Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Eine wichtige Entdeckung.
Als mein Onkel diesen Brief sah, erklärte er, daß er mit mir nach London reisen wolle. Keine Macht der Erde sollte ihn daran verhindern, nicht einmal seine eigenwillige Clara. Es war keine Rache, die er zu üben wünschte, selbst nicht seines unschuldigen Bruders willen, dessen Mord er nicht vergeben konnte. Nein, wenn jener niedrig denkende Unhold, der sein Leben daran gesetzt hatte, dasjenige eines Nebenmenschen zu zerstören, wenn jener verächtliche Missethäter morgen vor ihm im Staube läge, so wollte er ihm nicht den Fuß auf den Nacken setzen, sondern ihm aufrichtig verzeihen, falls der Sünder darum bitten würde.
Nur seiner Kinder wegen mußte er nach London, vor seinem Tode wollte er sie noch ein Mal wenigstens sehen. Was kümmerten ihn seine gelähmten Glieder? Wer durfte ihn alt nennen, da er noch nicht fünfzig Jahre zählte?
Eins erschien mir seltsam. Er hatte ein noch weit sehnsüchtigeres Verlangen, seine kleine Lily zu erblicken, als das Kind, welches er schon kannte, seinen Sohn und Erstgeborenen Harry.
»Sie ist beinahe so alt wie Du, Clara,« pflegte er zu sagen, »und Du bist ein völlig erwachsenes Mädchen. Am 21. dieses Monats (es war im Juli) wird sie achtzehn Jahre alt. Ich kann es kaum glauben. Wie mag sie nur aussehen? Wahrscheinlich sieht sie ihrer lieblichen Mutter ähnlich. Unzweifelhaft; glaubst Du es nicht auch, Clara?«
»Gewiß, Onkel,« antwortete ich stets, ohne eine Ahnung davon zu haben. »Wie gern möchte ich sie sehen.«
Wohl fünfzig Mal des Tags pflegte er mich um meine Ansicht zu befragen, und ich äußerte dieselbe stets fest und ohne einen Schatten von Zweifel in obigen Worten; und ohne den geringsten Werth zu haben, schien sie ihn jedes Mal zu beruhigen. Aber die ungeduldige Erwartung, die in Bezug auf Lily junior übermäßig erregte Einbildungskraft machten ihren Einfluß auf seine geschwächte Gesundheit bald geltend. In der sehnlichen Hoffnung auf seine Begleitung, seinen Beistand und Rath wartete ich von Tag zu Tag, selbst auf die Gefahr hin, Balaam und Balak noch länger auf gutes Bier warten zu lassen. Während der ganzen Zeit war meine Phantasie in Thätigkeit; unbestimmte Vermuthungen, Besorgnisse und verworrene Erinnerungen wechselten in meinem Gehirn.
Endlich konnte ich nicht länger zögern. Dienstag war der äußerste Zeitpunkt, mit dem ich mich einverstanden erklärte, und am Montag war mein Onkel nervöser und schwächer als zuvor. Es war zu ersichtlich, daß er die Reise nicht unternehmen durfte, und die lange Spannung seine schwache Gesundheit beeinträchtigte. So zeigte ich denn wiederum einige Entschiedenheit, die mir in letzterer Zeit abhanden gekommen zu sein schien. Ohne meinem Onkel Etwas zu sagen, bereitete ich Alles zu meiner Abreise vor und zeigte mich dann in der Thür seines Schlafzimmers, um ihm Adieu zu sagen. Annie Franks, die mit mir fuhr, um ihrem Vater einen kurzen Besuch zu machen, blieb zaudernd zurück, als wisse sie nicht, ob sie ein Recht habe, dabei zu sein, ich aber nahm sie in das Schlepptau meines starken Willens. Der arme Onkel schien ganz bestürzt, da es aber nicht mehr zu ändern war, fand er sich schnell darin. Die Ankündigung: »Der Wagen hält vor der Thür«, schließt für den Engländer jeden ferneren Einwand aus.
»Adieu, lieber Onkel,« rief ich so fröhlich es mir möglich war, »ich komme gegen Ende der Woche wieder nach Hause und bringe Deine Lily mit. Gieb mir einen herzlichen Kuß für sie und dann noch einen für mich!«
Er saß in einem Cachemirschlafrock auf seinem Bette, mit dem Betrachten einiger Reliquien aus alter Zeit beschäftigt.
»Adieu, mein Liebling, bleibe nicht lange fort. Ich bin schon genug beraubt.«
Nachdem ich Guidice meine strengen Befehle gegeben, eilte ich voller Furcht und Hoffnung und wieder zweifelnd, ob ich gehen solle, davon.
Nach einer schnellen Fahrt, und nachdem ich Annie sicher in die Arme ihrer Eltern geführt hatte, fand ich Mrs. Shelfer in vortrefflicher Laune, alle Vögel &c. gesund und keine Exekution im Hause. Charley leistete Wunderdinge, ›ja, ja, meine Beste,‹ war fleißig bei der Arbeit und ging fast die ganze Woche hindurch in kein Wirthshaus. So sagte er wenigstens, und er duldete keinen Widerspruch. Und sie glaubte sogar, daß er augenblicklich nicht mehr als drei unbezahlte Wechsel habe!
Meine kleinen Zimmer waren behaglich und ruhig. Auch fand ich nur einen halben Zoll hoch Staub auf den Möbeln. Mrs. Shelfer pflegte zu sagen, daß Staubwischen die schlimmste Art der Abnutzung für Möbel sei. Nach ihrer Theorie schützte der Staub dieselben vor dem Einfluß der Luft, besonders in den Fugen, und vor Fliegenschmutz. Trotzdem befahl ich ihr, sie schnell abzureiben, während ich einen Brief an die Herren Balaam und Balak mit der Bitte, mich am nächsten Morgen zu besuchen, zur Post brachte.
Als die Zimmer wieder ziemlich in Ordnung waren, und die Luft, welche Mrs. Shelfer haßte, durch die weitgeöffnete Balkonthür hereinströmte, kaufte ich einen Seekrebs und einige Semmeln, worauf ich meine Wirthin um das Vergnügen ihrer Gesellschaft zum Thee bat. Dies gewährte sie mir mit Freuden, denn die kleine Frau mochte Nichts lieber, als die Beine eines Seekrebses aussaugen. Die Gerüchte meines Reichthums hatten sie aber dermaßen überwältigt, daß sie vor Ehrerbietung nicht mit den Schalen zu bleiben wußte und auf der äußersten Kante ihres Stuhles wie auf einem Wagebalken hin und her schwankte. Ich möchte viel lieber selber arm sein, als mich mit Förmlichkeit behandeln lassen, weil ich nicht arm bin. Ehrlich gestanden, glaube ich, daß ich eine sehr niedrige Ader besitze, die sich gegen Reichthum und Rang auflehnt. Warum soll ich allen Luxus genießen dürfen, während andere Männer und Frauen, die unendlich viel mehr Geist, Seele und Herz besitzen, als ich, ihr ganzes Leben damit zubringen, den Werth ihres Sarges zu erwerben?
Dieser Gedanke hat schon manchen idealen Geist ermüdet, neben dessen hohem Flug meine Betrachtungen nur Sprünge eines Grashüpfers sind. Ich verliere den Schmetterling aus den Augen und begnüge mich mit der Larve Praxis. Mrs. Shelfer fühlt sich bald wieder behaglich; wir sprechen vom Preise des Katzenfleisches und der Würste und lachen (ich mit Bedauern) über die vergangenen Tage, wo Bratenfett die Stelle der Butter einnahm, und Guidice zögerte, einen Knochen zu nehmen, weil er glaubte, daß er mir zukäme.
Dann kommen die Neuigkeiten an die Reihe. Miß Isola, Gott segne das süße Herz, war gar zu oft gekommen, um nach Briefen und Nachrichten von mir zu fragen. Aber sie war nicht ein bischen so wie sonst gewesen. Sie peinigte die kleine Frau jetzt niemals mehr, und die kleine Frau hätte sich so gern von ihr peinigen lassen. Oh, ich würde sie kaum kennen. Sie wußte nicht mehr, welcher Vogel den Stelzfuß hatte und konnte einen Mehlwurm nicht von einem Regenwurm unterscheiden. Nicht einmal das Meerkätzchen streichelte sie wie sonst. Mrs. Shelfer glaubte – aber ich solle es um Alles in der Welt nicht weiter erzählen – daß Isola eine unglückliche Liebe habe, vielleicht zu einem der jungen Veteranen. Wie sie gehört hatte, waren die in Besitz von Zaubermitteln, um junge Mädchen zu behexen. Was es aber auch sein mochte, so konnte Mrs. Shelfer nicht dahinter kommen. Die Mädchen von heutzutage waren so schlau, ganz anders wie in ihrer und Charley's Jugend. Damals fürchtete ein junges Mädchen sich noch nicht, ihren Hals zu zeigen. Jetzt wickeln sie ihn in Baumwolle wie das Ei eines Kanarienvogels. Und waren sie deßhalb vielleicht etwas Besseres, die koketten Dinger? Sie sah genug von ihnen auf dem großen Platz, wo sie die Beine ihrer kleinen Schwestern zur Schau stellten als Muster ihrer eigenen.
»Bitte, Mrs. Shelfer, nicht skandaliren. Was für Nachrichten haben Sie von Ihrem Onkel John?«
»Ach, Miß, da müssen Sie die Haifische, die Hummern und die große Seeschlange fragen. In Wapping haben sie erzählt, daß das Schiff bei den Kannibalen gestrandet ist, und sie einen Polizisten gefressen haben. Und er hatte solche Beförderung in Aussicht. Wie jammerschade um ihn! Sein Rock von gekrumpenem Tuch hat vier Schillinge und sechs Pence die Elle gekostet! Aber die Eingeborenen sind schreckliche Menschen!«
»Unsinn, Patty, ich glaube kein Wort davon. Die Seeleute sind schon seit Sindbad's Zeiten die ärgsten Märchenerzähler. Ist außer Miß Isola und Mrs. Elton noch Jemand hier gewesen, um nach mir zu fragen?«
»Nein, Miß. Mr. Conrad ist nicht wiedergekommen seit dem Tage, wo Sie ihn so schlecht behandelt haben, und Miß Isola sagt, er sei sofort nach Hause gegangen und habe ein Werk zerschlagen, das 300 Pfund werth gewesen. Aber die große Dame mit der Sammtlivree, dem Bäckerladen voll Mehl in den Haaren und den rosaseidenen Strümpfen, die war zwei Mal in der letzten Woche hier und hat einen Brief abgegeben. Balak ist auch ein paar Mal hier gewesen und Balaam dazu. Aber ich habe ihnen die Thür vor der Nase zugeschlagen, denn, wie ich höre, sind sie nicht mehr im Amte und ein sehr netter junger Mann an ihre Stelle gekommen, der gar kein Aufhebens von Charley's Gewehr macht.«
»Lady Cranberry's Brief mag liegen bleiben, bis Ann Maples ihn bei ihrem nächsten Besuch wieder zurücknimmt, aber die Exekutoren muß ich sprechen. Wenn sie morgen kommen, so lassen Sie sie sofort ein. Wie befinden sich meine Freunde in den Stallwohnungen?«
Ihre Antwort würde mehrere Kapitel ausfüllen, deßhalb will ich nicht darauf eingehen, sondern mich zu Bette begeben. Aus meinen ersten Träumen wurde ich durch den heimkehrenden Mr. Shelfer gestört, obgleich derselbe so höflich war, am Fuß der Treppe die Schuhe auszuziehen, wobei er wenigstens das dreifache Geräusch vollführte, welches seine beschuhten Füße verursacht haben würden.
Am Morgen machte ich meinen gewohnten Spaziergang um den Platz, dann setzte ich mich hin und versuchte geduldig zu warten, bis die Exekutoren kommen würden. Natürlich hatte ich nicht die Absicht, meine liebe Isola zu besuchen, ja, ich wollte sie nicht einmal wissen lassen, daß ich ihr so nahe war, obgleich mein Herz sich sehnte, ihr süßes Gesichtchen wieder zu sehen. Ich hielt mich sogar vom Fenster fern, so gern ich nach den Exekutoren ausgeschaut hätte und verbot Mrs. Shelfer auf das Strengste, ihr, falls sie kommen sollte, ein Wort von meinem Dortsein zu sagen. Dies Alles stellte sich aber als vergeblich heraus. Mr. Shelfer ging nach dem Frühstück auf seine Schreinarbeit nach dem benachbarten Platz, und der Geruch seiner Pfeife drang in mein kleines Zimmer. Er mußte wohl die Hausthür offen gelassen haben. Wenigstens hörte ich plötzlich das Trappeln schneller Füßchen, ein Weinen und Schluchzen, und Mrs. Shelfer eilte hinaus.
»Es geht nicht an, Miß, es geht wirklich nicht; die Zimmer sind vermiethet, sage ich Ihnen, Sie können nicht hinauf. Oh, Gott, was soll ich nur thun?«
»Patty, ich will aber hinauf. Es ist mir gleich, wer dort ist. Das Herz bricht mir und ich will auf dem Bette meiner lieben Clara sterben. Wenn Sie dort stehen bleiben, so stoße ich Sie fort. Aus dem Wege sage ich.« Und Isola flog die Treppe hinan, ganz in Thränen zerfließend. Was blieb mir übrig, als ihr entgegen zu fliegen, und meinen Liebling an die Brust zu drücken? War es der leidenschaftliche Kummer und dazu die plötzliche Freude, mich zu sehen? – Sie fiel ohnmächtig in meine Arme. Ich brachte sie bis an das Sopha, und meine Küsse riefen sie in's Bewußtsein zurück. Als sie zu sich kam, und nicht mehr zu träumen glaubte, schmiegte sie sich an meine Brust, als sei ich ihr Gatte, und warf scheue Seitenblicke auf mich, um zu erforschen, ob ich beleidigt sei. Ihr hübscher Mantel lag auf dem Boden, ihr Hut unter dem Tisch. Lange schluchzte und zitterte sie so, daß sie kein Wort sprechen konnte, während ich ihr wiederholt zuflüsterte:
»Laß es doch gut sein, mein Engel. Du hast jetzt genug geweint. Erzähle Deiner treuen Clara, wer gewagt hat, Dich zu kränken.«
Beim Anblick des Kummers, der das süße Kind erschütterte, gerieth ich in solchen Zorn, daß ich ihren Feind am liebsten geohrfeigt hätte. Ich ahnte jedoch nicht, daß es etwas Schlimmeres, als ein kindischer Schmerz war. Endlich, nachdem sie ein großes Glas Wasser getrunken, und ihr geöffnetes Kleid das unruhig klopfende Herz nicht mehr beengte, versuchte sie, mir ihren Kummer zu erzählen.
»Oh, Liebste, mein Papa – ich nannte ihn immer Papa – er ist gar nicht mein Vater, wie er selber sagt. Aber das ist noch nicht das Schlimmste, denn ich könnte ganz gut ohne ihn leben. Er ist immer so mürrisch, und er frägt auch nicht das Geringste nach mir. Ja, ich könnte ohne ihn ganz glücklich sein, wenn ich einen richtigen Papa hätte, oder wenn mein Papa todt wäre und mich lieb gehabt hätte, ehe er starb. Ich aber habe gar keinen Vater und habe nie einen besessen. Ich bin eine Geächtete, eine Verworfene – oh Clara, willst Du es mir vergeben und mir versprechen, mich trotzdem lieb zu behalten?«
»Gewiß will ich das, mein Herz. Ich bin überzeugt, daß Du nichts Böses gethan hast. Wie könntest Du wohl Jemand beleidigen.«
Sie blickte mich mit einem Aufblitzen des Stolzes inmitten ihres Schmerzes an, und ihr Arm glitt von meiner Schulter.
»Du hast mich gänzlich mißverstanden. Glaubst Du, ich würde hier neben Dir sitzen und Dich küssen können, wenn ich irgend Jemand etwas zu Leide gethan hätte? Aber welches Recht habe ich noch, mich beleidigt zu fühlen? Er sagte mir – ist die Thür auch sicher verschlossen? – er sagte mir höhnisch, ich sei ein uneheliches Kind, und er gebrauchte noch ein schlimmeres Wort als das.«
Sie rückte von mir fort, und ihre langen Wimpern fielen auf die in Scham erglühenden Wangen. Ich zog sie an mein Herz. War sie ein Atom weniger rein? Ihr Unglück erhöhte meine Liebe zu ihr. Natürlich hatte ich es seit jener Mittheilung ihres Bruders geahnt.
»Und wer ist Dein Vater, mein Herzchen? Ein Vater, der auf Dich nicht stolz wäre, müßte ein Thor sein.«
»Oh, Clara, das Schlimmste ist, daß ich keine Ahnung davon habe. Einer Aeußerung jenes harten Mannes entnahm ich aber, daß er wohl ein Engländer war. Ich glaube, von jenem Wüthenden hätte ich Alles erfahren können, so außer sich war er; als er mir aber das Furchtbare sagte und hinzufügte, mein Vater habe meine Mutter belogen und ruinirt, da fühlte ich mich so elend, daß ich kein Wort hervorbringen konnte, bis er mich zum Hause hinaus warf und mich schlug.«
»Was?«
»Ja, er warf mich hinaus und gab mir den schimpflichen Schlag mit dem Befehl, ihm nie wieder vor die Augen zu kommen; er habe seine Rache – ich weiß nicht, wie er das meinte, denn ich habe ihm nie etwas zu Leide gethan und jetzt könne ich dem Beispiel meiner Mutter folgen und – oh, ich kann es nicht wiederholen, aber es war schlimmer als Sterben. Vor dem Verhungern brauche ich mich nicht zu fürchten, sagte er, mein Gesicht schütze mich davor. So wollte ich denn zu Conny, dem lieben Conny gehen. Ich glaube, er wußte es längst und konnte sich nur nicht entschließen, es mir zu sagen. Am Wege sank ich aber auf ein paar Stufen, weil ich nicht zu gehen vermochte, und ich bat den lieben Gott, Dich wiedersehen und dann sterben zu dürfen. Die alte Cora kam mir nach, und selbst sie weinte, und gab mir ihr sämmtliches Geld und einen echten Splitter vom heiligen Kreuz. Sie sagte mir, ich solle erst hierher gehen, denn Conny sei nicht in London, und sie wolle heute Abend im Dunkeln zu mir kommen. Vielleicht würde der Professor mich wieder aufnehmen, wenn seine Wuth vorüber sei. Glaubst Du, daß ich zu ihm zurückkehren würde, nachdem er mich so Etwas zu thun geheißen?«
Und in den sanften Veilchenaugen loderte solche gründliche Verachtung, solch tiefer Haß, und das kindliche Antlitz zeigte für einen Augenblick einen so hochfahrenden, wilden und bitteren Ausdruck, daß Clara Vaughan in ihrer stattlichen Unversöhnlichkeit einem Eisberg neben einem Vulkan glich.
Ich sah, daß der Moment gekommen war, um Alles zu erfahren, was sie wußte. Die Zeit der Skrupeln war vorüber.
»Isola, erzähle mir Alles, was Du über diesen feigen Unmenschen gehört hast.«
»Ich weiß sehr wenig, dafür hat er Sorge getragen. Nur daß er schreckliche Grausamkeiten an unglücklichen Katzen und Hunden beging, weiß ich. Er wollte selbst den armen Guidice aufschneiden, und Conny kam nur noch gerade zu rechter Zeit, um ihn zu retten. Ob Guidice es ihm wohl noch eines Tages vergelten wird? Lange Zeit konnte ich dem Thierquäler nicht ohne Schaudern die Hand reichen; er gibt aber vor, es jetzt nicht mehr zu thun. Dann machte mein Bruder die Entdeckung eines dunklen und schrecklichen Geheimnisses. Ja, ist er denn mein Bruder, kann ich selbst das noch wissen? Diese Entdeckung brachte eine solche Veränderung in ihm hervor, daß er gegen Alles abgestumpft schien, bis er Dich erblickte, Clara. Ich bin nicht sehr schlau, obgleich ich so viel gelernt habe, daß Du mich vielleicht dafür hältst. Aber auch Conny hat, wie ich glaube, nur das halbe Geheimniß entdeckt, und erst an dem Tage, als er mündig wurde, hat jener Mann ihm das Uebrige mitgetheilt, und welchen Zweck er dabei hatte, mag die heilige Mutter Gottes wissen.«
»Wann wurde Dein Bruder mündig?«
»Am letzten heiligen Weihnachtsabend. Weißt Du nicht mehr, was ich Dir zu jener Zeit einmal in der Zeichenschule erzählte?«
»Und wann ist Dein Geburtstag, Isola?«
»Ich weiß es nicht bestimmt, ich glaube bald nach Johanni. Auch Conny wurde der seinige nie gesagt, aber er hat es doch auf irgend eine Art herausbekommen. Er ist doch klug, wenn ich es auch nicht bin, nicht wahr, Clara? Sage die Wahrheit.«
»Ich denke an viel wichtigere Dinge, als an die Fähigkeiten Deines rohen Bruders. Aus welchem Orte und zu welcher Zeit seid Ihr nach England gekommen?«
Dies war ein Schuß ins Blaue. Freilich hatte ich längst vermuthet, daß sie aus dem Süden stammten.
»Ich weiß es nicht zu sagen. Ich muß aber zu jener Zeit noch ein kleines Kind gewesen sein, und das Thema wurde uns untersagt. Wie ich glaube, sind wir aus Italien gekommen und vor zehn Jahren mindestens.«
»Dein Bruder spricht geläufiger italienisch als englisch. Kannst Du mir noch mehr erzählen?«
»Nein. Ich weiß nur, daß die alte Cora eine Corsikanerin ist. Sie rühmt sich dessen jeden Abend, wenn sie vor mein Bett kommt, obgleich es ihr verboten ist. ›Was liegt mir aber,‹ so frägt sie, ›an dieser schmutzigen kleinen englischen Insel?‹ Sie singt mir dann eintönige Lieder vor, die ich kaum verstehe, die sie aber für schöne Nannas erklärt.«
Wie schlug mir das Herz bei jedem ihrer einfachen Sätze. Von dem Allen hatte ich nie Etwas gehört, weil sie es nicht hatte erzählen dürfen.
»Sonst noch Fragen, Donna?« Sie hatte sich, wie es bei jungen Mädchen zu sein pflegt, die Sorgen fortgeplaudert. »Liebste, Du solltest eine Perrücke tragen.«
»Ja; aber erst gib mir einen Kuß, als Unterpfand, daß Du mich niemals verlassen willst. Ich bin jetzt wieder reich, Du kannst gar nicht sagen, wie reich. Ich weiß nicht, was ich mit meinem Gelde anfangen soll, und ich habe Niemand, mit dem ich es theilen kann. Wenn Du meine Schwester wärest, so könnte ich Dich nicht mehr lieben, und wahrscheinlich würde ich Dich nicht viertel so lieb haben. Mein Onkel sehnt sich, Dich kennen zu lernen. Du sollst mitkommen und bei mir leben, wir wollen zusammen alte Jungfern werden. Willige ein, mein Engel, versprich es mir, und besiegle den Handel mit einem Kuß.«
»Clara, ich will lieber Deine Dienerin, als die Königin der ganzen Welt sein. Vorher versprich mir nur, daß Du mich niemals schelten willst. Ich bin nie daran gewöhnt worden, und es würde mir graue Haare machen.«
»Ich verspreche, Dich niemals zu schelten, Du müßtest denn davon laufen wollen.«
Sie warf ihr schönes Haar zurück, schlang die Arme um meinen Hals, sah mir mit einem Blick voll überquellender Liebe in die Augen und küßte mich. Oh, ich Verrätherin wollte nicht den Kuß (so innig ich sie liebte), es war mir um den Beweis zu thun, den ich gebrauchte. Ich wußte, daß sie mich mit der ganzen Inbrunst ihres Herzens küssen würde. Der köstliche Hauch ihres Mundes glich dem über Veilchen streifenden Zephir. Ich hatte es schon oft bemerkt. Mein letzter schwacher Zweifel war zerstreut. Dennoch tändelte ich noch einen süßen Moment mit ihr, mit uns Beiden.
»Mein Engel, welchen Parfüm gebrauchst Du als Mundwasser?«
»Nur reines Wasser, Clara; wie kommst Du auf solche Frage?«
»Und was für Haaröl nimmst Du, kleine Toilettenkünstlerin?«
»Gar keines, Donna. Ich hasse alle Parfüms, selbst Eau de Cologne.«
»Wie sonderbar! Ich hätte behaupten mögen, daß Deine Lippen und Dein Haar mit Veilchenextrakt parfümirt seien.«
»Oh, jetzt weiß ich, was Du meinst. Ich selbst bemerke es nie, aber viele Leute haben sich schon eingebildet, daß ich Dergleichen anwende. Der Mann jedoch, – oh wie soll ich ihn nur nennen? Heute Morgen sagte ich noch ›Papa‹ – er hat für Alles eine Erklärung, wie Du weißt; er sagte es sei eine erbliche Eigenthümlichkeit, und schon meiner Mutter hätte die Dienerschaft deßwegen einen italienischen Blumennamen beigelegt, obgleich ihr eigentlicher Name eine ganz andere Blume gewesen. Clara, warum siehst Du mich so an, und weßhalb weinst Du?«
»Weil ich Dich nicht umsonst so sehr geliebt habe, mein Herz. Du bist von meinem Fleisch und Blut, meine Cousine, meines theuren Onkels Tochter und Dein Name ist Lily Vaughan.«
Sie ließ mich aus den Armen und sprang vom Sopha empor. Zuerst blickte sie mich überrascht und erschreckt, dann voller Traurigkeit an, denn sie hielt mich für wahnsinnig. Darauf fiel sie mir abermals ohnmächtig in die Arme.
Als ich sie wieder in's Bewußtsein zurückgerufen und mit einem Bettpfühl gestützt hatte (denn Sophakissen waren nicht vorhanden), da ließ die geistige Spannkraft bei mir nach, und der Kopf wirbelte mir so, daß ich weder denken noch handeln konnte. Immer wieder küßte und hätschelte ich Isola und strich ihr über das Haar, als sei ich ihr Geliebter, oder sie mein Kindchen. Schlich sich nicht auch der Gedanke an Den in mein Herz, der mich mit solcher Zärtlichkeit hätte behandeln sollen? Ja, ich fürchte, daß es mir tiefer darin wurzelte als Mädchenfreundschaft und selbst als die Freude über das Glück, welches meinen Onkel erwartete.
Darauf haßte ich mich wegen meiner Selbstsucht. Ich versuchte Lily Alles begreiflich zu machen und goß eine ganze Flasche Wasser über uns Beide, um uns vor Weinkrämpfen zu schützen.
Die arme Kleine! Starke Gemüthsaufregungen waren ihr bisher fremd geblieben, und sie war ihrer Gewalt nicht so gewachsen, wie ich. Ich hatte schon so lange mit dem Schicksal gekämpft, daß ich jeden seiner Schläge wie ein echter Faustkämpfer parirte. Gerade als die hochgehenden Wogen der Erregung den Punkt erreicht hatten, wo Weinen oder Lachen von einem Windstoß abhängt, kam Mrs. Shelfer heraufgerannt. Der Grund ihres Kommens war ein recht prosaischer. Sie glaubte, wir spielten Cricket mit ihren geliebten Möbeln. Es war eine Ablenkung, wenn es auch keinen anderen Zweck hatte, denn ich schob die kleine Frau zur Thür hinaus, die ich hinter ihr verriegelte.
Dann umarmte ich meine geliebte Cousine abermals, und sie mußte mir ihren Fuß zeigen, damit ich sehen könne, ob sie den hohen Spann der Vaughans habe. Verzeiht mir diese kleine Albernheit, aber welches Weib ist ganz frei von Dergleichen? Seit vielen Generationen hatte unsere Familie schmale, gewölbte Füße, und so wenig darauf ankommt, freute ich mich, daß die ihrigen die richtige Form besaßen. Da sie alles Parfüm so haßte, goß ich eine Flasche des besten kölnischen Wassers über sie aus. Es war ein recht übermüthiger Streich, aber alle lebensfrischen Mädchen sind übermüthig. Ihre Augen thränten so stark davon, daß sie fast so heftig weinte, wie ich.