Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Sechstes Kapitel.

Ein tollkühnes Beginnen.

 

Früh am andern Morgen war ich auf dem Wege nach London in Begleitung der Mrs. Fletcher, die ich sehr ungern mitgenommen, weil sie mich in meinem ganzen Denken und Thun zu hindern schien. Zwischen Hausthür und Allee blickte ich von dem offenen Wagen (ich hasse es, mich im Sommer in einen geschlossenen Wagen zu sperren) nach dem lieben alten Hause zurück. Lily war trotz meines Verbots aufgestanden, um mit mir zu frühstücken, und sie begleitete uns bis zum Pförtnerhause, von wo sie zu Fuße zurückkehren wollte. Zu meiner großen Ueberraschung sah ich meinen armen Onkel in einen Schlafrock gehüllt an seinem offenen Fenster stehen. Er warf mir eine Kußhand zu und winkte mir seinen letzten Abschiedsgruß herüber. Ich sprang auf den Sitz des Wagens, um denselben zu erwiedern und drohte ihm mit einem Handschuh. Halb im Scherz, halb traurig kopirte er meine lebhaften Geberden, und der Morgenwind spielte mit seinem Silberhaar, als er mir den letzten Kuß zuwarf. Ich trug Lily auf, ihn mit meinen besten Grüßen tüchtig zu schelten, worauf sie mich in der würdevollsten Weise fragte, ob ich sie für eine Grüne ansähe Im Original: » if I saw any green in her eye«. Dies bezeichnet die Leichtgläubigkeit bei einer Person. . Das Mädchen hatte sich von ihren jungen Kommilitoninnen viele Studentenausdrücke angenommen. Mrs. Fletcher sah ganz entsetzt aus, und ich sagte, um sie zu beruhigen:

»Ja, ja, Mrs. Fletcher, wir müssen jungen Damen, die vom College kommen, Manches zu gute halten.«

»Gewiß, Miß Vaughan, das müssen wir,« sagte sie mit ihrer klügsten Miene. In Gloucester, flüsterte sie dem Kutscher zu: »John, der Schuft, welcher Miß Lily gestohlen hat, steckte sie in Männerkleider und sandte sie nach Oxford, wo sie ihr Examen gemacht hat. Aber sagen Sie es nicht weiter.«

»Keiner menschlichen Seele, Madame,« erwiderte John grinsend. Trotzdem erfuhr es das ganze Haus, und das Ergebniß war, daß alle Mädchen zu Lily kamen, um sie wegen ihrer Liebhaber in's Vertrauen zu ziehen.

Ich erwähne diesen unbedeutenden Vorfall nur, um zu zeigen, wie wenig ich ahnte, daß ich meinen Onkel zum letzten Mal gesehen.

Auf der Station Paddington begegneten wir Annie Franks, die ihr Billet nach Gloucester nahm. Sie sah sehr blühend und heiter aus, und ihr Mantel war mit einer großen Tasche versehen, die für einen dreibändigen Roman bestimmt war. Ich hatte nur so viel Zeit, ein paar Worte mit ihr zu sprechen und empfahl meinen Onkel ihrer besonderen Sorgfalt, da sie zehnmal so viel Erfahrung besaß, als meine Cousine. Dann ging ich mit ihr den Perron hinab, sah sie in ein Coupé steigen, und gab ihr mein letztes Butterbrod, als ein grausamer Schaffner darauf drang, daß sie ihre neue Tasche umkehre, weil sie, wie er behauptete, einen kleinen Hund darin verborgen haben müsse. Ich lachte über die arme, liebe Kleine, wie sie feuerroth vor Beschämung in Gegenwart der im Coupe sitzenden Herren den umfangreichen Band zeigen mußte und der Schaffner mehr erstaunt als grob laut vorlas:

»Sir Ingomar von der blutigen Hand, oder der Ritter von St. Valentine und die heidnische Dame.«

Die Herren waren gebildet genug, sich die äußerste Mühe zu geben, ihr Lächeln zu unterdrücken. Ich zog Annie, in deren sanften grauen Augen Thränen standen, aus dem Coupé und brachte sie in ein anderes, wo Sir Ingomar unbekannt war. Nun kehrte das Lächeln auf ihr schüchternes, unschuldiges Antlitz zurück, sie bog den Kopf gegen das Fenster und flüsterte mir zu:

»Sind noch Erdbeeren übrig geblieben, Herz?«

»Das will ich meinen, die beste von allen, ›Königin von Britannien,‹ ist gerade reif geworden, und welche herrliche Weinernte haben wir in Aussicht!«

Annie's Begriff von vollkommener Glückseligkeit bestand darin, auf einer schattigen Anhöhe zu sitzen, wo die Brise ihre zarten Wangen umfächelte, neben sich ein Kohlblatt voll Erdbeeren und auf dem Schooße einen Roman voller Mord- und Todtschlag. Mit einem lieblichen Lächeln in Erwartung aller dieser Herrlichkeiten entschwand sie meinen Blicken.

Von Paddington fuhren wir geradewegs nach Conrad's Wohnung. Als wir den New-Road entlang rasselten, der unebener als alle anderen Londoner Straßen ist, bestürmte mich ein wirres Heer von Gedanken. Was würde Conny sagen, daß ich, die stolze Clara, voller Ungeduld kam, um mich nach ihm zu erkundigen? Wäre es nicht viel besser und mehr eines englischen Mädchens würdig gewesen, zu warten und sich lieber in Sehnsucht zu verzehren, als sich falscher Beurtheilung auszusetzen? Freilich that ich es seines Vaters wegen, um denselben vor tödtlicher Gefahr zu schützen und sein Glück zu vervollständigen. Aber hätte das Alles nicht ebenso gut durch einen Boten, wie durch mich persönlich geschehen können? So wenigstens hätte ein Jeder vielleicht gedacht, der unseren Feind nicht kannte. Der schlimmste und düsterste aller Gedanken, bei dem mir jedes Mal, wenn mir derselbe aufstieg, Thränen in die Augen traten, war der, ob Conrad mich noch liebe; würde nicht jener furchtbare Aufruhr, der ihm das Herz zerrissen haben mußte, als er sich mit geballter Faust vor den Kopf schlug und selbst das männliche Zartgefühl vergaß, alle feinen Wurzeln der Liebe mit einem Mal zerstört haben? Ich konnte es nicht sagen. Vom Herzen eines Mannes wußte ich Nichts; aber ich wußte, daß so Schreckliches in einem Weibe nur den Wunsch erregen würde, es wieder gut zu machen.

»Mrs. Fletcher, ist mein Haar in Ordnung?«

»Sehr hübsch, mein gutes Kind (so nannte sie mich noch aus alter Gewohnheit, wenn Niemand dabei war), Sie haben noch nie schöner ausgesehen. Ich möchte diejenigen sehen, die – sprich mir Einer von Lily's im Vergleich mit unserer Miß Clara –«

»Ich habe doch hoffentlich keinen Ruß auf der Nase, Mrs. Fletcher? In London fühle ich mich niemals sicher davor. Sie kennen London nicht.«

»Nein, mein Engel, Sie sind ganz rein und klar, und solchen Teint giebt es weder in Gloucestershire, noch außerhalb zum zweiten Mal. Sie haben ihn nur von dem Schwefel und Theriak, den ich Ihnen gab, als Sie noch klein waren. Sprich mir Einer von Lily's – drei Sonnenflecke wie Nadelspitzen groß habe ich bemerkt und an dem Zuschnitt ihrer Stiefel sehe ich, daß ihre kleine Zehe krumm ist. Und mehr noch –«

»Mrs. Fletcher, ich will kein Wort weiter hören. Was die kleine Zehe betrifft, so kann ich feierlich erklären, daß Sie im Irrthum sind. Ich habe ihren nackten Fuß gesehen und einen schöneren hat es noch nie gegeben.«

»Nur den Ihrigen müssen Sie nicht zeigen, Miß. Aber –«

»Aber – wir sind am Ziel, und Sie sind schuld, daß ich ganz rothe Wangen habe. Ich mag mich gar nicht sehen lassen.«

Es schadete übrigens nicht, denn es war Niemand da, um mich zu sehen. Conrad war nach Paris gereist. Er hatte London ganz plötzlich verlassen, und es war ein Brief für seine Schwester da, den das Mädchen vergessen hatte, zur Post zu befördern, bis sie es für zu spät gehalten. Er hatte gesagt, daß er wahrscheinlich weiter nach Italien reisen würde, und ihm die Zimmer nicht reservirt zu werden brauchten. Man möge ihm nur, falls sie anderweitig vermiethet würden, die im Wandschrank befindlichen Sachen verwahren. Ich nahm den an »Miß Isola Roß« adressirten Brief, aber ich wagte nicht, ihn zu öffnen, so gern ich es gethan hätte. Nachdem ich ihn in ein neues Couvert gelegt und zum nächsten Briefkasten gebracht hatte, stieg ich mit schwerem Herzen in die Droschke und fuhr nach Mrs. Shelfers Haus.

Mrs. Shelfer war natürlich überrascht, mich schon so bald wieder zu sehen. Trotzdem war sie wie immer die Güte und Gastfreundschaft selber. Der Restbetrag ihrer kleinen Schuld war längst abgerechnet, und ich bezahlte die volle Miethe. Auf meine eifrige Erkundigung, ob sich seit Mittwoch irgend Etwas zugetragen, antwortete die kleine Frau sofort:

»Nichts, nicht das Geringste, ich danke, Miß. Nur, daß Charley dreimal hinter einander Pasch geworfen und eine Ente gewonnen hat.«

»Das dumme Zeug meine ich nicht, Mrs. Shelfer; ich frage nach Dingen, die mich betreffen.«

»Oh, so Etwas ist nicht vorgekommen, Miß Vaughan; Nichts, was eine große Dame wie Sie betreffen kann, meine Beste. Nur ganz komische Leute sind hier gewesen, die mit Ihnen gut befreundet sein wollen. Es ist noch keine halbe Stunde her, daß sie von hier fortgegangen sind.«

»Erzählen sie mir Alles, was sie von Ihnen wissen.«

»Sie kamen und klingelten so bescheiden, wie möglich, und als ich die Hausthür öffnete, da sagten sie: ›Mit Verlaub, Madame, wo ist Miß Clara?‹ ›Miß Clara,‹ sagte ich, ›Ihr seht mir gerade danach aus, nach Miß Clara zu fragen. Sie würde Euch »bei Miß Clara«, wenn sie hier wäre.‹ ›Wir wollten Sie nicht beleidigen, und bitten demüthig, es nicht für ungut zu nehmen, Madame,‹ sagte der große, starke Mann – der größte Mann, den ich je gesehen habe, ohne dafür zu bezahlen, – ›wir sind aber nur Leute vom Lande, Madame.‹ ›Vom Lande!‹ sage ich, ›das, mein guter Riese, brauchen Sie mir nicht zu sagen, das kann Ihnen der Dümmste ansehen. Und wenn Sie meinen Rath befolgen wollen, so stülpen Sie Ihren Hut auf und gehen Sie mit Gott wieder dorthin zurück.‹ Sehen Sie, Miß, er hatte den Hut abgenommen, während er draußen auf der Straße im Schatten stand. Was ich sagte, schien ihn ganz niederzubeugen, und er sah aus, als wolle er darüber nachdenken. Gerade, als ich ihnen die Thür vor der Nase zuschlagen will, tritt der andere Mann, die seltsamste Vogelscheuche, die ich je gesehen habe (die Kleider schlotterten um ihn herum, wie ein Scheuerlappen um einen Besenstiel), auf mich zu, sieht mich mit einem so feierlichen Gesichte an, wie ein Ketzerpriester, streckt den knöcherigen Arm aus, und gibt den Takt mit dem Fuß an, wozu er singt oder sagt:

›Madame, wir sind nicht nach London gekommen,
Um wieder nach Hause zu gehen,
Eh Alles in Augenschein wir genommen,
Was es giebt weit und breit hier zu sehen.‹

Da lachte der große Mann und klopfte ihm auf den Rücken, und der kleine Mann blinzelte mit beiden Augen und guckte mich an, um zu sehen, was ich davon denke. Und wie er mich lachen sieht, da macht er mir solche komische Verbeugung, und sein ganzes Wesen, seine tanzende Attitude hätte mich beinahe bestimmt, sie alle hereinzunöthigen. Aber da fiel mir ein, daß ich es doch lieber nicht thun wollte. Nein, nein, wenn Charley mit solchen Originals zusammentrifft, so kann ich eine Woche lang hinter ihm herflöten. Denn Charley liebt Nichts so sehr, wie ein echtes Original.«

Die einfache, arglose Frau! Wie wenig ahnte sie, daß sie selber ein noch größeres Original war. Und wie Alle, die wahrhaft verdienen, so genannt zu werden, würde sie die Benennung als eine furchtbare Beleidigung aufgenommen haben. Nur die falschen Originale sind stolz darauf, für absonderlich zu gelten.

»Nun, Mrs. Shelfer, ich bitte um das Ende der Geschichte.«

»Genau, was ich sagte, Miß. Ja, ja, man hat keine Zeit zu verlieren, wenn der Pudding kocht. Also – ich sagte ganz kurz: ›Ihren werthen Namen, mein guter Herr, und haben Sie Etwas zu bestellen? Miß Vaughan ist nicht in London.‹ ›Nun denn,‹ sagte er darauf, ›sagen Sie ihr gefälligst, Madame, daß Jan Huxtable und Beany Dawe und die beiden ältesten Kinder sich die Ehre gegeben haben.‹ Da sieht das kleine Mädchen auf, und sie zupft ihre Schleifen zurecht und sagt: ›Bitte, Madame, Mr. Huxtable, Mr. Ebenezer Dawe und Miß Huxtable und Master Jack haben ihren Besuch abgestattet.‹ ›Wollen Sie es nicht lieber aufschreiben, Miß?‹ sage ich ganz unschuldig. ›Denken Sie vielleicht, daß ich das nicht kann?‹ sagte sie, und dabei funkelt es so in ihren Augen, und sie schwingt einen neuen Sonnenschirm. ›Geben Sie mir nur einen Bogen Papier, wenn Sie sich so Etwas im Hause halten.‹ ›Entschuldigen Sie die kleine Dirne gütigst, Madame,‹ sagte der große Mann demüthig, ›sie ist ganz aus dem Geschick gekommen, seit sie hier in London ist. Wenn ich das nur gewußt hätte, würde ich ihre Mutter mitgenommen haben, ja, wahrhaftig, und die Kuh hätte ihre eigene Hebamme sein können. Sagen Sie nur, der Jan Huxtable sei da gewesen; ich habe fünfundsechzig Morgen, und nach meiner Ansicht hat kein Mensch das Recht, sich Mister zu tituliren, der nicht seine hundert Morgen bewirthschaftet, ob er nun in London oder zu Hause ist.‹ ›Sehr wohl, Sir,‹ sage ich, denn mir gefiel der große Mann, ›ich will Ihre Bestellung ausrichten. Miß Vaughan ist erst Mittwoch Mittag von hier abgereist.‹ ›Und bitte, sagen Sie ihr,‹ sagte die lebhafte kleine Miß mit dem Sonnenschirm, und die Thränen standen in den großen blauen Augen, ›daß Sally Huxtable ihr die liebevollsten und gehorsamsten Grüße schicke, und von ganzem Herzen hoffe, daß Miß Clara den großen Ringkampf morgen um zwölf Uhr mit ansehen und recht früh kommen möge. Es wird jetzt Zwei gegen Eins auf den anderen gewettet, Madame; er hat aber so wenig Aussicht wie Tim Badcock gegen Vater.‹ ›Ich fürchte, Madame,‹ sagte der große Mann, und seine tiefe Stimme klang so sanft, wie eine Glocke, ›ich fürchte sehr, daß unsere Sally ihrem Vater und ihrer Mutter noch über den Kopf wachsen wird. Aber vielleicht ist es Alles zum Besten.‹ Und damit machten sie mir Alle die höflichsten Kratzfüße und gingen um die Ecke; und hinter ihnen her gingen etwa zwanzig Jungen, die ihnen überall zu folgen schienen. Die Jungen wußten so gut, wie ich es jetzt endlich wußte, daß er der große Ringkämpfer war, der zu dem Preiskampf gekommen ist, über den Charley schon seit zwei Monaten faselt. Könnten Sie wohl die Güte haben, Miß, ihm zu sagen, auf welche Seite er sein Geld setzen soll?«

»Gewiß kann ich das. Lassen Sie ihn jede angebotene Wette von Zwei zu Eins gegen den Devonshirer Fechter annehmen. Verliert er, so verpflichte ich mich, ihn dafür zu entschädigen unter der Bedingung, daß er Ihnen Alles giebt, was er gewinnt. Nun aber bitte ich um eine Tasse starken Thee.«

Auf diese Weise von meiner gesprächigen Freundin befreit, hatte ich, da Mrs. Fletcher ausgegangen war, um Einkäufe zu machen, ein wenig Zeit zum Nachdenken.

Es war am Freitag Nachmittag gegen zwei Uhr. Vorläufig konnte Nichts geschehen, um Conrad herbeizuschaffen, denn er hatte selbst in seiner Wohnung keine Angabe zurückgelassen, wo er möglicherweise aufzufinden sei. Vielleicht war sein Aufenthaltsort in dem Briefe an seine Schwester offenbart, der durch meine Hand auf die Post gegeben war; wahrscheinlicher war es indessen, daß er beim Schreiben selber noch nicht gewußt, wo er sein Quartier aufschlagen würde. Ich mußte vor Schmerz und Enttäuschung ganz betäubt gewesen sein, als ich das Schreiben in den Briefkasten gesteckt, denn kehrte ich, wie verabredet war, mit dem Schnellzug um fünf Uhr zurück, so hätte ich selber die Nachricht mehrere Stunden früher an Ort und Stelle bringen können. Freilich ahnte ich noch nicht im Entferntesten, wo ich am Nachmittag um fünf Uhr sein würde.

In jenem kleinen Zimmer, an dessen Wänden gewisse werthlose Machwerke von meiner Hand hingen, von denen ich mich selbst in meinen ärgsten Geldverlegenheiten nicht zu trennen vermocht, weil ein nachsichtiger Kritiker sich lobend über sie geäußert – hier saß ich und blickte träumerisch, zärtlich und sehnsüchtig auf die vergangenen Tage zurück, über die noch nicht drei Monate hingegangen, wo ich keine Brodrinde und kein Kleidungsstück besaß, ehe ich sie mir durch meine Arbeit verdient hatte. Wie jene Zeit der Entbehrungen mein Gemüth erweitert hat, das weiß nur Gott allein, nicht ich. Ach, damals war ich ein glückliches Mädchen, obgleich ich es nicht ahnte. Wie stolz schritt ich über den Platz mit meinem anschließenden schwarzen Strohhut, den Isola »spießbürgerlich« nannte, und in meinen dunklen Plaid gehüllt; und trotz dieses einfachsten aller Anzüge war ich mir bewußt, nicht gewöhnlich auszusehen.Wer konnte in jenen glücklichen Tagen nicht ganz von ungefähr um die Ecke biegen, und wessen Antlitz würde dann die beiderseitige Ueberraschung am besten ausdrücken? Und dann der Zweifel, sollte ich hinsehen oder nicht? War es nicht vielleicht besser, die Blicke aufmerksam auf die Wasserleitungsklappe am Boden zu richten und eine zweite Begegnung abzuwarten?

Dahingegen jetzt? Ach, ich bin mit Reichthümern überhäuft, und wer wird sich mit mir daran erfreuen?

Gerade, als ich bei dem Gegenstande warm wurde und mich von jenem Mitleid fortreißen ließ, der einzigen aller weichen Empfindungen, die zu bekämpfen wir uns nicht verpflichtet fühlen, nämlich von Selbstbedauern – trat Mrs. Fletcher plötzlich sehr ärgerlich in das Zimmer.

»Dies, Miß Clara,« rief sie aus und warf ihr Packet hin, »ist also London, nicht wahr?«

»Gewiß, Mrs. Fletcher; haben Sie Etwas dagegen einzuwenden?«

»Nichts, Miß. Ich weiß nur, wenn ich jemals Bauernvolk zu Gesicht bekommen, so sehen die Londoner so aus. Da würde sich unsere gewöhnlichste Küchenmagd schämen, solche breite Sprache zu führen und sich so aufzuputzen. Und eine halbe Meile weit bin ich gegangen, um Stiefel zu kaufen, echte Londoner Waare. Den ganzen Weg entlang standen Bäume und Töpfe auf den Fensterbrettern. Da muß ich denn doch sagen, daß Gloucester mehr wie eine große Stadt aussieht.«

Da Mrs. Fletcher eine Geschichte nicht mit der herodotischen Lebhaftigkeit Tim Badcock's erzählte, will ich ihre Erlebnisse in meiner eigenen anspruchslosen Art berichten und nur vorausschicken, daß sie den Pächter und Sally für echte Cockney-Exemplare gehalten hatte. Während unsere würdige Haushälterin mit Bedacht und Klugheit ihren Handel in einem hübschen Laden am Bradway abschloß und die Stiefel an die Sonne trug, um etwaige Löcher in den Näthen zu entdecken, bemerkte sie einen ganz kleinen Jungen vom Schuhputzergewerk, der sein Lager dicht neben der Thür in einer Art Bucht, die der Bürgersteig hier bildete, aufzuschlagen begann. Das Bürschchen trug eine strahlend bunte Uniform, eine scharlachrothe Mütze mit Gold eingefaßt, eine rothe Blouse und eine Schürze von grünem Boy Im Original » baize«, ein grüner Wollstoff, mit dem Billard- und Spieltische ausgeschlagen werden.. Auf seiner einen Schulter und der Mütze stand die Nummer 32 in anderthalb Zoll langen Messingzahlen. Einen länglichen Holzblock, der fast so groß wie er selber war, nahm er vom Rücken, wo er ihn festgeschnallt hatte, und stellte ihn mit großer Wichtigkeit auf die mehrere Zoll hohe Umrandung des Trottoirs. Eine Wichsbüchse hing an dem Block, und aus einem Schubfach am unteren Ende holte er drei ziemlich abgenutzte Bürsten hervor. Nun hantirte er im schnellsten Tempo mit beiden Händen an einem Stiefel herum, den ihm die Phantasie auf zartem Fuß entgegenstreckte. Während er so arbeitend ein scharfes Auge auf die Vorübergehenden richtete, schlenderte eine soeben frisch von Arcadien gekommene Gesellschaft langsam auf ihn zu. Voran schritt in dreifach gesteigerter Wichtigkeit, die umherspähenden Augen ausdrucksvoll rollend, Hermes Pan und die Eule der Pallas in einer Person – Ebenezer Dawe. Seine zu keiner Zeit sehr kooperativen Augen schweiften suchend umher, um, wenn sie etwas Bemerkenswerthes fanden, mit einem Blinzeln darüber wegzugehen, das so viel heißen sollte wie: »Pah, das kennen wir schon Alles.« Ruckweise, als führe er eine Säge durch einen Knorren, zerrte sein dünner rechter Arm die stämmige, festeingeknöpfte Gestalt unseres kleinen Jack. Dieser trug einen breitkrämpigen schwarzen Hut mit blauem Bande und einen nagelneuen Manchesteranzug, der von seiner Mutter und Suke des Abends verfertigt und mit zahllosen Taschen ausgestattet war, deren jede drei große Knöpfe hatte, um den Londoner Dieben zu wehren. In einer dieser Taschen klimperte er trotz aller von Sally empfangenen Lehren mit dem letzten ihm noch übriggebliebenen Pennystück, während er widerstrebend am Arm des Poeten hängend liebäugelnde Blicke auf eine Anzahl herrlicher Kreisel warf. Dem kleinen Jack dicht auf den Fersen und bereit, Jeden fortzustoßen, der wagen würde, ihn zu stehlen, ging meine kleine Sally, voller Eifer, Verwunderung und Selbstgefühl, ihren mächtigen Vater mit sich fortziehend, wie ein Grashüpfer, der einen Ochsen führt. Mitunter versuchte sie, ihn zu den Herrlichkeiten in den Schaufenstern zu zerren, ohne seine milden Gegenvorstellungen zu beachten: »Geh' anständig, mein Kind, geh', wie es sich gehört. Was sollen bei Deinem Betragen hier die Londoner denken von Devonshire? Da, der verdammte Beany Dawe steckt mich meiner Seel' noch an, daß ich auch zum Dichter werde. Das kommt aber davon, daß ich schreiben lernte.« Die Taschen des Pächters waren vollgepfropft von Circulären, Zetteln und Reklamen jeglicher Art, die er jedem abnahm, der ihm solche überreichte, und welche er alle für seine Frau sammelte.

»Gentleman, lassen Sie sich die Stiefel putzen,« rief ein schrilles Stimmchen; »ich wichse Ihnen beide Stiefel für einen halben Penny. Nur immer her damit, Sir. Mach' sie Ihnen so blank, daß die Katze zu Haus sie nicht wieder erkennt. Für drei Heller Wichse und einen Penny Mühe und Geschicklichkeit, und Alles zusammen zu dem lächerlich billigen Preise von einem halben Penny. Beste Ausführung garantirt, sonst wird das ganze Geld zurückgezahlt. Her mit dem Fuß, mein Gentleman!«

Der Pächter stand plötzlich still, weil er fürchtete, über den Jungen fort zu treten, als sich dieser in Nichtachtung Beany Dawe's zwischen Jack und Sally geworfen hatte und nun vor Mr. Huxtable herumsprang. Seine Bürsten schwirrten wie Hummeln über ihrem Bau und bedrohten schon die Drabfarbe Im Original » drab«: Grau. der Sonntagsgamaschen.

»Ruhig da,« rief der Pächter, der nicht glaubte, daß ihm die Anrede gelten könne, da er selbst in seinen ehrgeizigsten Momenten (wenn er solche kannte) sich noch niemals hätte träumen lassen, ein »Gentleman« genannt zu werden, »willst Du mich wohl in Ruhe lassen, Du kleiner Wiedehopf, sind das Londoner Manieren? Laß sie gleich los, na, wirds bald« – der Junge wurde immer zudringlicher – »siehst Du denn nicht, daß es meine Sonntagsgamaschen sind? Oh, wenn meine Frau hier wäre! Ich glaube, Du bist noch kaum neun Jahre alt! Wo in aller Welt gehst Du in die Schule?«

»Institut Numero 66. Kinder und Frauenzimmer werden nicht zugelassen. Her mit dem Fuß, alter Mann. Für die Kleinen und den Hauslehrer nehme ich den halben Preis. Habe gerade zwei Minuten übrig, ehe der Herzog von Cambridge an die Reihe kommt. Glanzwichse von der großen Ausstellung, um die schönen Künste zu fördern.«

Der gute Pächter war in dem Tumult der auf sein langsames Begriffsvermögen gewälzten Gegenstände rettungslos verloren. Trotzdem hatte er noch Geistesgegenwart genug, zuerst nach Uhr und Geld und dann nach seinem besten unter seinem Hute verborgenen Taschentuche zu fühlen. Unterdessen packte der Junge einen seiner Füße und begann die Gamaschen aufzukrämpen. Nun eilten Sally und der kleine Jack zu Hülfe und Jack schlug den Jungen ins Gesicht, während Beany Dawe dem Vorgang mit verständnißvollem Grinsen zusah. Trotz aller Hülfe begann der Pächter indessen seinem Moskitofeind zu erliegen, als glücklicherweise drei riesige Gardisten (es hatte sich schon ein Auflauf versammelt) ihre von wallenden, langherabhängenden Bärten umgebenen Lippen zu einem lauten, wiehernden Gelächter öffneten und die arme Sally mit frechem Hohn anblickten. Der Pächter sah sie äußerst erstaunt an; darauf wich seine bestürzte Miene wie eine Wolke von seinem Antlitz; er bemerkte, daß es Etwas für ihn zu thun gab, und er reichte Sally seinen Hut zum Halten. Bis jetzt waren ihm die Spötter sämmtlich zu klein zum Dreinschlagen gewesen. Ehe das Echo des Gelächters verklungen war, lagen die drei eleganten Gardisten im Schmutz und ihre gestreiften Beine waren kerzengerade wie Grenzpfähle emporgerichtet. Die Menge stob auseinander wie vor einem ausschlagenden Pferd, dann lachten Alle über die Gefallenen und mit dem Sieger. Selbst der Junge war jetzt die servilste Ergebenheit selber.

»Was fällt Euch Allen miteinander ein?« fragte der Pächter, seinen Hut wieder aufsetzend; »könnt Ihr einen friedfertigen Mann nicht in Ruhe lassen? Was sollen die Kinder davon denken, die um des Beispiels willen hier sind? Wenn wir das gewußt hätten, Beany, so würden wir unseren Constable Bill mitgebracht haben, ja, meiner Treu! Ach, was versteht Ihr davon (an die bewundernde Menge gerichtet), ich sage Euch, der Eine von den Dreien war nicht geworfen, wie es sich gehört. Wir können es aber noch einmal machen, wenn er es verlangen sollte. Kann gar Nichts Gescheidtes werden lassen, weil ich meine Frau zu Hause ließ; aber Gott weiß, daß sie nicht hat kommen wollen.« Die letzten beiden Bemerkungen sprach er zu sich selbst, aber sie kamen auch den Umstehenden zu gut. »Hast Du, Kleiner, mit der Bürste, nicht vor zwei oder drei Minuten um Erlaubniß gebeten, meine Stiefel zu putzen und sie beinahe genommen, ohne zu fragen? Wir müssen jetzt schon hier warten, um zu sehen, ob die drei Kerle noch Lust zum Weiterspielen haben oder sich zufrieden geben. Du kannst also thun, wie Dir's gefällt, nur warte, bis Sally meine besten Gamaschen aufgekrämpt hat, das heißt, wenn sie hier in London nicht zu vornehm dazu ist.«

Sofort knieete die arme Sally in ihrem vollen Putz mit den wehenden Bändern nieder, um an dem schmutzigen Manchester zu hantiren. Ihr Vater aber litt es nicht, er hatte sie nur auf die Probe stellen wollen. Mit einer Hand hob er sie empor, küßte sie, und nach dem, was Mrs. Fletcher sagte, mußte er ihr wenigstens sechs Pence geschenkt haben.

Obgleich der Junge auf das Gewissenhafteste arbeitete, vereitelten die Stiefel des Pächters seine Mühe. Klauenfett, Talg und Wachs behaupteten ihr Recht gegen die berühmte Wichse von Day und Martin.

»Na, Kleiner,« sprach der Pächter freundlich, »Du hast Dein Möglichstes gethan, aber unsere Suke wird Dich auslachen. Vielleicht wirst Du Dich das nächste Mal nicht so voreilig zu einer Arbeit drängen, die über Deine Kräfte geht. Aber Tinte hast Du mehr verbraucht, als ich zu zwei Vorschriften nöthig hätte. Da hast Du 'ne Kleinigkeit für die Ausstellungswichse.«

Bei dieser kleinen Episode hat Sally mir, wie wohl zu ersehen ist, mehr geholfen, als Mrs. Fletcher. Jetzt aber zur Fortsetzung meiner Geschichte.

Nachdem die Haushälterin mich kaum verlassen hatte, kam Patty mit einer großen weißen Frühstückstasse voll des stärksten Thee's hereingetrippelt. Ich kann mich des Gedankens nicht erwehren, daß die kleine Frau etwas Cognac hineingegossen oder Mrs. Fletcher, die viel Vertrauen in diese Herzstärkung setzte, erlaubt hatte, es zu thun. Beide indessen weisen die Beschuldigung entschieden zurück und erklären, nur eine Prise Kugelthee genommen zu haben. Was es auch gewesen sein mochte, ich trank es, da mir die Kehle vor Durst ganz ausgetrocknet war, ohne zu schmecken, und die Wirkung auf meine matten Nerven war unmittelbar und erstaunlich. Das Selbstbedauern war vollständig verschwunden, und an seine Stelle traten Selbstbewunderung und stolzer Muth. Sollte ich, Clara Vaughan, die ich so lange und so mühsam gesucht hatte, um den Schlupfwinkel einer verderblichen Schlange zu finden, jetzt, wo ich sie in Händen hatte, bei ihrem Zischen erbleichen und sagen: »Gehabe Dich wohl, und Gott sei mit Dir! Gieb mir nur Deinen Balg zum Andenken?«

Nein, ergreifen wollte ich das verhaßte Gewürm, und ihm das Rückgrat zertreten, daß es sein Gift in den Staub verspritzen würde.

In einem Nu hatte ich Hut und Mantel wieder angelegt. Ich sah kaum in den Spiegel, fühlte aber die heiße Röthe meiner Wangen, als ich leichtfüßig die Treppe hinabglitt und still das Haus verließ. Ohne mich zu besinnen, was ich zunächst thun wollte, ließ ich mich vom Impuls fortreißen, wie es stets in meiner Natur lag, die mich erwartende Gefahr aufzusuchen und herauszufordern. Als ich so davoneilte, bemerkte ich, daß die Leute auf der Straße sich verwundert umwendeten und mir nachschauten. Wie durch Instinkt getrieben, lief ich schnurstracks nach der Lukas-Straße, während mein Muth immer höher und höher stieg, je mehr ich mich der fluchwürdigen Schwelle näherte. Balaam und Balak standen meinem Befehl gemäß an der Schenke, welche die Aussicht über die Straße bot, aber Beide waren zu eifrig mit dem Bier beschäftigt, um mich zu sehen, wie ich schnell vorüberglitt. Laut klingelte ich an dem Hause Nro. 37. Diese Zahl stand deutlich auf der Thür, und als ich näher hinsah, erkannte ich die alte Nummer 19 mehr an den Umrissen als an der Farbe.

Wie gewöhnlich kam die alte Cora, die jedoch bei meinem Anblick zurückfuhr und leichenblaß wurde.

»Ist Ihr Herr zu Hause?« Ich konnte seinen falschen Namen nicht über die Lippen bringen.

»Ja, Miß; Sie können ihn aber jetzt nicht sprechen.«

»Wagen Sie, dem Herzen der heiligen Jungfrau den Gehorsam zu weigern?« Mit diesen Worten hielt ich ihr mein Cordis entgegen. Sie beugte ein Kniee und küßte es. Darauf führte sie mich zu Lepardo Della Croce.



 << zurück weiter >>