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12. Inge in Hamburg

Das Jahr, in dem der kleine Peter Lorensen Hahn das Laufen lernte, war für den Walfischfang ein Goldjahr. Im Durchschnitt brachte jeder Hamburger Grönlandfahrer zehn Fische mit heim. Lorens der Hahn aber, der nun Jahr für Jahr sorgfältig die besten Fangstellen auf seinen Karten eingetragen und über Winde und Meeresströmungen eingehende Bemerkungen dazu gemacht hatte – Lorens fuhr schon Mitte August mit vierzehn großen Fischen im Bauch von »Salomons Gericht« wieder südwärts. Es war ein bitterkalter Winter gewesen, ein spätes Frühjahr, da sie ausfuhren, und dann war ein über die Maßen heißer Sommer gefolgt, von dem sie freilich im Norden nicht viel gespürt hatten. Doch nun, da sie in die Nordsee kamen, war ihnen fast, als segelten sie in den südlicheren Meeren. So sanft, so milde, so über die Maßen holdselig war dieser Spätsommer, so linde die grüne See, so warm der weiche Ostwind, der ihnen tausend Grüße von frischgeschnittenem Grase und reifem Korn, von duftendem Obst und dem sommerlichen Geruch der in Sonnenglut dampfenden Erde brachte. Den Männern wurde wunderlich zu Sinn. Wer ein Liebchen hatte, der dachte sein und fing in aller Eile an, noch irgend etwas zu basteln oder zu flechten, um ihr einen Beweis mitzubringen, daß er zwischen Eis und Schnee, zwischen Walfischtran und -speck ihrer stets treu gedacht hätte. Wer kein Liebchen daheim hatte, der träumte von allen Mädchen, die er je gesehen und sehnte sich danach, sie allesamt ans Herz zu drücken. Die aber Weib und Kind schon ihr eigen nannten, lachten fröhlich in der Erwartung des Wiedersehens, wenn auch in Wirklichkeit das Weib eine böse Sieben und die Kinder unartige Rangen waren.

Doch der Wind kehrte sich nicht an die Sehnsüchte der Männer. Immer sanfter fächelte der liebliche Ost; langsam ging er nach Norden herum. Dann aber legte er sich hin wie ein Kind, das in sommerlichem Spiel sich selbst vergißt, und schlief ein. »Salomons Gericht« wurde von der Flut noch bis zur mittleren Höhe von Sylt getragen, dann lag es auch still, und die Segel schlappten gegen die Masten.

»Fall – fall – over all!« sang Lorens plötzlich.

Das Schiffsvolk sah ihn an und lachte.

»Soll wohl sein, Kommandeur, dann schießen wir Sylt und pökeln es ein.«

Aber Lorens hatte es nicht als faulen Witz gemeint.

»Zwei Schaluppen streichen! Ich gehe an Land, Hanne Mul kommt mit und zwölf Mann. Lost untereinander, aber ihr anderen laßt den Syltern die Vorhand.«

Das gab einen Spektakel! Hanne Mul, der Kajütswächter, der seit drei Tagen schon ununterbrochen vor Heimweh nach seinem Großmutting geheult hatte, fing wieder an, mit blanken Augen zu lachen, wie er sonst auf der ganzen Reise gelacht hatte. Die Männer aber schlugen sich fast um die Plätze an den Riemen, bis Daniel Puttfarken, an den das Kommando in des Kapitäns Abwesenheit fiel, einen tüchtigen Dämpfer aufsetzte. Endlich waren die beiden Schaluppen klar und nahmen flott Kurs auf den nahen Strand zu. Hanne Mul, ein Hamburger Junge, der von der Welt nichts weiter kannte als die Elbufer und Spitzbergen, machte große Augen, als die hellen Dünen so hinter dem Wasser aufstanden. Fast ein wenig beklommen war ihm zumute, als er dann die wunderlichen Sandberge selbst ersteigen mußte und von der Höhe her das flache Land überschaute, in dem die einzelnen Höfe hier und da verstreut lagen wie Spielzeug, das ein Kind in der Schürze getragen; die Schürze aber hatte ein Loch gehabt, da war hier ein Hof ins Land gefallen und dort wieder einer – so winzig sahen sie aus; noch kleiner freilich die Kühe und Schafe und einzelne Menschen auf den Weiden.

Die Männer schauten alle über das Land hin; es waren lauter Sylter, die mitgekommen waren, bis auf Hanne Mul. Da fingen sie an, ihm das Land zu weisen:

»Sieh, Junge, hier wohne ich – und dort drüben ich – siehst du den Kirchturm im Osten? Daneben liegt Keitum, da bin ich zu Hause. Fein ist es da, Hanne Mul, da kommt Hamburg nicht gegenan –«

So ging das, bis Lorens ein Ende machte.

»Morgen abend bei Hochwasser gehen wir wieder an Bord, auch wenn kein Wind ist.«

»Wohl, wohl, Kommandeur, fahrwohl.«

Damit trennten sie sich und zerstreuten sich schnell in der weiten Ebene. Hanne Mul aber folgte seinem Kommandeur erst ein Stück nach Osten zu und dann den Süderweg hinunter, bis sie an ein Haus kamen, das lag breit auf der Erde, hatte ein hohes und starkes Rohrdach und lachte aus vielen blanken Fensterchen. Als sie aber eintraten und Lorens ein lautes »Hallo!« in den dunklen Gang hineinrief, blieb alles still. Verblüfft sahen sich Kommandeur und Junge an. Wie konnte die Frau nicht daheim sein, wenn der Mann ankam? Das verstanden sie beide nicht.

»Je – da müssen wir wohl warten,« sagte Lorens endlich und kroch doch durch alle Stuben, durch die Küche und in den Stall, um zu sehen, ob wirklich niemand da wäre. Als sie aber aus dem dunklen Stall wieder in die helle Abendsonne hinaustraten, kam von der andern Seite eine Frau, die war groß und stattlich, trug einen weißen Schafpelz mitten im Sommer, darüber einen schwarzen vielgefalteten Rock, auf dem Kopf aber ein Ding wie einen Kochtopf mit silbernen Eiern am oberen Rand, dergleichen alles Hanne Mul noch nie im Leben gesehen hatte. Augen und Mund riß er auf und lehnte sich erschüttert an die Hauswand. Die Frau trug ein Kind auf dem linken Arm, und in der rechten Hand hielt sie ein Tau. Daran führte sie eine braunbunte Kuh, deren Hörner durch künstliche Schlingen mit denen von zwei andern Kühen verbunden waren. Die Leitkuh aber hielt mit dumpfem »Muuh« geradenwegs Kurs auf Hanne Mul, der mit einem Schreckensschrei Reißaus nahm.

Lorens lachte, daß ihm die Tränen in die Augen stiegen. Dann trat er zu seiner Frau.

»Inge!« sagte er heiß, doch sie hielt ihm nur das Kind hin.

»Ich sah euch auf den Dünen, so kam ich gleich mit den Kühen,« antwortete sie und sah fragend auf Hanne Mul; »was ist, daß du so früh kommst und von Westen?«

»Wir hatten schon volle Fahrt und haben nun keinen Wind. Dies ist Hanne Mul, Frau, brauchst nicht Angst zu haben, daß du den nicht satt kriegst. Ich habe mehr Hunger, Inge –« das schreiende Kind gab er ihr zurück.

Eine helle Flamme schlug über ihr Gesicht.

»Wo kommst du nur her?« wiederholte sie verwirrt.

»Von ›Salomons Gericht‹; es liegt draußen vorm Weststrand. Morgen abend kommst du auch an Bord, dann nehme ich dich mit auf Hamburg.«

»Wie soll das wohl angehen?« antwortete sie halb verlegen und beruhigte das zappelnde Kind. »Sei still, nun sollt ihr alle zu essen bekommen.«

Die Grütze hatte auf glimmendem Tuul Tuul = Seetorf. gestanden, war dick und steif. Dazu gab es Milch noch warm von der Kuh und Sirup, so viel Hanne Mul nur schlecken mochte, und da ihm sein Kommandeur ermutigend zunickte, war er auch nicht schüchtern im Zulangen. Ja, als Lorens seinen Löffelstiel in geballter Faust auf den Tisch stieß und sagte:

»Mich hungert immer noch, Frau –« nickte Hanne Mul ihm seinerseits ermutigend zu und meinte gönnerhaft:

»Ein gut Stück Schinkenspeck wäre nicht übel dazu, he Kommandeur?«

Da lachte auch Inge, öffnete eine Schranktür und stieg in dem engen Raum eine schmale Leiter hinauf. Staunend sah Hanne zu, wie die rotbestrumpften Beine in dem dunklen Loch oben verschwanden. Als die Frau aber wieder herunter kam, reichte sie Lorens von oben her einen Schinken zu, an dem wohl acht Mann auf einmal satt werden konnten. Und der Kommandeur zog sein Messer, wetzte es am Herdstein und schnitt in die schwarzgeräucherte Schwarte hinein, daß Hanne Mul das Wasser im Munde zusammenlief. Er sättigte sich denn auch ohne Scheu, und als er so weit war, daß er nur noch schnaufen konnte, legte er die Hände überm Bauch zusammen und sagte aus Herzensgrunde:

»Gott sei Dank für diesen Tag; morgen mehr! Nun seid Ihr auch satt geworden, Kommandeur.«

Aber Lorens wiegte bedenklich das Haupt.

»Immer erst halb, Hanne Mul. Kriech ins Bett und schlafe, kann sein, daß mir die Frau dann noch heimlich was Besseres gibt.«

»Jee, Kommandeur, könnt Ihr aber fressen!« rief der Junge bewundernd.

»Ja, das sag du man!« meinte Inge lächelnd. »Komm, nun will ich dir dein Bett weisen.«

Sie nahm ihn an der Hand und führte ihn in eine Kammer. Dort öffnete sie eine Tür in der Wand, und ein breites Bett wurde sichtbar. Mit einem langen Stock plusterte sie das Stroh auf und warf eine Decke darüber.

»Zieh deine Stiefel aus,« gebot sie und reichte ihm noch ein warmes Schaffell als Zudeck. Dann klappte sie die Türen hinter ihm zu, und ehe Hanne Mul sich noch recht ausgestreckt hatte, schlief er schon wie ein Eisbär im Winterschlaf.

Am andern Morgen ging das gute Leben weiter. Der Kommandeur hatte so blanke Augen, wie Hanne Mul sonst nur vorm Fisch an ihm zu sehen gewohnt war, und lachte in einem fort. Aber Messer und Löffel legte er bald zur Seite, und dann sagte er:

»So, Inge, nun bringe das Haus in Ordnung und zieh dich an. Heute abend kommst du mit an Bord.«

»Wie soll das wohl angehen?« antwortete Inge unwillig.

»Ganz einfach: Du kommst mit an den Strand, wo die Schaluppen liegen, und wir rudern dich hinüber. Einen Mann mehr können wir schon noch mitnehmen, he Hanne Mul?«

»Peter auch?« fragte der Junge eifrig zurück. Er hatte seinen Spaß daran, wie der Kleine den Schnabel aufsperrte, wenn er ihm mit einem Löffel voll Sirup in Sicht kam.

»Nein,« entschied der Vater. »An Bord ginge es wohl, aber wo sollen wir in Hamburg mit dem Pummel bleiben? Und wenn wir hernach zur Heimreise schlecht Wetter haben? Tet Muchels kann ihn nehmen, die kann auch nach dem Vieh sehen.«

Inge wollte nicht. Sie fing an zu weinen – so arg, daß Hanne Mul vor Mitgefühl auch losheulte, und Klein Peter stimmte mit ein, daß es den schönsten dreistimmigen Gesang gab. Aber Lorens blieb hart.

»Du kommst mit auf Hamburg, ich will es nun einmal. Sollst sehen, wie fein es da ist. Kannst bei Hanne Muls Großmutting wohnen und sollst große Damen in Kringelinen sehen – oder wie sie die Dinger heißen.«

Als Inge merkte, daß er sie nötigenfalls mit Gewalt an Bord holen wollte, wurde sie kleinmütig und fing an, das Haus zu richten. Tet Muchels kam, die Nachbarin, und es gab ein Geschnatter zwischen den beiden Frauen und ein Tun und Schaffen, daß Kommandeur und Junge sich ganz verschüchtert an den Wänden lang drückten. Bis Mittag war alles so weit klar. Aber dann fing Inge erst an, sich von Kopf zu Füßen neu zu kleiden in ihren allerbesten Kirchenstaat. Da kam erst wieder ein Schafpelz, weiß wie frischgefallener Schnee, vielgefaltet und steif; darüber nun ein kurzes buntes Wams mit gefaltetem Rock daran; ein weiter Mantel mit baumelnden Schwänzchen ringsum und eine hohe Hüf auf den Kopf, unter der Inges losgebundene Locken flogen. Hanne Mul riß Mund und Augen auf; was war das für ein Angehen!

»Hee –? Das läßt, als wenn ein Dreimastschiff von Stapel laufen soll;« darin waren Kommandeur und Junge einig.

Als sie abends mit ihr an Bord kamen, staunten die unter dem Schiffsvolk, die noch nie auf Sylt gewesen waren, nicht minder als Hanne Mul über die große Frau in dem stattlichen Aufputz. Sie wußten nicht, weshalb sie weinte und sahen sie scheu an. Aber am andern Morgen bekamen sie ein wenig Wind in die Segel, das brachte sie bis zum Abend nach Helgoland. Da kam einer an Bord, Siems mit Namen, der war vor Jahren einmal bei Erk Andresen gewesen und erkannte Inge. Das gab einen Spaß! Inge hörte auf zu weinen. Mit eins erschien ihr die weite Welt nicht mehr so groß und so fremd, und als Siems gar anfing, sich in Sylter Friesisch zu versuchen, mußte sie lachen.

Sylterin aus dem Jahre 1700

Ihre Fahrt die Elbe hinauf dehnte sich lang und langweilig. Wäre nicht die Frau an Bord gewesen, würde das Schiffsvolk wohl ungeduldig geworden sein. So sahen die Männer alle auf sie, wo sie sich nur blicken ließ, und wenn sie mit ihrem Strickzeug an Deck saß – denn sie verstand es nicht, müßig zu gehen und die Hände in den Schoß zu legen –, dann strich bald der eine, bald der andere an ihr vorüber und fand, daß der Tag nicht inhaltslos gewesen war, wenn er ihr nur eine Handreichung tun oder eine Frage beantworten konnte. Inge aber war wie ein Kind. Jede Windmühle und jeder Kirchturm, der über den Deich guckte, wurden ihr zum Erlebnis, und fast schien es, als hätte sie daheim noch nie eine Möwe gesehen, so nipp schaute sie jedem vorüberstreichenden Vogel nach. Schlimm war nur, daß sie nichts tun durfte, nicht kochen, nicht Geschirr waschen, nicht die Kajüte fegen; dafür waren Koch und Küchenjunge und Hanne Mul da, aber sie sah wohl, daß das alles nur halber Kram wurde. Das Schlimmste aber war, daß sie mit Lorens und den Offizieren am weißgedeckten Tisch essen mußte, und daß er sie zwang, die Gabel statt der Finger zu benutzen.

»Ihr haltet es mit mir, Frau: Fünffinger ist die beste Schiffsgabel,« meinte der alte Puttfarken gutmütig, aber Lorens der Hahn stieg nicht vom hohen Mist herunter.

»Wenn wir bei David Worms zum Essen geladen werden, geht es nicht an, daß du die Finger in den Mund steckst, Inge; quäl' dich man düchtig, du wirst es schon lernen.«

Vor Hamburg hatte Inge sich gefürchtet, aber Hamburg nahm sie freundlich auf. Sie wohnte bei Hanne Muls Großmutting, die einen Grünkramkeller hatte. Die war knapp größer als Hanne selbst und schlug nicht schlecht die Hände überm Kopf zusammen, als der Junge ankam mit einem Weibsbild im Schlepptau, so hoch und so groß und mit einer steinernen Krone auf dem Kopf wie der Wachtturm hinterm Holstentor. Nachdem sie Inge aber von allen Seiten betrachtet und befühlt hatte und endlich herausgebracht hatte, daß in all dem Staat von Pelz und Tuchwerk ein leibhaftiges Frauenzimmer steckte und ein junges noch dazu, da zog sie Inges helles Gesicht zu ihrem alten verrunzelten und verräucherten herunter und gab ihr einen herzhaften Kuß.

Wunderlich war, wie freundlich das alte Hamburg Lorens Petersens junge Frau aufnahm. Kaum kroch sie nur aus ihrem Grünkramkeller hervor, so sammelte sich gleich ein Schwarm Menschen um sie, die in einer Sprache, von der Inge kein Wort verstehen konnte, sich untereinander allerhand zuriefen, indem sie dabei mit den Fingern auf Inges lange rote Strümpfe, den weißen Pelz und die hohe Hüf deuteten. Im Frühjahr hatte Lorens für Inge eine Hüf bestellt, doppelt so hoch wie die alte und mit doppelt so schweren silbernen Eiern; die war inzwischen fertig geworden aus tiefschwarzem spiegelnden Samt und feuerrotem Tuch. Vierundzwanzig harte Taler mußte Lorens dem Mann dafür auf den Tisch zählen, aber er tat es lachend und zog stolz mit seiner Inge über den Jungfernstieg. Ein langer Schweif von Menschen zog hinterdrein, aber das kümmerte Lorens nicht viel, und Inge meinte, das gehörte wohl zu Hamburg. Es stießen aber immer mehr Menschen zu dem Schwarm, und darunter waren manche, die plötzlich ein bekanntes Gesicht zeigten:

»Hallo, Inge –! Wie geht es zu Haus?«

Das waren Sylter. Es waren überhaupt viel Inselfriesen jetzt um den Weg auf Hamburg. Sie kamen von Grönland, von Holland und vom Mittelmeer und fanden sich alle in Hamburg zusammen, wo um diese Jahreszeit immer ein paar Schmackschiffe zur Heimreise bereit lagen. Inge aber war die einzige Frau unter all den Männern, und jeder wollte ihr schöntun.

Wie Lorens vorausgesehen hatte, so kam es: sie wurden von David Worms, dem Schiffsreeder, zum Essen draußen ins Landhaus geladen. Es war eine große Gesellschaft feiner Damen und Herren versammelt, und der Reeder feierte seinen glückbringenden Kommandeur nach Kräften. Inge stand wie eine Riesin in dem Gewusel der kleinen zierlichen Dämchen, deren Gestalten in lauter Seide und Spitzen verschwanden; nicht eine reichte ihr höher als bis zum Ohr. Wie die Unterirdischen sind sie, dachte Inge und sah mit freundlichen Augen neugierig auf sie hinunter, die hinter ihren Fächern kicherten und tuschelten. Auch der alte Worms ließ sich in seinem Lehnstuhl in den Saal tragen, um die Sylterin zu sehen, aber der kleine Jan, der diesmal Lorens einen hohen, innen vergoldeten Pokal voller Silberlinge überreicht hatte, schrie laut auf, als Inge ihn auf den Arm nehmen wollte.

Zwei gute Wochen lang mußten sie sich in Hamburg aufhalten, damit Inge alle Herrlichkeiten der großen Stadt recht kennen lernen konnte. Aber die große Stadt lernte ihrerseits auch die Sylterin recht kennen, ja, im »Altonaer Mercurio« erschien sogar eine genaue Beschreibung von ihr als der »Eingeborenen von den Schleswigschen Westseeinseln«. Lorens und Inge ließen eine Schmack abfahren und noch eine. Erst als die Ausreise der dritten angekündigt wurde, entschlossen sie sich zur Heimkehr. Da war aber die Kunde von Inges Erlebnissen ihr voraufgelaufen bis nach Sylt hin, und alle Sylterinnen erwarteten sie mit Spannung.

Inge war wie im Traum gewesen all die Tage und Wochen hindurch. Wie im Traum machte sie auch die Schmackfahrt an den Inseln vorüber. Es waren allerlei Amrumer und Föhringer an Bord; die wurden in Wyk an Land gesetzt. Danach ging die Fahrt südlich Föhr weiter, aber erst, als Lorens zu Inge kam und sagte:

»Komm herüber an Steuerbord, da haben wir schon Sylt klar von Deck in Sicht –« war ihr, als ob sie aus langem Traum erwachte. Und als er ihr ihres Vaters Haus wies und dabei sagte:

»Hinter Tinnumburg liegt unser Haus –« da stürzten ihr die Tränen aus den Augen, und ein Schmerz war in ihr, der sie fast zerriß.

»Was ist, Inge?« fragte ihr Mann; »magst nicht heim? Wärest du lieber noch in Hamburg geblieben?«

Sie schüttelte heftig den Kopf, doch die Tränen rannen weiter.

»Du freust dich doch, daß du auch einmal auf Hamburg gefahren hast?«

Darauf nickte sie, aber nur halb, und dann kam ein Wort, das klang wie erstickt:

»Pidderke – Peter – mein Pummelke –«

Und das Heimweh nach ihrem Kinde packte sie mit solcher Gewalt, daß sie fast über Bord gesprungen wäre, um zu Fuß über Morsum Nösse nach Hause zu laufen.

Am späten Abend machten sie unter Keitum fest, aber trotz der Dunkelheit wollten alle Mann noch an Land. Die meisten hatten Mitleid mit Inge, so kam sie mit Lorens ins erste Boot, das aufs Wasser kam. Unterm Kliff stand eine Mauer von Weibern, die ihre Männer erwarteten. Als sie Inge gewahrten, fielen sie alle schnatternd über sie her. Aber Inge wehrte sie heftig ab; mit beiden Armen kämpfte sie sich durchs Gedränge, und dann lief sie mit langen Schritten davon, so daß Lorens ihr kaum zu folgen vermochte. Dabei schluchzte sie unaufhörlich leise vor sich hin. Als sie nach stundenlanger Wanderung endlich ihr Haus erreicht hatten, war es längst dunkle Nacht, nur eine feine, ganz schmale Mondsichel stand hoch am Himmel, und ein paar blanke Sterne schauten zwischen Nebelstreifen durch.

Das Haus war ebenfalls dunkel, aber während draußen die Nacht noch warm und voller Leben war – ziehende Herbstvögel riefen und lockten von allen Seiten – war es drinnen leer und kalt. Auf dem Herde hatte seit Wochen kein Feuer gebrannt, in den Stuben war kein Mensch aus und ein gegangen.

»Mein Pummelke – mein Pummelke –« rief Inge schluchzend.

Lorens ging nach dem Stall. Da war es warm und heimelig, und das Vieh rührte sich im Schlaf. In der Milchkammer standen die Bütten voll Milch mit dickem Rahm obendrauf – Tet Muchels hatte anderntags wohl buttern wollen. Lorens schöpfte einen Becher voll und brachte ihn Inge:

»Trink, und dann komm schlafen.«

Aber Inge schlug ihm den Becher aus der Hand.

»Peter – mein Pummelke,« wiederholte sie wimmernd. Dann lief sie aus dem Hause in die dunkle Nacht hinaus.

Lorens sah bedenklich hinter ihr drein. Es war nicht hübsch von Inge, daß sie Tet Muchels aus dem Schlaf stören wollte, nur um ihren Jungen zurückzuholen; Muchel Carstensen würde Inge wohl merken lassen, was er davon dachte. Aber Lorens sah ein, daß er sie nicht halten konnte, so machte er sich daran, Feuer auf dem Herd anzuzünden, und als Inge nach geraumer Zeit mit dem Jungen im Arm wiederkam, brannte die helle Flamme schon lustig, und sie konnte ihn in ihrem Schein nach Herzenslust beschauen. Dem Jungen gefiel das weniger; er schrie, daß er blau wurde. Doch das kümmerte Inge kaum; sie herzte und küßte ihn und badete sein Gesicht mit ihren Tränen, bis Lorens sie endlich auslachte:

»Inge, du bist rein närrisch –!«


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