund jagte sie in den Dünen der blöden Ingeborg ab,« sagte Lorens und berichtete genauer, was er erlebt hatte. »Mich dünkt,« schloß er endlich, »da bleibt kein Zweifel: die Strandgänger haben einen Sylter Mann erschlagen.«

Ein Grausen, wie sie es noch nie empfunden, machte sie alle schweigen. Wenn ein Schiff voll Brotkorn an den Sylter Strand getrieben wäre, dann hätte es unter denen, die eine hungrige Kinderschar daheim hatten, wohl nicht wenige gegeben, die ein paar Säcke heimlich überseit gebracht hätten, ohne sich ein Gewissen daraus zu machen. Ein Mord an einem Sylter Mann hingegen – davor graute ihnen allen. Das war, als hätte man den eigenen Bruder erschlagen.

»Und warum?« sagte Lorens bitter. »Nicht um Brotkorn für die Kinder. Nicht aus Notwehr, denn es müssen zwei gewesen sein, die den einen fanden. Um keiner andern Ursache willen, als weil ihr alle das Strandjen nicht lassen könnt und sprecht: was der Teufel uns zuwirft, darum brauchen wir doch nicht zu arbeiten.«

Damit ging Lorens aus dem Hause. Der Wind aber riß ihm die Tür aus der Hand und warf sie hinter ihm zu, daß sie krachte.

Am andern Morgen vor Tau und Tage kam der Strandvogt ihm ins Haus und bat ihn, mit hinauszukommen und suchen zu helfen. Der alte Mann war so verwirrt und verbiestert, daß er Lorens leid tat. Aber er schluckte sein Mitleid herunter und stellte sich kurz angebunden, denn, dachte er bei sich, Manne Tetten ist es, dem Unrecht getan wurde, nicht Muchel Carstensen.

Der Hund wartete schon vor der Tür und mehrere von Muchel Carstensens Söhnen und Schwiegersöhnen. Auch ein Bruder des Manne Tetten war dabei; es hatte sich über Nacht schnell herumgesprochen, was geschehen war. Sie zogen allemann zum Kruge und forderten Ingeborg Claußen auf, mitzukommen.

»Ich mag keine Mannsleute mehr,« sagte sie mürrisch. »Lorens hat meinen Ring gestohlen, und wer mich zum Jöölabend einlud, hat mich vor der Tür sitzen lassen.«

»Wer lud dich ein?« fragte der Strandvogt gespannt; sie aber griente:

»Eeh, du nicht, Muchel Carstensen. Macht, daß ihr weiterkommt.«

Da holte Lorens einen blanken Silberling aus der Tasche und ließ ihn im Morgenschein spielen.

»Den sollst du haben, Ingeborg, wenn du mitkommst.«

Sie griff danach, aber er schob ihn wieder in den Hosensack.

»Hinterher,« sagte er ruhig. Da ging sie mit.

Sie stiegen über die Dünen und gingen den Strand hinunter. Doch ehe sie noch das Wrack erreichten, fanden sie eine Leiche an der Flutgrenze. Ein Möwenschwarm ging davon auf, als der Hund bellend darauf lossprang. Aber der tote Mann hatte die Nase in den Sand gedrückt, so daß das Gesicht noch völlig unverletzt war. Sie drehten ihn um, und Bo Tetten zuckte zurück, als er ihn erkannte.

»Es ist Rink Uwen aus Morsum; er fuhr mit meinem Bruder.«

So wußten sie, daß es das Wrack von Manne Tettens »Hoffnung« war, ehe sie es noch erreicht hatten. Der Sturm war abgeflaut, am hellen Himmel stand noch der abnehmende Mond, aber hinter den Dünen war schon die Sonne aufgegangen, und ihre Strahlen färbten die letzten schwimmenden Wölkchen und das atmende Wasser mit zartrötlichem Glanze. Das Wrack lag auf dem Strande nicht anders als ein zerbrochenes Kinderspielzeug. Still und friedlich war das ganze Bild; es sah nicht aus, als hätten hier vor wenigen Stunden verzweifelnde Menschen um ihr bißchen Leben gerungen.

Vier von den Männern blieben am Strande zurück, um – sobald das Wasser vollends gefallen sein würde – nach dem Wrack hinauszuwaten. Den andern wies Lorens die Stelle, wo er die runde Mütze fand und den Weg über die Dünen, den ihn der Hund geführt. Alle Spuren der Nacht hatte der stürzende Regen verwischt, aber mit den andern Männern folgte auch das blöde Weib, und als Lorens auf eine Erdkuhle deutete und sagte:

»Hier fand ich Ingeborg –« nickte sie eifrig mit dem Kopfe.

»Du warfst die Hand fort, als der Hund dich verbellte?« fragte der Strandvogt. »Wo hattest du die Hand gefunden?«

»Nicht gefunden,« antwortete Ingeborg gekränkt; »geschenkt! Julklapp, riefen sie, da ist ein Ring für dich, schöne Ingeborg.«

»Welche sie?«

»Schöne Ingeborg – hei, bin ich noch so schön, Muchel Carstensen? Aber Lorens hat mir den Ring gestohlen.«

»Ich gebe dir einen silbernen Taler dafür, wenn du mir sagst, wer dir den Ring gab.«

»Still – still,« flüsterte sie und sah sich ängstlich um. »Schwarze Männer – sind das Teufel? Weiße Augen, weiße Zähne –«

»Sie werden sich die Gesichter mit Ruß geschwärzt haben,« meinte Lorens achselzuckend; dann wandte er sich wieder an Ingeborg. »Die Teufel haben den Sack vergraben, sagtest du gestern. Zeige uns, wo sie gruben.«

»Gibst du mir noch einen Taler?«

»Nein, nur diesen,« antwortete er und hielt ihn hoch, daß er im Sonnenschein blitzte. »Aber erst sage: wo gruben die Männer?«

»Da – da,« rief Ingeborg und deutete auf die nächste Düne.

»Wo da?«

Sie humpelte hin und stieß mit ihrem Stock in ein Sandloch.

»Da!«

»So fang!« sagte Lorens und warf ihr den Taler zu. Sie fing ihn auf, küßte ihn und rieb ihn an ihrer Jacke. Dann schwatzte sie weiter, wahrend die Männer ihre Spaten ansetzten und mit dem Graben begannen.

»Der Sack war tot und war lebendig. Hohoh – die Hand kam immer wieder hoch. Die schwarzen Teufel traten darauf, aber hoho – kam sie nicht wieder hoch? Den Ring soll Ingeborg haben, sagte die Hand, ich will zu Ingeborg. Da nahm der Teufel ein Beil und schlug die Hand ab und warf sie mir zu: Julklapp, schöne Ingeborg! Huh, siehst du das Blut?«

Sie hob ihren Rock, der voll schwarzer Flecken war, und die Männer sahen mit finsteren Blicken darauf.

»Verfluchte Hexe,« sagte Bo Tetten und wischte sich den blanken Schweiß von der Stirn. »Sie haben Manne lebendig begraben, die Satanskerle. Wenn man nur aus ihr herausbringen könnte, wer es war!«

Sie gruben über Mannesmaß tief und fanden nichts. Aber als sie Ingeborg darum hart anließen, sagte sie mit starrem Blick:

»Was ein Teufel vergräbt, fällt gleich in die Hölle.«

»Sie mag recht haben,« sagte Muchel Carstensen und nahm einen herzhaften Schluck Branntwein. »Ich muß an den Strand zurück, wenn ihr hier weiter graben wollt –«

Aber sie wollten alle lieber einen Bergelohn verdienen und zogen ab. Nur Lorens blieb mit Bo Tetten zurück. Sie gruben hier noch und dort ein Sandloch auf, aber sie fanden nirgend eine Spur.

Am Wrack war das Suchen erfolgreicher. Das Schiff hatte keine Ladung gehabt, aber in der Kajüte fanden sich Papiere, aus denen hervorging, daß Manne Tetten eine erkleckliche Anzahl dänischer Kronen aus seinem erzwungenen Kriegsdienst gezogen hatte. Auf dem Schiff selbst wurde aber kein Geld gefunden, so mußte man wohl annehmen, daß er es bei sich getragen hatte, als er das Schiff verließ.

Die Stille nach dem Sturm war nur eine vorübergehende Flaute gewesen. Gegen Abend schon ging der Wind wieder auf, und die nächsten Fluten schlugen das Wrack in Trümmer. In den darauf folgenden Tagen aber trieben die Leichen von Peter Tetten und dem Jungen Schwenn aus Archsum, sowie die von Nickels Teides und Peter Bohn aus Morsum am Kampener Stranddistrikt an. Nur die des Manne Tetten kam nie wieder zum Vorschein.


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