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Gefangen. Der Untertitel lautet im Original: » I can't get out.«
Ich habe eine schwache Erinnerung, daß ich eine Anzahl Treppen hinabgeschleppt und geschwungen wurde und ein kalter Luftstrom über mein Antlitz fuhr. Unzweifelhaft trugen sie mich abwärts, denn das Zimmer, in dem ich meinen Feind vorgefunden hatte, befand sich mehrere Stockwerke oberhalb des Kellergeschosses. Als ich wieder zu mir kam, hatte ich keine Ahnung, wo ich mich befand. Die Luft war von einem erstickenden widerwärtigen Geruch erfüllt, einem Dunst wie von Tod und Verwesung. Er berührte mich so widerlich, daß ich, wie ich glaube, abermals ohnmächtig wurde. Als ich den Kopf endlich erhob, begann ich mit matten Blicken umher zu schauen. Ich lag auf einer Tafel, die einer Hobelbank glich, fast in der Mitte eines langen schmalen Raumes; dieser düstere selbst jetzt in den Hundstagen kalte Raum war mit moosiggrünen Steinen gepflastert, die vermuthlich unmittelbar auf dem harten blauen Londoner Thon lagen, jener widerspenstigsten, feuchten, unfruchtbaren Schicht. Ich konnte nur zwei Fenster in dem langen, dunkeln Zimmer sehen, die beide an derselben Seite horizontal und in beträchtlicher Höhe angebracht waren. Starke Eisenstangen befanden sich innerhalb derselben, wie in einer Gefängnißzelle. Eins dieser Fenster war schon mit einem Strohbündel und Säcken darüber verdunkelt, wie es in Corsika während der Vendetta-Belagerung geschieht. Der technische Ausdruck ist: » Juceppar le fenestre.« Durch das andere Fenster, welches den Ausblick nach dem kümmerlichen Garten hinter dem Hause gewährte, sah ich einen Arm von der Farbe und Form eines amerikanischen Herings, eifrig mit einem Hammer beschäftigt.
Ich erkannte den Arm sofort. Die Gelenke traten hervor wie die Knorren eines Birnbaumes, und die Muskeln waren von der lederartigen Haut flach überspannt gleich dem Bein eines Truthahnes. Dieser Arm konnte Niemand anders gehören, als meiner korsischen Freundin Cora. Bedachtsam klopfte sie die Nägel ein, wie ein Gärtner ein Bäumchen am Spalier befestigt, wobei sie ihren spitzen Knöcheln übertriebene Aufmerksamkeit widmete. Dann schob sie das Sackleinen zurück, bückte sich und blickte herein, um mich zu erspähen. Das schräg durch das Fenster fallende Licht zeigte mir den schrecklichen Ort, an dem ich mich befand. Das rissige Holz, auf dem ich lag, war mit dunklen pflaumenfarbenen Flecken bedeckt, die von dem langsam niederträufelnden Blute manches unglücklichen Hundes oder Katers, wenn nicht gar von edlerem herrührten. Als ich den rauhen Seitenrand mit der Hand berührte, erfaßte ich einen kalten Eisenstab. Es war ein Bankhaken, wie man deren an jeder Hobelbank sehen kann, nur viel größer und mit einem Greifer versehen. Wie viele arme lebendige Opfer mochten unter dieser Klammer vergeblich gezuckt und gewimmert haben! Zu Häupten hatte ich zwei viereckige Schieber, an denen starke Gurten hingen.
Als ich diese und noch viele andere teuflische Vorkehrungen betrachtete, die ich hier nicht beschreiben mag, wurde ich, die fast alle von Gott erschaffenen Wesen und besonders diejenigen liebt, die uns wie Göttern unterthan sind, von einem kalten Schauder erfaßt und das Blut stockte mir in den Adern, als dringe das Secirmesser schon in mein Zwerchfell. Ja, von denen, die als starke Männer die unschuldigen Geschöpfe Gottes, hülflose Wesen, die weder weinen noch klagen können, zu Tode martern, von ihnen können wir mit Sicherheit behaupten, daß Er, der Schöpfer, sie richten wird.
Und hier liege ich an diesem furchtbaren Orte, wo vielleicht auch ich der Vivisection zum Opfer fallen soll. Nein, ich bin nicht gebunden, selbst meine Füße kann ich frei bewegen. So schnell wie möglich gleite ich von dem ekelhaften Tisch hinab, auf dem selbst der starke Guidice so regungslos wie ein Skelett gelegen haben mußte. Skelette waren in großer Zahl neben anderen schauderhaften Dingen, an die ich nicht zurückdenken mag, längs den Wänden aufgestellt. Da war ein riesiges Krokodil, dessen Schuppen alle zurückgesträubt waren, wie bei einem vertrockneten Tannenzapfen, und aus dessen klaffenden Lederlippen die Zähne schief hervorhingen wie eine wackelig gewordene Harke. Dann war eine ausgegrabene Bestie vorhanden, die ihre eigenen Knochen nicht wieder zusammengefunden hätte, ein Plesiosaurus, Dinosaurus, Beutelthier, Mammuth, oder wie es sonst heißen mag – ich weiß seinen Namen nicht genau, da ich nie im College gewesen bin. Ich weiß nur, daß ich mich schaudernd von jedem Gegenstande abwendete, den ich sah, und den Wunsch hatte, er möge besser riechen. In einer Flüssigkeit, die wie abgeklärter Syrup aussah, war allerlei Gethier aufbewahrt, das wie Blutegel in Pickleflaschen auf- und niederschwebte. Auch Schlangen, der Hundertfuß und anderes giftiges Gewürm, waren vertreten – kurz, es gab genug in dem gruftartigen Gemach, welches ohnehin so kalt wie die Höhle eines Eisberges war, bei dessen Anblick Einem das Mark durchschauerte. Aber das Schrecklichste, wovon auch der in dem Raume herrschende Verwesungsgeruch größtentheils ausging, war ein todtes, halb secirtes Meerschwein, das auf einem Dutzend starker Querstangen lag. Es mußte selbst einem Hunde das Blut erstarren machen.
Ueberwältigt von allem, was ich wahrnahm, und von der Furcht, damit in Berührung zu kommen, drückte ich mich in eine Ecke und versuchte vergebens, die Augen von dem einzigen noch vorhandenen Lebenszeichen abzuwenden, dem keulenartigen Arm der alten Cora. Das alte Weib war sichtlich erfreut über mein Interesse an ihrer Arbeit, und als sie dieselbe beendet hatte, machte sie mir einen spöttischen Salam und küßte das Elfenherz.
Als das Leinen über den Fensterrahmen fiel, schwand mir alle Geistesgegenwart, alle stolze Entrüstung, und ich empfand Nichts als eine feige Angst, das Zurückschaudern des Lebens vor dem Tode. Mit der ganzen Kraft meiner Brust und Kehle stieß ich einen langgezogenen, kreischenden Schrei aus gleich dem Pfeifen einer Lokomotive. Noch hallte er von den Gerippen an den Wänden wieder, daß ihre schlotternden Knochen rasselten, als ein kleines viereckiges Gitter in der schweren Thür zurückgeschoben wurde, und das Antlitz Lepardo's Della Croce in der Oeffnung erschien. Er nahm den Hut mit freundlicher Miene ab und redete mich lächelnd an:
»Aber das war schade, wirklich recht schade, Miß Vaughan. Das muß ich wahrlich einen Fall vom Erhabenen zum Lächerlichen nennen. Sie können mir glauben, daß Sie, seitdem Sie dieses entsetzliche Geschrei vollführt haben, in meinen Augen von einer Porcia oder Arria zu einer gewöhnlichen Jungfer Marian herabgesunken sind. Oh, pfui, es ist eine zu arge Enttäuschung. Sie erschüttert einem den Glauben an den Adel der menschlichen Natur. Da ich mich nun nicht mehr auf Ihren Muth und Ihre Tapferkeit berufen kann, so muß ich mich wohl an Ihre Vernunft wenden, das heißt, wenn Ihre Nerven, was ich hoffen will, dieselbe nicht beeinträchtigt haben. Nehmen Sie also ein für alle Mal die Versicherung entgegen, daß Sie einen groben Irrthum begehen, wenn Sie Ihre schöne Stimme in so hoher Tonlage anstrengen. Mein kleiner Sektions-Salon ist, trotzdem er meinen Wünschen, besonders im Punkte der Ventilation, nicht ganz genügt, wenigstens so vollkommen gegen unverständige, plebejische Theilnahme geschützt, daß sämmtliche Katzen von London ihr fabelhaftes neunfältiges Leben aushauchen könnten, ohne daß ihr Geschrei den vortrefflichen alten Damen, die in den beiden angrenzenden Häusern wohnen, den Appetit zum Thee rauben würde.
Jene herrliche gefleckte Katze dort auf dem dritten Gesims rechts war ein Hausgott in Nro. 39, bis er die Ehre hatte, meine Aufmerksamkeit zu erregen. Verrathen Sie es mit keiner Silbe, wenn Sie jemals wieder hinausgelangen. Ich habe mich zweimal täglich höchst theilnehmend erkundigen lassen, ob Miß Jenkinson ihren Liebling noch nicht wieder bekommen. Inzwischen gelang es mir, seine Fettablagerung durch das Experiment allmählicher Entkräftung zu absorbiren, und ich habe noch nie ein sanfteres Geschöpf zu behandeln gehabt. Fürchten Sie sich indessen nicht, Miß Vaughan; ich habe weder die Absicht, Sie verhungern zu lassen, noch Sie, wenn Sie sich höflich benehmen, zu seciren. Ich erwähne diese kleinen Thatsachen nur, um Sie von unserer angenehmen Zurückgezogenheit zu überzeugen. Die Decke Ihres Zimmers liegt sechs Fuß tiefer als die Straße. Die Mauern sind drei Fuß stark mit Filz bekleidet, und die Steine sind sämmtlich als Strecker Im Original » headers«, d.h. Kopfsteine bzw. Bindersteine, also Natursteine und keine Ziegel. gemauert, was das Anwenden von Gewalt bedeutend erschwert. Die Fenster sind, wie Sie vielleicht schon bemerkt haben, vor gemeinen Augen geschützt, und gestatten größtentheils den Blick über unser eigenes kleines Paradies. Wenn Sie übrigens Ihre herrlich entwickelte Brust in solchem Maße anstrengen sollten, wogegen ich um Ihretwillen flehentlich Einspruch thue, daß Sie wirklich eine Schwingung – erinnern Sie sich meiner Vorlesungen über die Schallwellen? – oder eine Vibration im Trommelfell eines Nachbars hervorbrächten, so fürchte ich, Sie würden – ich bin entsetzt, es sagen zu müssen – für eine Katze von selten kräftigen Stimmmitteln gehalten werden, die sich bei meinen schwachen, wissenschaftlichen Versuchen ungebührlich aufrege. Lassen Sie mich deßhalb meinen freundschaftlichen Rath in der Sprache Ihrer sämmtlichen Theater schließen – ach! Ihr Vaterland hat jetzt kein Drama mehr, keine Erfindungsgabe, also ich bitte Sie mit den Worten, welche bedauerlichst in jeder britischen Tragödie sechs bis zwölf Mal vorkommen, Miß Vaughan, ›seien Sie ruhig.‹«
Während dieser ganzen brutalen Hohnrede wendete ich ihm standhaft den Rücken. Vielleicht glaubte er, ich würde mich zum Bitten herablassen. Ich hätte mir für jenen erbärmlichen Schrei die Zunge abreißen mögen. Es war solcher Triumph für ihn.
»Ach, Sie schmollen! Ich fürchte, die junge Dame schmollt mit dem armen Professor, der versucht, ihren Geist zu bilden. Oh, pfui, das ist in der That sehr kleinlich und undankbar und keine halb so großartige Studie wie die Attitüde der Verachtung! Wie schade, daß der arme Conrad nicht vor einer Stunde hier war! Wie hätte er sein Skizzenbuch bereichern können! Einige Possen waren wirklich prachtvoll. Ich fürchte indessen, daß der arme Junge den Meißel zum letzten Mal angesetzt hat. Recht traurig, nicht wahr? Wie Sie zusammenfahren, Miß Vaughan! Oh, endlich können Sie Ihr Antlitz zeigen, und wie bleich es ist! Wenn Augen tödten könnten, so –«
»Was ist es – ich meine, haben Sie die Güte, sich zu entfernen.«
»Gewiß will ich das thun. Ich habe eine kleine Angelegenheit zu besorgen, die keinen Aufschub duldet. Diesmal denke ich meine Visitenkarte bei dem richtigen Manne abzugeben. Ich kann Ihnen gar nicht dankbar genug für Ihre werthvolle Belehrung sein. Ist jener kleine bequeme Eingang noch praktikable? Die Bewohner vom Vaughan-Park pflegten sehr gastfreie Leute zu sein. Leben Sie wohl, meine junge Dame. Ich will Sie nicht länger als nöthig warten lassen. Nach meiner Rückkehr werde ich für Ihre Befreiung Sorge tragen, wenn es ohne Gefährdung meiner Sicherheit geschehen kann. Sie werden reichliche Nahrungsmittel und viel Zeit zum Nachdenken haben. Mögen Ihre Gedanken an mich vorurtheilsfrei und freundlich sein! Ich thue Niemand Etwas zu Leide, wenn ich es vermeiden kann. Ich bedaure nur, daß die Luft, welche Sie einathmen, zeitweilig die Rosen auf Ihren Wangen beeinträchtigen wird. Welche Gelegenheit jedoch die Gase zu analisiren! Kohlensäure ist vorherrschend! Ich würde mich sehr geschmeichelt fühlen, wenn Sie eine Vorlesung von mir über Malaria und Miasma Bis zur Mitte des 19. Jh. herrschte die von Hippokrates herrührende, jedoch irrige Lehre von den Miasmen, den giftigen Ausdünstungen des Bodens, die mit der Luft fortgetragen werden und so zur Weiterverbreitung von Krankheiten beitragen sollten. Dass in Wahrheit lebende Mikroorganismen die Ursache darstellten, war um 1850 durch englische und italienische Forschungen bereits wissenschaftliche Erkenntnis; dennoch war der Glaube an die Miasmentheorie noch weit verbreitet., bei der Sie sehr aufmerksam waren, im Gedächtniß behalten hätten.«
So bis zum letzten Moment höhnend und sogar sich selber verspottend, wozu Menschen von schwärzester Gemüthsart häufig geneigt sind, schloß er das Gitter sorgfältig, und ich hörte den Klang des Metallkreuzes auf den rauhen Steinstufen. Er trug die Stiefel der Rache, und das Ziel seiner Wanderung war heimlicher Mord. Mich, die ihm nie ein Leid zugefügt hatte, überließ er dem Tode, sicherlich dem Wahnsinn, und dies Alles war nach seinen Ideen recht gethan.
Rasend von den Schrecknissen, die mich umgaben und noch mehr von denen, die durch meine unüberlegte Thorheit zu erwarten standen, rüttelte und kratzte ich an der festen Thür, bis meine Nägel zerrissen waren, meine Finger bluteten und mein ganzer Körper vor ohnmächtiger, wahnwitziger Wuth bebte. Endlich ermüdet und zugleich beschämt über diesen wilden Ausbruch, setzte ich mich auf den Boden, denn ich mochte den Schemel des Operateurs nicht berühren, und versuchte meine Gedanken zu sammeln. War noch eine Möglichkeit vorhanden, meinen armen Onkel zu retten? Es mußte nach meiner Berechnung Freitag Nachmittag gegen vier Uhr sein. Infolge meiner ungestümen Heftigkeit war das Glas meiner schönen, mir von meinem Onkel geschenkten Taschenuhr zerbrochen und sie stand seitdem still. Die Weiser zeigten, wie ich kaum erkennen konnte, auf ein Viertel auf Vier. Der Schnellzug, den Mrs. Fletcher und ich zu benutzen gedacht, würde um fünf Uhr von Paddington abgehen und Gloucester bald nach Acht erreichen. Lepardo Della Croce konnte ihn mit Leichtigkeit abpassen und noch in derselben Nacht seine schändliche Absicht ausführen. Meine einzige Hoffnung, ihm zuvorzukommen, beruhte auf seinem eigenen Festhalten an den vorgeschriebenen Gebräuchen. Aus den Berichten meines Onkels wußte ich, daß manche Familien bei ihrem fluchwürdigen Vendetta-Vorhaben es als Ehrensache betrachten, eine Strecke zu Fuß zurückzulegen. Diese Vorschrift verdankt ihren Ursprung vielleicht einer Spur von Barmherzigkeit, einem Wunsche, den bösen Leidenschaften eine letzte Möglichkeit des Nachgebens unter dem Einfluß der Ermüdung und der Luft zu gestatten. Sei dem, wie ihm wolle, ich glaubte, mich zu erinnern, daß dieser Gebrauch in der Familie Della Croce erblich sei; und in diesem Falle würde der Feind seine Reise zu Fuß beenden und den Zug noch diesseits von Gloucester verlassen. Deßhalb konnte ich, wenn es mir im Laufe der Nacht gelang, zu entfliehen, noch zu rechter Zeit in Vaughan-Park anlangen. Den Rest des Tageslichtes, das freilich nicht bedeutend war, benutzte ich, um jeden Theil des widerwärtigen Raumes, der meinen Kerker bildete, Zoll für Zoll zu untersuchen. Um diese Zeit waren meine ganze mir mehr angewöhnte als angeborene Geduld, meine Entschlossenheit und Hoffnung wiedergekehrt. Sicherlich war ich schon manches Mal in ebenso schlimmer Lage gewesen und hatte ähnliche Schwierigkeiten überwunden. Wenn eifriger Muth und zähe Beharrlichkeit noch von irgend welchem Nutzen waren, so sollten diese vier Wände mich nicht halten, und mochten sie wirklich drei Fuß dick sein. So ging ich denn, nachdem ich meine Nase mit Watte verstopft, (denn der Geruch war unerträglich) und mein Kleid aufgesteckt hatte, ernstlich an die Arbeit. Zuerst besichtigte ich die Fenster; dort aber hatte ich keine Hoffnung. Ich konnte keine der Eisenstangen losbrechen und selbst, wenn ich es gekonnt hätte, so würde ich nur ein Gefängniß mit dem andern vertauscht haben, denn der Garten hinter dem Hause war mit einer hohen Mauer umgeben, die nirgends eine Oeffnung zeigte. Ein Kamin war nicht vorhanden, die Thür hatte meinen Anstrengungen schon getrotzt. Vielleicht konnte ich die Mauer durchbrechen und in das Nachbarhaus dringen. Wahrscheinlich war die Prahlerei wegen der Stärke des Mauerwerks eine Lüge, die mich von dem Versuch des leichtesten Ausweges zurückschrecken sollte. In einem so feuchten Raum würde auch der Mörtel wohl weich sein.
Nachdem ich lange Zeit herumgesucht und gefühlt hatte, um möglicherweise einen losen Stein zum Anfang zu finden, zog ich ein Messer aus der Tasche, auf das ich sehr viel Werth legte, weil mein Vater es mir geschenkt hatte. Wehmüthig blickte ich in dem Dämmerlicht darauf, weil ich fürchtete, es zu zerbrechen. Nichts außer dem Gedanken, daß es sich um das Leben selber handle, würde mich jemals dazu bewogen haben, jenes geliebte Messer durch so unpassende Arbeit zu entweihen.
Es war ein starkes aber keineswegs elegantes Messer mit einem kürzeren Griff und plumperen Charnieren, als die jetzige Generation von Messern besitzt. Das heutige Sheffield würde wahrscheinlich darüber lachen, aber kein Gleiches hervorbringen können. Mein Vater hatte es selber fast dreißig Jahre lang besessen, und es mit der Achtung behandelt, die ein tüchtiges Messer verdient. Diesen schuldigen Respekt hatte seine Tochter nicht geschmälert und das Messer war noch so gut, wie es aus seines Schöpfers Hand hervorgegangen. Seine Schneide war noch nie in grober Unwissenheit durch Wetzen beschädigt worden, wie es fast allen Messern und am häufigsten durch die Messerschleifer von Profession geschieht. Ich habe es stets nur auf einem weichen Streichriemen geschärft und zu nichts Anderem benutzt, als meine Federn zu schneiden (ich hasse die stählernen Papierkratzer) und mitunter einen Bleistift anzuspitzen.
Nur sollte dieses treue in Ehren gehaltene Messer Mörtel und Ziegelsteine durchbohren. In meiner begründeten Zärtlichkeit zögerte und bebte ich, und im Vorgefühl dessen, was kommen sollte, schloß es sich in meiner Hand. Oh, unbarmherzige Atta Naevia! Getreues Messer, beginne Dein Werk!
Jetzt zeigte die alte Cora ihr demüthiges Gesicht an dem Gitter. Auf alle meine Bitten, Beschwörungen und Versprechungen antwortete sie kein Wort und lächelte nur grimmig wie ein alter Vogel, der sich nicht durch Spreu kirren läßt. Sie reichte mir eine Maß Milch und ein Brot. Dann zeigte sie mir einen von seinem eigenen Fett triefenden Bückling auf einer Röstgabel; sie zog ihn jedoch hastig wieder fort und an seiner Stelle erschien das Cordis. Hiernach winkte mir die erfahrene Alte zu und blickte mich gespannt an. Dies sollte heißen: »Verzichte auf Dein Eigenthumsrecht an dem Herzen der Madonna, denn nur dann bringt es mir Glück und ich will Dir diesen schönen gebratenen Rogener Rogener: weibliche Fische. geben.« Nein, nein, liebliche Cora, ein gebratener Bückling ist nicht zu verachten, wer aber könnte in einer so dunstigen Höhle essen? Ein Mal entschloß ich mich um Guidice's willen, da ich einen schnellen leichten Schritt habe, in die Hofräume eines höchst respektablen Schlächters zu gehen. Wahrlich, was ich dort gesehen und gerochen, waren Muskatellertrauben im Vergleich mit dem, was mich hier umgab.
Als Cora sich entfernt, nachdem sie mir ein Kopfkissen und eine Bettdecke von dem echten Zuchthausgespinnst eingehändigt und sich mit seltsamer Miene bekreuzt hatte, was ich deutete: »Nun, junges Geschöpf, bleibe, wenn möglich, bis zum Frühstück am Leben,« setzte ich mich an einem Ende des Zimmers auf den Fußboden und begann meine Arbeit. Zuerst zog ich ein paar waschlederne Handschuhe an, denn so wenig Eitelkeit ich besitze, ist es mir doch nicht ganz angenehm, Hände wie ein Maurergeselle zu bekommen.
Dann löste ich einen Streifen von dem Filz, mit dem die Wand bedeckt war. Es war fast dunkel, aber ich konnte die Fugen zwischen den Steinen leicht fühlen. Der Mörtel war nicht sehr gut, aber meine Arbeit wurde mir doppelt durch den Umstand erschwert, daß die Steine sämmtlich mit der Schmalseite in der Front der Mauer lagen. Dies hatte der Unmensch wohl gemeint, als er von den »Streckern« gesprochen. Aus diesem Grunde mußte ich stundenlang arbeiten, ehe ich einen einzigen Ziegelstein heraus bekam, und, da ich ganz im Dunkeln thätig war, fürchtete ich jeden Augenblick, meine Messerklinge zu zerbrechen. Die Finger meiner Handschuhe waren bald abgenutzt und ebenso die Innenfläche durch das Heft des Messers zerrieben. Es währte nicht lange, so war meine Haut bald voller Striemen und zerkratzt. Endlich begann zu meiner höchsten Freude ein Mauerstein zu wanken. Eine halbe Stunde später hob ich ihn sorgfältig heraus, küßte mein getreues, jetzt bis zu einem Speiler abgeschliffenes Messer, und mit steifen, schmerzenden Muskeln, die steinerne Trophäe auf meinem Schooß, sank ich in einen so festen Schlaf, wie mir nur je zuvor vergönnt worden.