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Fünftes Kapitel.

Ein Abend des Glücks.

 

Zu unserer Ueberraschung und Freude sah der wirkliche Papa anstatt sich schlechter zu befinden, am nächsten Tage wohler denn jemals seit dem Fieber aus. Aber trotz des Bewußtseins seiner neu errungenen Vaterwürde saß er stundenlang mit seiner schönen Tochter Hand in Hand und liebkoste ihre Wangen und Locken, wie kleine Mädchen mit ihren Puppen spielen. Fortwährend erzählte er ihr von ihrer geliebten Mutter, und sie mußte ihm italienisch antworten. Eine Minute um die andere ließ er sich von ihr küssen und immer wieder sagte er, als habe er es erst soeben entdeckt, daß sie das treue Ebenbild ihrer Mutter, und dennoch wisse er nicht genau, ob ihr Lächeln ganz so lieblich sei. Dann mußte er die Herabsetzung nothwendigerweise wieder durch einen Kuß gut machen und sagen, daß er es glaube, obgleich es ganz unmöglich sei bei einer anderen als Lily – und so ging es fort, bis ich glaubte, sie würden niemals ein Ende finden. Freilich hielt ich mich möglichst fern von den Beiden.

In dem Gefühl, ihnen störend zu sein, und ein wenig niedergeschlagen begann ich meine alte gewohnte Runde nach den Plätzen, welche meinem Gedächtniß geheiligt waren. Wie lange ich an den einfachen Gräbern meiner Eltern geweint und zu ihrem und meinem Gott gebetet habe, Ihm den Dank meines vereinsamten Herzens für das mir gesandte Licht dargebracht und sie gebeten, auf mich herabzuschauen und mir die Leitung des Himmels für die mir noch bevorstehende Gefahren zu erwirken – dies und noch vieles Andere würde nur für das Ohr von Waisen Werth besitzen. Die Wolken am Horizont eines verdüsterten Daseins schienen sich schnell zu zerstreuen, und konnten sie mir auch Sonne und Mond nicht mehr enthüllen, so war es doch ein Trost für mich, zu wissen, wie dieselben untergegangen. Ja, mehr als Alles beglückte es mich, daß die gemeine Verunglimpfung des Andenkens meines Vaters, welche mir, trotzdem ich sie verachtet hatte, schwer in den Gedanken gelegen, sich als eine aus der Luft gegriffene Lüge erwiesen und mein guter, geliebter Vater nicht einmal einen Schurken verletzt hatte. Tausendmal erflehte ich seine Verzeihung, daß ich den Saum meines Gewandes von dem Gift hatte berühren lassen, obgleich ich es sofort mit Abscheu fortgeschüttelt.

Während ich noch in meine träumerischen Gedanken vertieft zwischen den beiden niedrigen Grabmälern an der Stelle saß, wo ich hoffe, daß mein Haupt einst liegen soll, wurde der schöne Lebensbaum, den ich gepflanzt, in sorgloser Hast bewegt, und etwas viel Schöneres stand vor demselben.

Es war meine Cousine Lily. Ich habe strengen Befehl erhalten, sie niemals mehr »Isola,« ja nicht einmal »Idola« zu nennen, weil der Name an den Bösen erinnere. Lily Vaughan strahlte vor Wonne und jungem Glück. Die frische, westliche vom Golfstrom durchhauchte Brise hatte die aprilfrischen Wangen mit einem Juni von Rosen geschmückt.

»Oh, Donna, wie froh bin ich, Dich endlich zu finden. Warum läufst Du nur immer von dem Papa und mir fort. Ich weiß mich gar nicht mehr in der Welt zurecht zu finden. Welch eine himmlische Welt ist es, Donna!«

»Nenne mich hier nicht so. Siehst Du nicht, wo Du stehst?«

Sie blickte auf die mit Namen und Daten versehenen Grabsteine und verstand Alles sofort.

Lange stand sie schweigend (ich meine lange im Verhältniß für sie) und ihre sanften Augen glänzten vor Ehrfurcht und Mitleid. Endlich trat sie dicht an mich heran, blickte zu Boden und flüsterte mit einem tiefen Seufzer:

»Wie mußt Du mich hassen, Clara!«

»Dich hassen, mein Engel! Weßhalb?«

»Oh, weil ich solchen lieben, guten Papa habe und Du keinen mehr hast. Und schlimmer noch als das, weil – weil – oh, ich weiß nicht, wie ich es Dir sagen soll.«

»Sage mir Alles, was Du meinst. Laß keine Mißverständnisse zwischen uns walten.«

»Weil es mir so scheint, als ob meine Mutter und mein Vater eigentlich, obgleich sie sich ganz gewiß lieber selber getödtet hätten, den Tod Deines armen Papas und Deiner Mama verschuldet haben.« Und sie stützte sich auf meiner Mutter Grabstein und schluchzte so, daß ich für ihr Herz fürchtete.

Ich legte meinen Arm um ihr Taille, setzte mich auf meines Vaters Grab und zog seine Nichte auf meinen Schooß.

»Liebste, ich könnte nicht das Kind Derer sein, die hier unten schlafen, wenn mir solche Gefühle natürlich wären, wie Du Dir vorstellst. Vor Jahren hätte ich vielleicht so empfunden, obwohl ich auch Das nicht hoffen will. Ich bin zwar nur eine hülflose Waise, und doch ahne ich schon, daß ich nicht umsonst gelebt habe. Von meinem Vater glaube ich es, von meiner Mutter weiß ich es bestimmt, daß sie mit Freuden ihr Leben hingegeben hätte, um mich von dem trotzigen Kinde selbst zu dem verwandelt zu sehen, was jetzt aus mir geworden. Oh, Lily, Du kannst Dir nicht vorstellen, wie sie mich liebten.« Und bei der Erinnerung an ihre Zärtlichkeit ergänzte die stumme Sprache der Thränen meine Rede.

Lily sagte kein Wort, aber sie pflückte Blumen und wand daraus eine Guirlande, die sie gleich einem Hochzeitskranze um die beiden weißen Steine schlang – und sie that Alles lautlos, um mich nicht zu stören. Doch selbst diese, ihrer südlichen Natur entsprungene anmuthige Idee rührte mich in dem Augenblick auf das Tiefste. Es giebt Zeiten, wo unser Gemüth in der heißen Quelle der Erinnerungen gebadet zu sein und alle Poren desselben geöffnet scheinen.

»Meine Lily komm, (wie stolz würden sie auf Dich gewesen sein), komm und gieb mir in ihrer Gegenwart einen Kuß und das Versprechen, daß Nichts, was auch geschehen mag, erkältend zwischen Dein Herz und meines treten soll. Wir wollen dulden, lieben und vertrauen, und nicht, wenn ein Schatten zwischen uns fällt, die Augen schließen, bis die Wirklichkeit dem Schatten folgt, sondern ehrlich und offen sein, wie es das Wesen der Freundschaft bedingt; und wenn Zweifel emporsprießen, die der Teufel sicherlich säen wird, so sollen sie sofort mit der Wurzel ausgerissen werden, bei der Einen von der Hand der Anderen. Küsse mich, Liebste. Dein Fehler ist, daß Du nicht so frei heraus redest wie ich. Laß mich Dich niemals kränken, ohne daß ich es erfahre.«

Das unschuldige Geschöpf küßte mich und gab mir feierlich das geforderte Versprechen.

»Oh, Clara,« rief sie, »wie in aller Welt hast Du es herausgefunden? Ja, Du hast mich schon häufig sehr gekränkt, denn Du sprichst oft recht unüberlegt. Aber ich dachte stets, es sei meine Schuld und sagte Dir nie etwas davon. Auch verminderte es meine Liebe zu Dir nicht im Geringsten.«

»Doch, für den Augenblick that es das, obgleich Du es mir bald verziehen haben magst. Eine Liebe, die fortwährend dem Verzeihen unterworfen ist, gleicht Glas, das im Wasser liegt, und das mit einer einfachen Scheere zerschnitten werden kann.«

»Die Scheere möchte ich sehen, welche mich von Dir trennen könnte. Ich werde mir eine tüchtige Locke von Deinem Haar nehmen, Clara, wenn Du solchen Unsinn sprichst. Komm jetzt, mein Vater, will Dich gern sprechen.«

»Hast Du ihm erzählt –«

»Ja, Alles von dem lieben Conny und Dir. Er sagt, Du seiest ein edles Mädchen, aber merkwürdig dickköpfig in Bezug auf Deine eigenen Angelegenheiten, obwohl schnell wie der Blitz, wo es sich um die Anderer handelt. Du siehst mir aber viel zu bleich aus. Laß uns rennen, damit Du etwas Farbe bekommst. Sieh, ich werde zuerst bei jenem Baum sein.«

»Glaubst Du das?« Ich war um eine Yard vor ihr am Ziel und freute mich, daß die schnelle Bewegung meines Busens auf den Wettlauf geschoben werden konnte. Nach Allem, was geschehen, wollte ich nicht, daß sie glauben solle, ich frage noch Etwas nach ihrem Bruder. Sie sagte nach echter Mädchenart kein Wort mehr, sondern wartete entschlossen, daß ich beginnen solle.

»Laß uns schneller gehen, Lily, wenn mein Onkel mich zu sehen wünscht.«

»Nein, nein; wir haben Zeit genug. Ein wenig Schlaf wird ihm sehr gut sein.«

»Oh, dann ist es nichts Wichtiges. Ich fürchtete schon, es möchte so sein.«

»Du brauchst Dich gar nicht zu fürchten, Liebste. Er will Dir nur zeigen, wie schön er die Spalla aus Chalcedon gemacht, die ich am Halse zu tragen pflegte. Er hat sie für meine Mutter zur Erinnerung an Etwas gefertigt.«

»Oh, weiter nichts. Ich glaubte, Du sprachst von – Du schienst wenigstens anzudeuten –«

»Nichts, worüber Du zu erröthen oder zu stottern brauchst, stolze Donna. Du hast mir gestern in der Droschke bewiesen, daß Conny Dir nicht mehr gilt, als die Flocke Londoner Ruß, die zufällig durch das Fenster auf Deinen Handschuh flog. Du warst gütig genug, ihn damit zu vergleichen.«

»Oh, Guidice, Guidice!« rief ich, als der Hund uns entgegensprang, »Du liebst Clara noch, wenn auch sonst Niemand.«

Und erst vor einer halben Stunde hatten Lily und ich uns in dramatischer Sprache ewige Freundschaft und Liebe gelobt!

»Oh, Clara, liebste Clara, weißt Du nicht, daß es mein Scherz war? Ich dachte, Du seiest so klug? Und nun sehe ich, daß Du Dich gar über den großen dummen Hund beugst und weinst! Guidice, ich hasse Dich, gehe aus dem Wege (er rührte sich nicht von der Stelle) und nimm Deine ungeschickten großen Pfoten von Cousine Clara's? Hals. Da, das hast Du dafür! Oh, die Hand thut mir so weh, und er wedelt nur mit dem Schweif. Aber ich bin so glücklich, mein Herz, daß Du den armen Conrad noch liebst.«

»Bitte, wer sagte das von mir?«

»Niemand, nur ich. Papa sagte weiter nichts, als daß ein großer Irrthum schuld an Allem sei, und er wolle Dir seine Meinung darüber mittheilen, aber nicht mit mir davon sprechen. Dann wollte er nicht leiden, daß ich ausginge, aus Furcht, ich könne wieder gestohlen werden. Ich glaube auch, er hat mich den ganzen Weg entlang bewachen lassen. – Hier komme ich, Papachen, in Lebensgröße, wie Du siehst, und dreimal natürlicher.«

»Ja, mein geliebter Schatz, dreimal natürlicher, als mein Leben ohne Dich gewesen ist. Aber fahrt mich in's Haus zurück, ihr Mädchen. Ueber solches Gespann hat kein anderer Mann auf der Welt zu gebieten. Ich möchte Dich allein in meinem Zimmer sprechen, Clara. Lily, gehe zu Mrs. Fletcher, ich kann Dich nicht so herumstreifen lassen.«

Lily gehorchte ihm sofort.

»Warte nur noch eine Minute, lieber Onkel, ich will noch Etwas holen.«

Ich lief nach meinen Zimmern und suchte die Urkunde, welche den Rechtsanwälten noch nicht zurückgegeben war. Diese nahm ich mit mir in das Arbeitszimmer meines Onkels und händigte sie ihm ein.

»Was giebt es, Clara? Bist Du Rechtsanwalt geworden und hast irgend einen Formfehler entdeckt?«

»Nein, theuerster Onkel. Aber ich bitte, daß Du dies vernichtest. Ich kann nicht gestatten, daß Du Deine Kinder so beraubst.«

Ich will nicht wiederholen, wie er mich in seiner Ueberraschung und Freude nannte. Es schien mir ganz unverdient, denn ich hatte nur gethan, was mein Gewissen mir als recht diktirte. Von der Annahme meines Verzichtes wollte er indessen kein Wort weiter hören.

»Mein Liebling, es würde nicht recht, es würde geradezu Diebstahl sein; und nicht einmal die Vaterpflicht gäbe mir eine Berechtigung dazu. Du bist die eigentliche Erbin, das Kind des älteren Sohnes, die wahre Vertreterin unserer alten Familie. Alles Uebrige sind Spitzfindigkeiten und Rechtskniffe, die ich mir nie, und auch ohne Deine unzähligen Wohlthaten, zu Nutz machen wollte. Meine Kinder stammen von mütterlicher Seite aus einer noch älteren Familie, als wir (so weit der Unsinn in Betracht kommt) und sind Erben von Reichthümern, im Vergleich mit denen, wenn sie richtig gehandhabt werden, die ganze Herrschaft Vaughan Nichts ist. Nur um Eines bitte ich Dich, das Du sicherlich auch thun würdest, ohne darum gebeten zu werden. Unterstütze sie, wenn Das, was ich ihnen hinterlasse, ausgegeben ist, ehe sie ihre Ansprüche bewiesen haben. Hier ist ein Brief an den Grafen Gaffori. Der wackere Mann ist noch am Leben. Hier sind auch die Atteste und meine eigene kurze Erklärung, zu deren Beglaubigung ein benachbarter Friedensrichter noch heute hier eintreffen wird. Hier ist die Spalla meiner Lily, andere Reliquien sind vielleicht im Besitz meines Sohnes. Schließlich sind hier noch zwei Briefe, einer an meinen alten Freund Peter Green, der jetzt in jener Gegend von Corsika viel Einfluß hat, der andere an James Mc'Gregor, der früher mein Studiengenosse in Lincoln's Inn war und jetzt angesehener Advokat und eine Autorität im Municipalgesetz ist. Nimm Alles dies an Dich, mein liebes Kind, wenn Du so freundlich sein willst, denn ich fürchte, meine liebliche Tochter – ist sie nicht lieblich, Clara?«

»Das lieblichste Mädchen auf der Welt, und, was viel mehr gilt, auch das liebenswürdigste und beste.«

»Ja, wenn Du das ganze Königreich durchsucht hättest, würdest Du mir nicht noch ein solch herziges Wesen haben bringen können. Aber, ach! Du hättest ihre Mutter sehen sollen! Indessen befürchte ich, daß mein süßer Liebling ein wenig sorglos und flüchtig ist, wie ihr Vater zu sein pflegte. Jedenfalls ziehe ich es vor, dieses große Aktenbündel Deinen wackern und muthigen Händen anzuvertrauen; wenigstens bis mein Sohn kommt, um es für sich zu beanspruchen. Die Erklärung werde ich Dir zustellen, wenn sie attestirt ist.«

»Aber, Onkel, Du solltest Alles lieber selber in Verwahrung behalten. Mrs. Daldy brauchen wir jetzt nicht mehr zu fürchten.«

»Nein, mein Kind; aber diese Sachen dürfen nicht mit mir begraben werden.«

Es lag ein Ausdruck in seinen Augen, vor dem ich erschreckt zusammenfuhr. Gleich darauf lächelte er aber so sanft, daß mein Schrecken schwand.

»Und jetzt, mein Kind, zu Dir selber. Obgleich Du mir eine andere Tochter aufgefunden hast, sehe ich Dich als die ältere an und wage wie ein Vater mit Dir zu sprechen. Ist es so, wie meine Lily mir sagt? Ist es wahr (möge Gott es wollen), daß Du meinen und meiner Lily Sohn, Henry Conrad liebst? Warum antwortest Du mir nicht, mein Herz? Sage die Wahrheit wie eine echte Vaughan. Du wirst Dich seiner doch nicht schämen?« Und er legte die Hand auf mein Haupt. Meine Thränen flossen reichlich, und mein Herz schlug stürmisch.

»Onkel,« antwortete ich endlich, die Spannung für ihn fürchtend, und blickte ihm voll in das Antlitz, »ja, Onkel, ich liebe – ich meine, ich liebte ihn früher einmal.«

»Von ganzem Herzen, wie wir Vaughan's lieben, von ganzem Herzen, mein armes, geliebtes Kind?«

»Ja, Onkel,« schluchzte ich in bitterer Demüthigung; »mir ist Nichts von meinem Herzen geblieben.«

»Dank Dir, oh Gott! Welch freudige Nachricht für seine Mutter! Mein Harry ist der glücklichste Mensch auf Erden!«

»Aber, Onkel, er denkt nicht so, er – er erkennt seine Glückseligkeit nicht.« Ein Strahl meiner alten Selbstironie brach noch durch meinen Schmerz hervor.

»Oh, ich habe das Alles gehört. Du weißt aber doch sicherlich, welches unsinnige Mißverständniß ihn irre geführt hatte?«

»Das kann ich allerdings nicht wissen. Ist es etwa meine Aufgabe, Das zu errathen?«

»Jawohl, da Du im Licht bist und er sich im Dunkeln befindet. Wen glaubte jener Menschenräuber ermordet zu haben?«

»Dich natürlich, Onkel.«

»Und für wessen Kind muß er Dich halten, wenn er von Deiner Existenz gehört hat, was doch sicher anzunehmen ist?«

»Barmherziger Himmel, jetzt wird mir Alles klar! Welch bitteres Unrecht habe ich ihm gethan, meinem geliebten herrlichen Conrad!«

Ich verlor alle Selbstbeherrschung, und mein armer schwacher Onkel mußte mich ganz allein wieder zur Besinnung bringen. So erschreckt er war, denn er hatte noch nie eine Natur wie die meinige in dieser Weise kennen gelernt, klingelte er doch nicht nach Hülfe, damit ich mein Geheimniß keinen anderen Ohren, als den seinen verrathen sollte. Als ich mich endlich beruhigt hatte, küßte er mich zärtlich und sprach:

»Mein armes geliebtes Kind, erinnere Dich für später, wenn Du vielleicht gern daran zurückdenkst, daß ich jetzt, mag ich meinen prächtigen Jungen noch sehen oder nicht, ganz glücklich sterben werde. Ein prächtiger Junge muß er sein, denn sonst könnte Clara ihn nicht lieben. Es wäre der Lieblingsplan meines Herzens gewesen, wenn ich eine Stimme darin hätte haben können. Und nun ist es ohne mich so gekommen! Wie oft habe ich sehnsüchtig gewünscht, daß er Dich beobachten könnte, wie Du Tag und Nacht an meinem Pestlager wachtest, und daß er die Geschichte Deiner Leiden und Deiner Aufopferung erfahren möge. Mit meinem Tode erlischt die so hart vom Himmel geprüfte Generation, und Ihr drei herzigen Kinder beginnt das Leben unter den günstigsten Verhältnissen. Sorge dafür, daß die Vorschriften des alten Signors befolgt werden und Harry, wenn er hier lebt, das korsikanische Besitzthum seiner Schwester Lily überläßt. Versprich mir dies, meine Clara.«

»Gewiß, lieber Onkel – ich meine so weit mein Einfluß reicht. Wenn ich Dich richtig verstanden habe, ist er auch durch die Urkunde dazu gezwungen. Aber vielleicht hat er mich schon vergessen.«

»Natürlich hält er sich für verpflichtet, Dich zu meiden. Ich habe ihm jedoch geschrieben, um ihm Alles zu erklären und ihn sobald wie möglich hier zu haben. Und nun zu – zu dem entsetzlichen –«

»Ja, ja. Wenn ich das Recht dazu hätte, würde ich ihn frei ausgehen lassen. Mein ungestümer Haß hat sich jetzt in völlige Verachtung umgewandelt. Seine Rache wird nun doch sicherlich befriedigt sein.«

»Nein, Clara. Sie wird in dem Augenblick, wo er seinen Irrthum und meinen schließlich über ihn gewonnenen Triumph erfährt, wilder denn jemals auflodern. Hat er eine Ahnung, wo unsere Lily ist?«

»Bis jetzt kann er noch Nichts erfahren haben. Ich habe Sorge getragen, daß die alte Cora, wenn sie am vorigen Abend in meiner Wohnung war, von Mrs. Shelfer nur gehört hat, Lily sei dort gewesen und wieder fort gegangen. Die Alte ist des Englischen nicht mächtig genug, um Kreuzfragen anstellen zu können. Sie liebt die arme Lily, wie ich weiß, aber sie wird sich bei der Annahme beruhigen, daß die Kleine zu ihrem Bruder gegangen. Was jenen Unhold betrifft, so wird derselbe, selbst wenn er zum Nachgeben geneigt sein sollte, viel zu stolz sein, um nach ihr zu fragen.«

»Was hat mein armes Kind gethan, daß der Unmensch sie hinauswarf und schlug?«

»Nichts, glaube ich, als daß sie ihren Bruder Conrad vertheidigte, was sie stets that. Vermuthlich darf ich ihn jetzt ›Conrad‹ nennen, Onkel?«

»Ja, mein Kind, es ist sein richtiger von seiner Mutter gewählter Name. Warum verläßt Du mich?«

»Um sofort nach London zu eilen. Deinetwegen, lieber Onkel, darf ich den Verbrecher seiner Strafe nicht entziehen. Ich muß ihn noch heute Abend verhaften lassen. Ich würde es aus vielen Gründen gern vermieden haben, aber mir bleibt keine Wahl.«

»Oh, doch. In zwei Tagen werde ich seiner Macht entrückt sein. Frage mich nicht, was ich meine. Heute ist Donnerstag. Versprich mir, ihn bis Sonnabend in Freiheit zu lassen.«

»Ich verspreche es Dir. Aber ich muß nach London gehen. Hier kann ich nicht ruhig sein.«

Meines Onkels Antlitz überflog ein leichter Schein, und er nahm meine Hand in die seine.

»Ich weiß, was Du meinst, mein Liebling. Du beabsichtigst, meinen Harry aus Furcht vor störenden Zwischenfällen selber aufzusuchen. Ich will Dich ungehindert fortlassen, obgleich mir das Haus ohne Dich, seine treue und anmuthige Herrin, verödet erscheint. Du darfst aber nicht allein reisen. Es ist nicht passend für ein schönes, wenngleich mit Selbstbewußtsein und Würde auftretendes Mädchen, besonders in Deiner Lebensstellung, allein und unbeschützt herumzuschweifen.«

»Nur ein Mann hat mich jemals insultirt, Onkel, und er hat es niemals wieder gethan.«

»Einerlei; nicht jeder Mann ist ein Gentleman. Mrs. Fletcher soll mit Dir gehen, und unsere hübsche Lily wird die Haushaltung führen. Ich habe jedoch einen besonderen und wichtigen Grund, um zu wünschen, daß Du noch bleibst. Reise nicht vor morgen, mein Herz. Ich befinde mich so wohl, daß ich einmal als Dein Gast mit meiner Tochter an Deinem Tische speisen möchte.«

»Oh, Onkel, das wird hoffentlich noch tausendmal geschehen. Ich will bis morgen warten, wenn Dir so viel daran liegt.«

»Es liegt mir allerdings viel daran. Du kannst morgen mit dem Frühzug reisen und morgen Abend wieder hier sein. Willst Du es mir versprechen?«

Obgleich ich seine Beweggründe nicht ahnte, die er absichtlich vor mir geheim hielt, versprach ich Alles, was er forderte. Dann erzählte ich ihm die Geschichte des Unfalls, bei dem Conrad meiner Mutter und mir das Leben mit dem Muth und der Gewandtheit eines geborenen Bergbewohners gerettet hatte. Mein Onkel war zu Thränen gerührt, nicht allein durch die Tapferkeit seines Sohnes, sondern auch durch die Freude über die Entdeckung, daß die Verbindlichkeiten nicht sämmtlich auf der einen Seite lagen. Ich weinte ebenfalls, als ich bemerkte, daß Lily nie Etwas davon gehört hatte. Conrads hoher Sinn verschmähte es, seine eigenen Heldenthaten zu erzählen. Als er nach jenem Abenteuer entdeckt hatte, wen er gerettet, vermied er uns, weil er glaubte, daß sein Vater den meinen ermordet habe. Erst an einem späteren Datum, seinem einundzwanzigsten Geburtstage, an dem er nach Korsikanischem Herkommen mündig geworden, theilte Lepardo Della Croce ihm alles mit, was derselbe von seiner Lebensgeschichte wußte, indem er besonders den schändlichen Verrath hervorhob, den sein Vater durch seine Bigamie an der Familie Della Croce begangen habe; aber vergebens versuchte er ihm den furchtbaren Vendetta-Schwur abzunehmen. Der Jüngling hatte zu viel englisches Blut in sich, um die düstere Erbschaft anzutreten. Von jener Zeit an konnte er den Anblick des Mannes nicht mehr ertragen, der, wie Beide glaubten, seinen Vater getödtet hatte, obgleich er die That im Groll über das seiner Mutter und ihm selber zugefügte Unrecht nicht ahnden wollte. War es also ein Wunder, daß er mich von sich stieß und ihn die Entdeckung rasend machte, daß ich seine legitime Schwester sei? Jetzt aber sind wir nur Halbgeschwisterkinder, und die Natur hat uns nicht irre geführt.

Während des ganzen Abends war mein Onkel in herrlichster Stimmung, und ich möchte behaupten, daß Lily und ich ihm darin Nichts nachgaben. Er trieb allerlei knabenhafte Neckereien mit uns, die wir durch Mädchenpossen erwiderten, bis Lily's fröhliches Lachen den halben Korridor entlang schallte. Ich hatte sie mit besonderer Sorgfalt geputzt, und sie sah lieblicher aus, denn je. Es war aber Alles zu plötzlich gekommen und viel zu schön, um anzudauern. Mein Onkel schien wirklich ganz ausgelassen und glücklicher, als die Natur es uns ungestraft gestattet. Plötzlich versiegte die heitere Laune, und sein Gemüth wurde von einer entgegengesetzten Strömung ergriffen. Er ließ sich von seiner schönen Tochter, deren Seele von Musik durchdrungen war, jene sanften korsikanischen Lieder vorspielen, deren Töne Thränen auszuhauchen scheinen, und die sie von der alten Cora gelernt hatte. Er kannte sie sämmtlich, und wie gut er sie kannte, verrieth sein dem Lichte abgewendetes Antlitz. Die Tiefe harmonischer Traurigkeit, der Anschlag irgend einer Saite, die, von ihrer eigenen Existenz nichts wissend, plötzlich hervortritt, um dann gekannt und geschätzt zu werden, und, mehr als alles Andere, die zitternd ausgestreckten Fühlfäden der Seele – dies sind die Beweise von Naturwahrheit in der Musik oder der Poesie.

Darauf bat er mich, einige der sanften, einfachen walisischen Melodieen zu spielen, die, wie er erklärte, und ich selber schon erkannt hatte, von demselben Geiste geboren, obgleich nicht so scharf ausgebildet sind, wie die korsischen Romanzen.

Schließlich erzählte er uns manche rührende Geschichte von seiner Lily, Geschichten, die ein Mann zaudern würde, Denen zu erzählen, in deren Gemeinschaft er zu leben gedenkt; wie sie geliebt worden und wie sie alle Menschen zu lieben schien, welch hübsche Antworten sie gegeben, wenn ihre Schönheit gepriesen wurde, wie ihre Liebe sich mehr als in Worten und Küssen in liebenden Handlungen gezeigt, welche liebenswürdige Selbstverleugnung sie besessen und wie harmlos ihr Gemüth gewesen.

An jenem denkwürdigen Abend blieben wir zwei Stunden länger zusammen als er sonst aufzubleiben pflegte. Die Trennung schien ihm so schwer zu werden, daß ich es nicht über das Herz bringen konnte, ihn anzutreiben. Eine Mittheilung machte er mir noch, die ich mit Freude vernahm.

»Liebe Clara, ich habe mir die Freiheit genommen, heute Nachmittag an Annie Franks zu schreiben und sie zu bitten, morgen zurückzukehren, wodurch sie mich persönlich verpflichten würde.«

Dies überraschte mich eigentlich; doch antwortete ich mit Wärme und der Wahrheit gemäß:

»Theurer Onkel, Du weißt, daß ich sie liebe; und die wenigen Menschen, welche ich wirklich liebe, kann ich niemals zu viel um mich haben.«

Darauf nahm er, da ich um sechs Uhr am nächsten Morgen reisen mußte, Abschied von mir und zwar mit einer Feierlichkeit, die mir gar nicht am Platze erschien. Er zog mein junges Antlitz nahe an das seine, das so viele Spuren von Sorgen und Krankheit zeigte, sah mir in die Augen, als wollte er mich an irgend Etwas erinnern, hielt mich dann zitternd umarmt und küßte mich lange und innig.

»Der Himmel segne Dich, mein Liebling, für Alles, was Du für mich und die Meinigen gethan hast.«

»Die Meinigen solltest Du sagen, Onkel. Ich betrachte sie jetzt als mein eigen.«

Seine Tochter führte ihn fort, die weißen Arme um ihn schlingend; denn jetzt schlief sie in der Kammer neben seinem Zimmer, die ich so lange benutzt hatte.



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