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Elftes Kapitel.

Wieder vereint.

 

An der Thür trafen wir Mrs. Fletcher, die gerade von Lady Cranberry zurückgekehrt und begierig war, mir Vielerlei zu erzählen das ich jetzt nicht anhören konnte. Da ich die Schnelligkeit unseres Pferdes erprobt hatte, bat ich den Droschkenkutscher eine Viertelstunde zu warten und uns dann nach Paddington zu fahren, wofür er jeden Preis verlangen dürfe, vorausgesetzt, daß er in gestrecktem Galopp fahre. Dies war nun ganz nach seinem Sinn, und da er Mr. Shelfer kannte, wie ganz London ihn kennt, (ich wenigstens muß das glauben) so hätte er mich am liebsten zehn von den fünfzehn Minuten festgehalten, um mir von Charley's Schlauheit zu erzählen, wie er es so geheim wie möglich gehalten und nun dreihundert und fünfundzwanzig Pfund gewonnen habe, »ungerechnet das kleine Geld, Miß –«

»So rechnen Sie es, Herr Droschkenkutscher,« und ich rannte, so schnell ich konnte, die Treppe hinan, nachdem ich Mrs. Shelfer die Summe mitgetheilt, damit sie sich nicht betrügen lasse.

Fünf Minuten später war ich reisefertig und trat, in der einen Hand meinen Hut, in der anderen eine kleine Reisetasche, aus meinem Schlafgemach in das Wohnzimmer, wo ich nicht Mrs. Fletcher – sondern Conrad antraf!

Er sah so bleich und elend, so verändert aus, daß ich erschrak und anstatt ihm entgegenzueilen auf einen Stuhl sank. Dies deutete er falsch, und er näherte sich mir sehr langsam, doch mit seinem alten, lieben Lächeln. Wie schlug mein Herz, wie gerne hätte ich mich in seine Arme geworfen, sie sahen aber zu schwach aus, um mich zu halten.

»Oh, Miß Vaughan, ich weiß Alles. Können Sie mir jemals verzeihen?«

»Nimmermehr, mein Herz, wenn Du mich so anredest. Ich Dir verzeihen? Werde ich mir jemals alles Böse, was ich von Dir gedacht, vergeben können? Wie krank Du aussiehst. Komm her und lasse Dich von mir gesund küssen.«

Dies mußte er indessen statt meiner thun, denn ich war jetzt so erschöpft, daß ich ohnmächtig in seine Arme sank. Durch diese Thorheit gingen fünf Minuten verloren, und ich hatte ihm noch so viel zu sagen und zwanzigmal mehr zu bedenken, als mein Kopf zu fassen vermochte. Er aber schien an Nichts weiter zu denken, als daß er mich wieder hatte.

»Oh, Conny,« sprach ich endlich unter Thränen, »mein einzig Geliebter, komm mit mir, Dein Vater ist in großer Gefahr.«

»Glück meines Herzens, ich folge Dir mit dem nächsten Zuge, diesen kann ich noch nicht benutzen.«

Ich wollte nicht auf eine Erklärung warten und er schien nicht geneigt, mir eine zu geben. Vielleicht brachte er, um dieselbe zu umgehen, die kostbaren Minuten bei einer Beschäftigung zu, die sich nicht gut mit dem Sprechen vereinigen läßt, und ich wars zufrieden, da ich sah, wie seine erst so bleichen Lippen wieder roth und frisch wurden. Plötzlich wurden wir durch eine starke Stimme, die vom Hausflur herauftönte, unterbrochen.

»Ja, was soll denn aber mit den Kindern werden?«

Mit hochgerötheten Wangen und wie gewöhnlich losem Haar rannte ich hinaus und rief hinunter:

»Lassen Sie sie hier, Mr. Huxtable. Sie sollen meine Zimmer haben und in ganz London würden sie keine bessere Wirthin finden können, als Mrs. Shelfer.«

Es war keine Zeit zum Ueberlegen. Die Eile hat einen weiten Rachen und verschluckt fast jedes Bedenken. In schnellstem Tempo ging's nach dem Bahnhof. Der Pächter war auf den Bock gestiegen – wie der Kutscher noch Platz fand, weiß ich nicht – ich saß im Wagen mit Mrs. Fletcher, deren Uhr wir alle fortwährend befragten. Im Regents Park scheuchten wir die zahmen wilden Enten auseinander, dann flogen wir an der Kirche von Marylebone vorüber, den Edgware-Weg entlang und trafen noch gerade zwei Minuten vor dem Abgang des Zuges ein. Obgleich ich ein Billet für den Pächter nahm, wollte er nicht mit in unser Coupé kommen, sondern zweiter Klasse fahren.

»Die blauseidenen Federbetten sind zu gut für meines Gleichen, Miß Clara, und ich würde mich den ganzen Weg ängstigen, daß die Madame über den Platz schelten würde, den meine Beine gebrauchen. Ich bezahlte auf der Herfahrt den Wohnstubenpreis und reiste im Küchenwagen, was mir recht däuchte, weil ich so viel Raum einnehme.«

Ich wußte, daß Niemand ihn von dem abzubringen vermochte, was er für recht hielt und erlaubte ihm, deßhalb zu reisen, wie und wo er wollte. Ein Dutzend Mal fürchtete ich, daß er nicht mitkommen würde. Denn auf jeder Station hielt er es für seine Schuldigkeit, an unser Coupé zu kommen, das er mit Kreide angezeichnet hatte, um sich »mit Verlaub nach unserem Befinden zu erkundigen und ob auch kein Feuer ausgebrochen sei?« Er konnte wahrlich nicht begreifen, warum die Leute den lieben Herrgott nur mit solcher Schnelligkeit versuchten. Und jedes Mal versicherte ich ihm, daß es mir noch lange nicht schnell genug ginge, worauf er seinen Hut mit einem Seufzer wieder aufsetzte und sagte, er glaube, daß ich zu so etwas geboren sei. Dennoch schien er auf der ganzen Reise zu denken, daß er mich beschützen müsse, und einmal nannte er mich »sein Kindchen« zur großen Ueberraschung der übrigen Passagiere und zum Entsetzen von Mrs. Fletcher. Dies bemerkend, verbesserte er sich und nannte mich dreimal in einem Satz mit heißem Erröthen »Miß Vaughan.«

In Swindon, wo wir umsteigen mußten, zog er mit geheimnißvoller Miene einen kleinen mit Bindfaden geschnürten Beutel aus der Brusttasche, der, wie ich glaube, den ganzen sauer erworbenen Kampfpreis der arglosen Seele enthielt. Darauf führte er uns mit Stolz, daß er schon einmal dort gewesen, an das Buffet und bat um die Ehre, uns ein Gläschen geben lassen zu dürfen. Als ich dankend ablehnte, machte er eine so betrübte Miene, daß ich mich schnell eines Anderen besann und auf seine Kosten ein Glas geeisten Sherry mit Wasser trank, während Mrs. Fletcher nach langem Zureden und vieler Ziererei nur um ihres schwachen Magens willen, sich entschloß, einen »ganzen kleinen Fingerhut voll Cognac« zu nehmen. Der Pächter jedoch, ganz eingeschüchtert von der ihn umgebenden Pracht, die, wie er mir zuflüsterte, den Peter Will und sogar das »Haus Fortescue« vollständig ausstach, wollte gar Nichts nehmen, doch als ich darauf bestand, gab er endlich meinen Bitten nach und forderte, »wenn es der Dame keine Mühe mache, ein Maß vom zweitbesten Cider.« Das Mädchen rümpfte die Nase, ich aber befahl ihr, eine Flasche Birnmost als das dem Cider verwandteste Getränk zu holen.

Wie immer, wenn die Zeit sehr knapp ist, verspätete sich der Zug um eine Stunde und die untergehende Sonne vergoldete schon die alte Kathedrale (für meinen Geschmack das herrlichste Bauwerk in England, obgleich der Pächter das flache, plumpe, normannische Gebäude in Exeter vorzieht), als wir auf der Station Gloucester einliefen. Meine Absicht war gewesen, eine telegraphische Depesche von London abzuschicken, nicht wegen des Wagens, daraus machte ich mir Nichts, sondern um mich meinem lieben Onkel anzukündigen. Auf der Station Paddington hatte ich indessen keine Zeit dazu gefunden und von Swindon zu telegraphiren, war mir nicht in den Sinn gekommen. Um dies durch verdoppelten Eifer bei einem viel unwichtigeren Falle wieder nachzuholen, ging ich in Gloucester zum Bureau und sandte folgendes Telegramm nach Tiverton, (damals die nächste Station von Exmoor): »Pächter hat gewonnen und das Geld erhalten. Clara Vaughan an Mrs. Huxtable.« Das Erstaunen des Pächters zu beschreiben fehlt mir die Zeit.

Eine Versäumniß war nicht hierdurch eingetreten, denn ich hatte zwei Pferde bestellt, die inzwischen angespannt wurden. Nachdem wir den Kutscher angespornt hatten, jagten wir nach Vaughan St. Mary. So besorgt und niedergeschlagen mich der Gedanke machte, was wir vielleicht vorfinden würden, war ich doch in Folge der schnell wechselnden Ereignisse, die während der letzten sechsundreißig Stunden auf mich eingestürmt, in solchem Grade erschöpft, daß ich fest einschlief und erst erwachte, als wir am Pförtnerhause hielten. Der alte Whitehead kam mit dem Hute in der Hand heraus und flüsterte Mrs. Fletcher Etwas ins Ohr. Die gute alte Dame hatte mich fortwährend mit der Besorgniß um das Einmachen gequält, da sie bei der großen Hitze gar keine Früchte mehr vorzufinden fürchtete. Ich hatte Nichts von dem Allem angehört. Als der alte Whitehead sprach, sah ich durch meine nur halbgeschlossenen Wimpern, wie sie heftig zusammenschreckte. Sie sagte mir indessen nicht, was es war, und ich wollte mich nicht in ihre Geheimnisse drängen. Auch wurde meine Aufmerksamkeit durch den Pächter abgelenkt, der, als wir in die Allee einfuhren, vom Bock herab rief:

»Wahrhaftig, das sticht ja Alles aus, was ich in meinem Leben von Bäumen gesehen. Die müssen ja mit Fleiß so gewachsen sein, um so in einander zu greifen, und alle von einer Größe. Kutscher, sind Sie schon einmal in Devonshire gewesen?«

Ich glaube, diese Devonshirer können Nichts bewundern, ohne sofort an ihre Heimath zu denken.

An der Hausthür erwartete uns der Haushofmeister, was mich als seiner Würde nicht ganz angemessen, einigermaßen überraschte. Er war ein getreuer alter Diener, der noch unter Thomas Henwood gestanden und beim allgemeinen Wechsel des Dienstpersonals wieder in seine frühere Stellung eingetreten war. Jetzt sah er sehr ernst und traurig aus, und anstatt mich weiter in das Haus zu führen, zog er mich seitwärts in die Halle.

Es dunkelte schon und das Feuer am westlichen Himmel erlosch. Große Spargelbüschel – schade, sie abzuschneiden – wehten unter dem alten Kaminsims.

»Schlechte Nachricht, Miß Clara, (so schienen sie mich sämmtlich noch zu nennen) recht schlechte Nachrichten, Miß. Ich hoffe aber, daß Sie darauf vorbereitet sind.«

»Was meinen Sie?«

»Haben Sie Nichts vom Tode unseres armen Herrn gehört?«

»Todt, mein theurer Onkel todt! Also doch –« Ich konnte den Satz nicht vollenden.

»Nein, Miß, es geschah erst heute und nicht wie Sie glauben. Kein Krampf oder Schlaganfall. Er entschlief so ruhig wie ein Lamm gegen drei Uhr. Er fühlte sich vorher recht schwach, aber er hatte viel zu thun und wollte die Arbeit auf keinen Fall einstellen. Nach dem Frühstück saß er allein in seinem Arbeitszimmer, und endlich schellte er und verlangte nach mir. Als ich eintrat, saß er ganz gerade in seinem Stuhl, und er lächelte so recht friedlich, obgleich sein Gesicht ganz blaß, ich sollte sagen ›weiß‹ war, Miß, und er sich vor Schwäche kaum bewegen konnte. ›John,‹ sagte er, ›ja Sir,‹ sagte ich; ›John,‹ sagte er wieder, ›Du bist ein braver Mensch, und ich kann Dir volles Vertrauen schenken. Nimm diesen Brief für Miß Vaughan und händige ihn ihr selber sofort ein, wenn sie zurückkommt. Ich bin recht besorgt um das Kind,‹ sagte er, aber mehr wie zu sich selbst. ›Welche Miß Vaughan, Sir?‹ sagte ich. ›Deine Herrin, John. Kannst Du nicht sehen, was darauf geschrieben steht? Jetzt führe mich hinauf. Wenn ich jemals hart mit Dir gesprochen habe, John Hoxton, so vergieb es mir. Du wirst sehen, daß ich Dich nicht vergessen habe.‹ Und dann brachte ich ihn nach oben, und ich mußte ihn fast tragen. Darauf sagte er: ›Bringe mich zu Bette, John. Ich möchte in meinem Bette sterben. Laß mich nach dem Fenster schauen. Welch' freundlicher Tag, er erinnert mich an den Süden.‹ So stützte ich ihn denn recht bequem im Bette, und er konnte zwei Lerchen auf dem Rasen sehen, und ich mußte ihm sagen, was es sei. ›John, ich danke Dir,‹ sagte er sodann, ›Du hast Deine Sache sehr brav gemacht. Ich hoffe man wird in der Nachbarschaft nichts Böses von mir reden, wenn ich nicht mehr bin. Ich habe versucht, meine Pflicht gegen meinen Nebenmenschen zu thun, obgleich ich milder gegen sie sein würde, wenn ich meine Zeit noch einmal zu durchleben hätte. Jetzt sende meine Tochter zu mir, John. Gern hätte ich auch meinen Sohn gesehen. Ich sollte aber dankbar sein, und mehr noch, ich bin es. Ihr Alle liebt Miß Lily, wenn mir keine Unwahrheiten berichtet werden, John.‹ ›Sir,‹ sagte ich, wir verehren sie, wenn auch nicht wie unsere Miß Vaughan.‹«

»Oh, John Hoxton,« dachte ich, »hast Du das wirklich zu ihm gesagt, oder ist es nicht vielleicht eine Einschaltung ex post facto

»Er sah mich hierauf recht freundlich an, Miß, und sagte, ›John, lasse Alle wissen, die sie lieb haben, daß sie das leibhaftige Ebenbild ihrer Mutter ist. Nun geh schnell und sende sie mir her; aber John, nimm Dich in Acht, daß Du meinen Liebling nicht ängstigst.‹ Ich fand Miß Lily bei dem Shetland-Pony, den sie mit Klee fütterte, und ich schickte sie hinauf und Jane dazu, denn ich war sehr erschreckt, noch dazu, wo Sie nicht zu Hause waren. Was dann geschah, weiß ich nicht, aber das Gabelfrühstück wurde nicht beordert und das Läuten der Mittagsglocke abbestellt. Und ich hörte die arme Miß Lily den ganzen Corridor hinab fürchterlich schreien, und wie mir gesagt wird, sind seine letzten Worte gewesen, wobei er versucht hat, die Arme nach dem Fenster auszustrecken: ›Gepriesen sei Gott, ich sehe meine geliebte Lily!‹ Sie stand aber nicht auf der Seite des Bettes, also muß er sich geirrt haben.«

»Nein, er meinte ihre Mutter. Wo ist meine Cousine?«

»In Ihrem Zimmer, Miß, wo sie sich niedergelegt hat, wie ich höre. Sie nahm es sich so schrecklich zu Herzen, daß Jane dachte, sie würde sterben. Endlich aber beruhigte Jane sie ein bischen und überredete sie, sich niederzulegen. Jedes Mal, wenn sie zu sich kommt, ruft sie nach Ihnen, Miß.«

Ich ging geradewegs zu der armen, lieben Kleinen, noch ehe ich den mir übergebenen Brief gelesen. Das Zimmer, in dem sie lag, war dunkel, und Jane, die in meinem kleinen Wohnzimmer saß, flüsterte mir zu, daß das arme Kind den Schein der Lampe nicht vertragen könne, weil ihre Augen so schwach und entzündet seien.

Zuerst erkannte Lily mich nicht, und ihr trauriges, schwaches Stöhnen drang mir in das so schwer vom eigenen Kummer bedrückte Herz. Sie lag auf meinem kleinen Bett, das Antlitz der Wand zugekehrt, beide Hände auf das Herz gepreßt, und ihr dichtes Haar hing aufgelöst über Schulter und Nacken. Annie Franks war mehrmals gekommen, um sich nach ihr zu erkundigen, aber Lily hatte sie nicht einlassen wollen. Ich beugte mich über sie und meine Wange auf die ihre legend flüsterte ich ihren Namen. Endlich erkannte sie mich, nahm meine Hand und reichte mir die süßen Lippen zum Kusse. Dann schluchzte und weinte sie bitterlich, doch ich bemerkte, daß es wohlthätig auf sie wirkte. Dabei glitten ihre Finger sachte durch mein Haar und sie begann:

»Oh, Clara, ist es nicht zu hart, ihn endlich zu finden, ihn so zu lieben und nur für drei Tage und dann, dann –«

»Und ihn dann dorthin scheiden zu sehen, wo sein Herz fast seit zwanzig Jahren geweilt. Willst Du so selbstsüchtig sein, ihn Deiner Mutter zu mißgönnen? Und er ist glücklich gestorben, das weiß ich bestimmt. Komm mit mir und siehe es selbst.«

»Oh, nein, nein, ich kann es nicht.« Und ihre liebliche Gestalt zitterte bei dem Gedanken, den Tod zu sehen.

»Ja, Du kannst es, wenn Du es willst, und ich glaube fest, daß er es wünschen würde. Wir Beide wollen an seinem Lager Hand in Hand knieen und ihn segnen, wie Andere einst bei uns knieen werden. Was, Lily fürchtet sich vor ihrem Vater? Ich fürchte mich nicht vor meinem Onkel.«

Nicht aus Härte nahm ich diesen strengen Ton an, nur in der Hoffnung, sie zu trösten.

»Wenn Du wirklich glaubst, daß es ihm Wunsch sein würde, Liebste –«

»Ja, es ist eine Pflicht, die ich ihm schulde. Er würde enttäuscht sein, wenn ich sie nicht erfüllte.«

»Oh, wie sehnte er sich, Dich noch einmal zu sehen, liebe Clara. Er sagte aber, er wisse ganz gewiß, daß Du kommen würdest, um ihn zu sehen, wenn er Dich auch nicht sehen könne. Er sprach bis ganz zuletzt von Dir; von Dir und dem geliebten Conny.«

»Conny wird heute Abend hier sein.«

»Wirklich? Oh, wie freue ich mich!« Und ein heller Freudenstrahl blitzte in den vom Weinen gerötheteten Augen.

Da fuhr etwas Kaltes sachte zwischen uns, und wir hörten ein Schnüffeln wie einen Seufzer. Es war die Schnauze Guidice's. Er hatte in den unteren Regionen, wo er stets während meiner Abwesenheit weilte, erfahren, daß Miß Clara heimgekehrt war; und da er meinen Namen so gut wie seinen eigenen kannte, hatte er sich aufgemacht, um mich zu suchen. Nachdem er mir wie immer seinen herzlichen und ergebenen Gruß mit der Zunge abgestattet, blickte er von Einer zur Anderen mit erstaunt emporgezogenen Brauen und dem Ausdruck tiefster Theilnahme in den schönen sanftbraunen Augen. Wir wurden dadurch nur um so heftiger zu Thränen gerührt.

»Oh, Clara,« schluchzte Lily endlich, »er hat in der letzten Nacht so geheult. Glaubst Du, daß er es gewußt haben kann?«

Er senkte die Augen, als sie mir dies sagte. Das that er stets, wenn er glaubte, daß er ein unartiger Hund gewesen.

»Geh jetzt hinunter, Guidice. Guter kleiner Guidice, geh zur Mrs. Fletcher. Ein sehr guter Freund von mir ist bei ihr.«

Gehorsam trollte er sich und sein Schweif wedelte schon wieder lustig, ehe er noch um die Ecke verschwand.

»Nun, Herzchen laß uns hingehen,« sagte das arme Kind abermals zitternd. »Mit Dir würde ich überall hingehen.«

Hand in Hand gingen wir in das Zimmer meines Onkels. So jung ich noch war, hatte ich doch schon zwei Mal das feierliche Antlitz des Todes geschaut; aber noch nie, selbst nicht auf dem verklärten Angesicht meiner Mutter, solch vollkommenen Frieden und solch glückseliges Lächeln gesehen, wie auf den Zügen meines Onkels ruhten. Sein Leben, das in der Jugend vom Stolze hin und her geworfen, im Mannesalter auf der stillen Meerestiefe friedlicher Liebe dahingeglitten, dann wieder von den düsteren Stürmen trostloser Einsamkeit ergriffen und zuletzt von Gottes Hand mit Krankheit geschlagen – dies Leben, dessen zwei Fehler »Menschenhaß« und »Vergeudung hoher Fähigkeiten« gebüßt, ja veredelt worden durch eine reine, vollkommene Liebe, hatte jetzt von Allem, was unter den Wolken war, in Frieden, Glück und was das Beste, im Glauben Abschied genommen.

Wir knieeten an dem Bett und beteten (Lily als Katholikin, ich als Protestantin), daß uns und Allen, die uns lieb und werth, dereinst ein solches gesegnetes Ende beschieden sein möge. Dann ließen wir uns Beide mit einem ehrfürchtig glücklichen Gefühl im Herzen hinter den schweren Sammtgardinen am Fenster nieder. Zwei Wachskerzen brannten auf dem Tisch an der Thür, und in dem Licht derselben erschien das von uns geliebte Antlitz nicht bleich, sondern wie von einem silbernen Glorienschein umstrahlt.



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