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26.

Man flaggt in der Stadt und im Hafen.

Zwischen zwei und drei Uhr trabten zwei arme Teufel von Zeitungsausträgern nach verschiedenen Richtungen mit dem »Zuschauer« durch die Stadt. Sie warfen ihn in die Hausflure, schoben ihn durch die Fenster in die Zimmer, steckten ihn unter die Türen. Weiter, immer weiter! ...

Die Kirche war schon längst voll Menschen; auch der Markt war bereits mit einer neugierigen Menge angefüllt.

Als die wackern Hochzeitsgäste wieder nach Hause kamen und den »Zuschauer« fanden, lasen sie folgendes: »In dem Augenblick, da diese Nummer in die Presse geht, bietet unsere Stadt einen sehr feierlichen Anblick: Herr Marineleutnant Nils Fürst und Fräulein Emilie Engel, beide den ältesten und geachtetsten Familien der Stadt angehörend, werden heute um vier Uhr in der Kreuzkirche von unserm allverehrten Herrn Propst getraut. Vom Lande, wo sämtliche Familien, denen es die Mittel gestatten, die Sommermonate zubringen, ist alles zur Feier herbeigeströmt. Auch eine ansehnliche Menge Fremde füllt unsere Straßen. Man erzählt sich, daß Herr Konsul Engel durch den ersten Oberkammerherrn am norwegischen Hofe die Glückwünsche Seiner Majestät des Königs empfangen habe. Herr Konsul Engel hat aus Anlaß dieses erfreulichen Familienereignisses dem ›Verein für unterstützungsbedürftige Wöchnerinnen‹ die Summe von 10 000 Kronen übersandt. Sämtliche Arme der Stadt werden heute auf Kosten des Herrn Konsuls gespeist. Ferner hören wir, daß er 2000 Kronen behufs Reparatur der ausgezeichneten Orgel unserer Kreuzkirche zur Verfügung gestellt hat.

Man flaggt in der Stadt und im Hafen.«

*

Um die Mittagszeit hatte eine frische Brise die glühendheißen Straßen ein wenig abgekühlt; jetzt bewegte nur hin und wieder ein launenhafter Luftzug die Fahnen, und jedesmal, wenn sie sich erhoben, schwebte ein reicher Farbenflor über der ganzen Stadt und dem Hafen; mehrere Schiffe hatten sich von den Mastspitzen bis zum Deck mit Flaggen geschmückt. Eine Barke – die am reichsten geschmückte – ist ein wenig weiter hinaus in die See gegangen, um von dem Augenblick an, wo das junge Paar getraut wird, bis zu dem Moment, wo der Brautwagen vor dem Hause des Konsuls anhält, Freudenschüsse abzufeuern; und dann soll während des Hochzeitsmahls salutiert werden.

Über Berg und See und Stadt lacht ein herrlicher Himmel; und wie traulich die Stadt sich ausnimmt in dem lachenden Sonnenschein! Und überall auf den Straßen ein festtägliches Treiben, denn um drei Uhr waren fast alle Arbeiten eingestellt worden.

Vom »Berge« sah man ganze Scharen von Knaben und Mädchen nach dem Markt hinabziehen; etwas später folgten alte und junge Frauen.

Auf der am Kirchhof vorbeiführenden Straße wurde ein langer Streifen von Fußgängern sichtbar. Es waren Bewohner aus der nächsten Umgebung der Stadt, und zwischen den Inseln strebte ein kleines Dampfboot plätschernd und prustend dem Hafen zu; denn es hatte sich verspätet. Es kommt mit Passagieren aus der nächsten Stadt und hat ein Hornistenquartett an Bord.

Der »Berg« nahm sich für den, welcher sich von der Meeresseite der Stadt näherte, wie ein im Sonnenschein aus der See auftauchender Ameisenhaufen aus. Aber das Bild nahm eine andere Gestalt an, wenn man näherkam; dann glichen die kleinen Häuser auf dem »Berge« zum Trocknen aufgehängten Strümpfen und Linnenzeug.

Von Zeit zu Zeit wandten die Leute die Köpfe hinauf nach der Schule; das mächtige Gebäude funkelte und strahlte in der Sonne; aber keine Fahne wehte auf dem Turm.

Noch um halb vier ging Konsul Engel mit der Zigarre im Munde auf den Boden, um zu sehen, ob noch keine Fahne zum Vorschein gekommen. Milla wollte gerade die Treppe hinuntergehen. Als sie ihrem Vater begegnete, errötete sie.

»Was machst du hier oben, mein Kind?«

»Ich suche –«

Sie glitt vorbei, ohne zu sagen, was sie suchte.

Noch immer keine Fahne auf dem Turm! ...

Der Konsul dachte: Wäre es auch nur eine Fahne ohne das Unionszeichen gewesen, heute hätte sie sich doch sehr gut ausgenommen.

Es hatte sich das Gerücht verbreitet, Thora Holm befinde sich mit ihrem Kinde auf dem Gute. Es war ihm, als hinge dort ein Felsen auf dem Berge, bereit auf ihn zu stürzen, ihn zu zermalmen ... Das hatte ihm all die Gaben abgepreßt ... Hätte nur irgend jemand um mehr gebeten, er würde gern noch weit mehr gegeben haben. Er hatte zwei schlaflose Nächte gehabt. War es wahr, daß Thomas Rendalen dem alten Propst einen Brief geschrieben, worin er ihm, wenn auch mit aller Ehrerbietigkeit, aber doch auf das bestimmteste erklärt hatte, daß, wenn dies der »Friede« sei, es sich wieder einmal bewahrheite, daß der Friede dem Teufel, der Kampf aber Gott gehöre.

Was hatten sie im Sinn? Einen Skandal? ... Diese Frage legte man sich unaufhörlich in der ganzen Stadt vor.

Daß Thora gerade jetzt mit ihrem Kinde gekommen war – das mußte einen besonderen Zweck haben.

Das eine stand fest: Thora Holm wagt es sich zu zeigen, und Thomas Rendalen und seine Mutter und all ihre Freunde und Freundinnen stehen unwandelbar auf ihrer Seite.

Bisher hatte man immer nur gelacht über Nils Fürsts Junggesellenabenteuer. Jetzt verstummte das Lachen. Die Geschichten konnten Thoras Anwesenheit nicht vertragen; da nahmen sie eine andere, oft häßliche Gestalt an.

Und dann das Leben des Schwiegervaters! Auch das ward wieder hervorgezogen. Zwar keine kühnen Verführungen, keine unerwarteten aufsehenerregenden Eroberungen, und keine Skandalgeschichten – Gott behüte! Aber man kannte gewisse stille Verhältnisse, von denen oft mehrere gleichzeitig gespielt hatten. Auch von kostbaren Geschenken und kleinen Leibrenten wußte man zu erzählen. Man kannte Kinder, die für die seinen galten; einige davon hatten eine unverschämte Ähnlichkeit mit ihm. Jetzt kam das alles wieder zum Vorschein; selbst mehr als zwanzigjährige »Unvorsichtigkeiten« tauchten wieder auf. Ein solches Provinzialstädtchen hat ein ärgerlich treues Gedächtnis! ... Noch vor kurzem hatten die Leute darüber gejubelt, daß das Vermächtnis der Frau Engel ein Gegenvermächtnis hervorgerufen hatte, so daß die »Unanständigkeit« da oben in der Schule jetzt ein Ende nehmen müsse. An dem heutigen Tage erinnerte man sich wieder des schönen Tages, da Frau Engel begraben wurde. Was ihre Tochter heute vorhatte, war doch im Grunde eine Versündigung an dem Andenken der Mutter.

Sie selbst war die einzige, welche nicht wußte, daß Thora in der Stadt war. Fürst war am Sonnabend vormittag gekommen, und da wurde es ihm sofort mitgeteilt. Er sowohl wie sein Vater meinten, Thora sei gekommen, um sich an Milla heranzudrängen. Es galt daher unter allen Umständen zu verhüten, daß weder Thora selbst noch eine Botschaft, noch ein Brief oder irgendein Zeichen von ihr zu Milla gelangte. Ihre ganze Umgebung war instruiert. Zudem bestand diese ausschließlich aus Mitgliedern der beiden Familien. Die Brautjungfern fanden sich am Sonntag ein; auch sie waren Verwandte und mit Ausnahme einer einzigen alle von außerhalb. Milla wußte weiter nichts, als daß die Gegenpartei geschlagen und vernichtet sei; man sehne sich auf beiden Seiten nach Ruhe. Ihr Vater hatte den festen Willen, der Schule zu helfen; sie konnte ja doch viel Gutes wirken, wenn einige ihrer Phantastereien fallen gelassen wurden. Und für dieses Versprechen war Milla dem Vater sehr dankbar. Du lieber Gott, warum nicht gut sein gegen einander? Das wollen wir ja auch, versicherte Fürst. Rendalen hat Frieden geschlossen; der alte Propst Green ist ja ein lebender Beweis dafür. – Es ist wahr, der alte Propst ist ein Beweis dafür, wiederholte Milla, wenn ihr Zweifel kamen.

Am Sonntag war sie in der Kirche und hörte ihn predigen. Das tat ihr so wohl. Und am Nachmittag machte sie ihm mit ihrem Vater einen Besuch. Er ermahnte sie zur Geduld; wir schwachen Menschen vermöchten die Welt nicht zu ändern, aber wir könnten ihr ein gutes Beispiel geben; das habe ihre Mutter getan ... Da kam Milla in eine so gerührte Stimmung: Ach, wenn doch alle Menschen gut wären!

Niemals war ihr Vater so lieb und freundlich gegen sie gewesen wie jetzt. Seine unerschöpfliche Güte erinnerte an die Zeit, da ihre selige Mutter krank war. Und dann die edelmütige Weise, in welcher er seinen Wohltätigkeitssinn bewährt hatte ... In einer schöneren, zarteren Weise hätte er ihr Andenken nicht ehren können ...

Ihr Bräutigam war immer heiter, und zwar in einer so überlegen vornehmen Weise! Er erzählte vom Hofe, übrigens in schrecklich boshafter Art; wie angenehm und geistvoll sie waren, diese Manieren ihres Bräutigams! Milla fühlte sich wirklich glücklich – das heißt mit einem kleinen Beigeschmack von ungestilltem Sehnen und ein wenig Unruhe. Doch war die Unruhe stark genug, daß sie sich im letzten Augenblick gedrungen fühlte, hinauf auf den Boden zu gehen, um sich zu überzeugen, ob auf dem Turm keine Fahne wehe. Nein! ... Ob vielleicht niemand zu Hause war? Das wäre ja auch für beide Teile das beste. Sie konnten sich ja ein andermal wiedersehen ...

Jetzt das Brautkleid!

Wenn Thora das gesehen hätte! ... Die arme Thora! ... Aber so geht's, wenn man nicht vorsichtig genug ist. Milla bat das Kammermädchen, doch ja darauf zu achten, daß die Falten recht harmonisch sich ausnahmen.

In diesem Augenblick kam Frau Wingard mit dem Brautkranz ...

Alle, welche von den nächsten Straßen her nach dem Markt kamen, bemerkten etwas Rotes an der offenen Eichentür der Kirche. Es war das rote Hemd eines langen Matrosen. Der Kirchendiener hatte ihn fortschaffen wollen. Unmöglich. Ringsherum standen Damen, welche gern den besten Platz eingenommen hätten. Er hatte ihnen geantwortet, er habe ebensoviel Recht dazustehen, wie jeder andere. Und das war freilich unbestreitbar. Er war nicht aus der Stadt, niemand kannte ihn. Aus einem bestimmten Abzeichen ergab sich, daß er auf einem Kriegsschiff gewesen. Er war ein riesenstarker Bursch.

Im übrigen standen auf der Treppe und in deren unmittelbarer Nähe nur Damen, alte, ältere und junge; alle, welche nicht in die Kirche hatten kommen können. So oft die Tür geöffnet wurde und man in die Kirche hineinblicken konnte, bemerkte man da drinnen bis hinauf zum Chor nur Hüte mit Blumen, Federn und Schleiern. Ein einzelner unbedeckter Mannskopf in einer Stuhlreihe nahm sich aus wie eine vereinzelte überreife Stachelbeere im Spätherbst. Hätte der selige Herr Max von dem Chor, unter welchem er ruhte, aufstehen können, es wäre ihm ein wohltuender Anblick gewesen für seine frauenfreundlichen Augen, namentlich da die weibliche Jugend die ersten Reihen einnahm. Sie war besonders glücklich gewesen in dem Kampf um die Plätze.

Auf dem Markt und der Treppe der Kirche gewahrte man fast ausschließlich Sonnenschirme – ein vielfarbiges bewegliches Schilddach, unter welchem allerlei pikante Geschichten erzählt wurden. Die Gabe für die bedürftigen Wöchnerinnen schien allen ein sehr glücklicher Einfall. Daß Engel, der so taktvoll war ... Nun, das kam natürlich daher, weil Frau Wingard die Vorsteherin des Vereins war; sie hatte ihn dazu veranlaßt, die Schelmin! Auf der Treppe standen auch die beiden armen Schwestern, welche den Klub und das Hotel gehabt, bis sie beide hatten abgeben müssen – an Engels Haushälterin. Sie hatten gar keine Veranlassung, Engel oder seine Gäste zu schonen.

Etwas weiter zurück trat der Sonnenschirm nur sporadisch auf; da herrschten das Kopftuch und die barhäuptige Jugend. Und die Feierlichkeit imponierte so wenig wie die Autorität des Bürgermeisters, der mit seiner Gattin unter dem Arm um ein Viertel vor vier Uhr sich hindurchdrängte, um sich zu den geladenen Gästen zu verfügen. Hier wurden sie mit fröhlichen Blicken begrüßt, man betrachtete sie fast als Kameraden. Die Stadt war nicht wiederzuerkennen. Als zwei Knaben auf den Schornstein eines der der Kirche gegenüberliegenden Häuser kletterten, wurden sie mit lautem Beifallklatschen und Zurufen begrüßt. Und das gerade in dem Augenblick, als der Bürgermeister vorüberkam. Mitten unter einer Anzahl Hochzeitsgäste und fast unmittelbar hinter dem Bürgermeister tauchte der Organist auf, und zwar vollständig betrunken. Er war ein langer junger Mensch mit blondem Haar. Er stammte aus Schwaben und war vor vier Jahren auf einer Konzertreise nach der Stadt verschlagen worden, wo er sich festgesetzt hatte. Der Organist hatte gerade das Zeitliche gesegnet, und er spielte die Orgel ausgezeichnet; zudem hatte die Stadt ja auch ein stark besuchtes Seebad.

Ein phantastischer, echt musikalischer Mensch, der an den Wochentagen allen zur Zielscheibe ihrer Witze diente und mehr zu tun hatte als er leisten konnte, der aber bei besonders festlichen Gelegenheiten, das heißt wenn »Konstantinopel erobert« war, unterschiedliche Glas über den Durst trank. Das geschah nur selten, aber dafür leistete er dann auch, was nur in seinen Kräften stand.

Heut hatte er den sehr glücklichen Einfall gehabt, fröhlich zu Konsul Engel zu gehen und ihn um das Geld für die Reparatur der Orgel zu bitten. Und das bekam er sofort in Gestalt einer Anweisung! Also war Konstantinopel wieder einmal erobert, und die Champagnerpfropfen knallten. Der erste beste konnte mittrinken. Selig und mit großen Gestikulationen kam er daher. Alle lachten, und er selbst stimmte fröhlich ein in dieses Lachen. Unmittelbar hinter dem Bürgermeister und seiner Frau trabte er dahin! Und so steif, so steif schritt das bürgermeisterliche Ehepaar, als hätte der Organist ihm Zügel angelegt und führe jetzt mit ihm zur Kirche.

Großer Lärm entstand, als ein Wagen sich einen Weg bahnen wollte; bisher waren alle zu Fuß gekommen. Für Wagen ist hier kein Platz, antwortete man, und versperrte den Weg, so daß die Polizei zu Hilfe kommen mußte.

In dem Wagen saß eine hübsche pikante Dame von unbestimmtem Alter neben einem etwas feisten Herrn mit ausgezeichnet geformten Kopf und von vornehmer Haltung. Der Dame gegenüber saß ein ältlicher Herr mit rotem Gesicht, großem Militärschnurrbart und einer Menge Orden. Während der ganzen Zeit redete er und tat, als säßen die drei in einem verschlossenen Zimmer, wo niemand sie sehen könnte.

Sie waren nicht aus der Stadt; niemand erkannte sie eher, als bis sie ausgestiegen waren und der Mann mit den Orden der Dame den Arm reichte. Da erzählten die Hotelwirtinnen, er sei ein Generalkonsul aus Christiania, die Dame an seinem Arme wäre nicht seine Frau, sondern die des neben ihm gehenden Herrn. Das war Konsul Garman von der Firma Garman und Worse. Unmittelbar hinter ihnen gingen zwei andere Fremde, die Konsuln Bernick und Ries. Allbekannte Gestalten aus der neuesten norwegischen Literatur. Siehe Kiellands Roman »Garmand und Worse«, Henrik Ibsens »Stützen der Gesellschaft« und Björnsons Schauspiel »Das neue System«. Der erstere begab sich zu einem Begräbnis mit dem Stock in der Hand, der andere zu einem Ball mit seinem Olafsorden an der Brust. Dann folgten noch verschiedene Matadore – mit und ohne Frau – Holz-, Eis- und Heringsmillionäre.

In die schwarze Einförmigkeit ihrer Erscheinung brachte etwas Abwechslung der Amtmann in großer Uniform und ohne Frau, der mit einem alten, von der Gicht geplagten General, einem Verwandten der Familie Fürst, daherkam. Dann durcheinander Beamte und Kaufleute, die meisten mit ihren Frauen. Sie hingen an den Armen ihrer Männer wie vollgepackte, sehr kostbare Körbe, ohne welche der Mann sich nicht gut öffentlich zeigen konnte.

Das vollständigste Schweigen breitete sich von dem untersten Ende des Marktes her aus wie ein langsamer Ölstrom über eine aufgeregte See. Es war der Bräutigam, der dort unten in Begleitung seines Schwagers, des Konsuls Wingard, ausstieg; aus einem zweiten Wagen stiegen ein paar Marineoffiziere und zwei Zivilpersonen; der eine von ihnen war der französische Dösen; diese vier schlossen sich dem Bräutigam und seinem Schwager an.

All die ausgezeichneten Manöver, infolge deren der Marineleutnant heut hier durch die Menge nach der Kreuzkirche schreiten konnte, bewundert oder beneidet oder verabscheut – er hatte sie selbst angeordnet und ausgeführt; insofern gebührte ihm die Ehre eines Triumphators. Allein er schritt nicht wie ein Triumphator durch die Menge; das sah jeder auf den ersten Blick.

Er befand sich nämlich in der tödlichsten Angst. Thora war nicht zum Vorschein gekommen, hatte weder eine Nachricht noch einen Brief geschickt; weder sie noch irgendeine ihrer Freundinnen hatte sich dem Hause des Konsuls Engel auch nur genähert. Also nicht, um Milla zu überreden oder zu erschrecken, war sie heimgekehrt. Warum war sie denn gekommen? Was hatte Thomas Rendalen mit seiner Drohung im Sinn?

Die Gefahr lag auf dem Wege bis zur Kirche. Da drinnen schützte sie die Heiligkeit des Orts und der ehrwürdige Priester. Aber hier –! Seine Augen suchten die Richtung nach der Schule ... Es war das eigentlich nur ein Versehen; denn nicht dort, nur hier konnten sie oder andere vor ihm auftauchen! War sie ja doch nicht die einzige, welche er fürchtete.

Seine halbgeschlossenen Augen spähten, sein wetterbraunes Gesicht war so katzenartig vorsichtig geworden; jeder Schritt konnte ja Unglück bringen. Galt es nicht ihm, so erwartete es diejenige, welche nachfolgte. Überall funkelnde, oft sehr scharfe Augen! Er konnte weit und nach beiden Seiten um sich blicken. Aber nirgends Augen, die er zu fürchten hatte! ...

Er hatte gerade den Fuß auf die erste Treppenstufe gestellt, als der lange Matrose einen Schritt vorwärts tat:

»Ich soll schön grüßen von Anne-Marie!«

Die zunächst Stehenden hörten es, die ferner Stehenden sahen die Bewegung: »Sagte er etwas? Was sagte er?« ... Dann allgemeines Zischen, das sich bis zu den ganz abseits Stehenden fortpflanzte.

Fürst blieb stehen. Seine Augen verschwanden gleichsam, ganz wie wenn ihn ein feiner Regen ins Gesicht getroffen hätte. Die behandschuhte Hand griff nach dem Taschentuch, infolgedessen sich ein feines Aroma um ihn verbreitete. Er schneuzte sich – und ging weiter. Sein Gefolge hielt sich dicht hinter ihm.

Da im Innern der Kirche war es im ersten Augenblick, als er aus dem sonnenhellen Tag hineintrat, etwas dunkel; aber in der Dunkelheit überall Augen, Frauenaugen!

Hier saßen Thoras Freundinnen! Er erkannte sie alle; er musterte sie, eine nach der anderen. Sie saßen in den ersten Reihen, gespannt, unruhig, drohend. Es mußte doch etwas in der Luft liegen! In demselben Augenblick begannen die großen Kirchenglocken zu läuten; jetzt also wurde der Wagen der Braut am Ende des Marktes sichtbar. Was wird jetzt geschehen?

Nora, Tinka und Anna Rogne saßen unmittelbar zu seiner Linken, als er zum Chor hinaufschritt. Unwillkürlich blickten seine Augen nach der entgegengesetzten Seite; dort stand der erste Stuhl leer. Im Chor erhob man sich beim Erscheinen des Bräutigams.

Draußen entstand eine Bewegung. Denn es näherten sich nicht bloß der Wagen der Braut, an welchen die Wagen der Brautjungfern und der Frau Gröndal sich anschlossen; es wollte auch der Kutscher in der grauen Livree sich nach der Kirche vordrängen, und das ging nicht. Die Zunächststehenden drängten zurück, um Platz zu schaffen, aber die hinter ihnen wollten sich nicht drängen lassen und setzten sich zur Wehr, so daß manche gegen die Wagenfenster fielen. Schreien, zornige Worte, Kommandorufe und Schrecken da in den Wagen. Konsul Engel steckte den Kopf heraus; aber man hörte nicht, was er sagte. Da stieg er aus. Die Polizei war gleich zur Hand und machte dem Geldfürsten Platz, während die Braut ihren Wagen verließ; unmittelbar darauf auch die Brautjungfern. Sie ordneten sich und schritten weiter. Überall wich man zurück.

Mit dem Myrtenkranz auf dem gelblichroten Haar sah die Braut aus wie die untadelhafte Arbeit eines englischen Akademikers. Die Gesichtszüge regelmäßig und echt englisch; die Farbe zart und sehr weiß; die Schulterlinien etwas gesenkt; ein außerordentlich schöner Arm; die ganze Figur die althergebrachte eines schamhaften Jungfräuleins.

Sie ging etwas vornübergebeugt, ohne irgend jemand anzusehen. Die Hand ruhte leicht auf dem Arm des Vaters; etwas unterhalb seines Olafsordens gewahrte man ihren Diamantschmuck; doch war dieser nur für solche sichtbar, welche vor ihnen oder höher standen. Eine altertümliche Agraffe, ein kostbares Kleinod, das man von ihrer Mutter her, welche es gerne trug, noch kannte, hielt ein Bukett an ihrer Brust fest. Ein Windstoß hob ihren Schleier, als sie die Treppe hinanstieg. Er schlug nach dem Gesicht des Matrosen, traf es aber nicht. Ein Strom von Aroma wurde vom Winde weit über den Markt getragen.

Wie fühlte Konsul Engel sich erleichtert, als er in der Tür stand! Das war das schwerste Stück Weges, das er je in seinem Leben zurückgelegt. Und doch hatte er sich nicht beeilt. Bescheiden, sachte, milde und fromm war er vorwärts geschritten; seine Augen hielt er auf einen einzigen Punkt gerichtet – war dies das Nadelöhr, durch welches er hindurch mußte? Sein regelmäßiges, hübsches Gesicht nahm sich aus, als wäre es niemals von etwas berührt worden, das im Widerspruch stand mit ehrbaren Sitten. Ja, das Leben hatte es ihm nicht einmal zum Bewußtsein gebracht, was das eigentlich wäre. Sein Haus war stets ein Haus gewesen der Gottesfurcht und frommen Sitte; durch drei Generationen hindurch waren immer Vermächtnisse gestiftet worden. Welche Gefahr konnte denn unter solchen Umständen in der Luft liegen? ... Nun sind wir ja in der Kirche! ... Die Orgel fiel ein mit der ganzen Spielwut eines betrunkenen Schwaben; ihre vollen Akkorde strömten Engel gleichsam in die Seele und erfüllten ihn mit dem ihm eigenen Selbstbewußtsein. Es gibt kein größeres Glück als das einer Dutzendnatur, welche sich in Gefahr wähnte – und dann entdeckt, daß gar keine Gefahr vorhanden war! Sie jubelt nicht, diese Glücksempfindung – still verteilt sie sich in alle Organe als ein satter, edler Selbstgenuß ...

Er hob sein allerschönstes Antlitz hinauf zur Kanzel, während er sich gewissermaßen von all den Augen ringsum getragen fühlte. Er ahnte etwas wie Neid, und der kitzelte so angenehm. Welche Zukunft führte er aber auch da am Arm.

Da erbebte die Hand der Braut. Hastig wandten seine Augen sich von der Kanzel ab. Sie war totenbleich; ihre Augen blickten starr, und es ward ihr schwer, sich aufrechtzuerhalten ... Was war das? Nora, Tinka, Anna Rogne und noch mehrere andere saßen da vor ihr, da, wo sie vorbeimußte ... Nun ja, war denn das so gefährlich?

Entrüstung und eine Mischung von Schadenfreude und Schrecken lagen auf allen Gesichtern – auf allen, wohin er auch blickte ... und das wirkte ansteckend. Was war das? Unwillkürlich suchten seine Augen den Chor. Hätten sie nur dort hindringen können. Dort mußte es ja ruhig sein. Aber alle auf dem Chor hatten sich erhoben. Erschreckt standen sie da und blickten hinunter, nicht nach der Seite, nach der entgegengesetzten. Und seine Tochter stieß sogar einen jähen Schrei aus und trat, ihn mit sich ziehend, ein wenig zurück ...

Dort in dem äußersten Kirchenstuhl, rechts von ihnen, war gerade jetzt – also von der Sakristei, also durch den Chor! – Pastor Wangen getreten; und ihm folgten Thora Holm mit irgendeinem Gegenstand auf dem Arm ... und dann Fräulein Hall und darauf Thomas Rendalen.

Thora hatte einen doppelten schwarzen Schleier vor dem Antlitz und über dem, was sie auf dem Arme trug; und der war so fest geheftet, daß sie erst jetzt mit Fräulein Halls Hilfe sich etwas frei machte und sich mit offenem Antlitz und ihrem Kinde auf dem Arme nach derjenigen hinwandte, welche da hereinkam. Es lag eine unheilverkündende Spannung in der Luft, und die Orgeltöne steigerten sie bis zu fieberhafter Aufregung.

Dann wurde Milla weitergeschleppt. Kreidebleich gelangte sie auf den Chor. Ein Knistern und Zischeln und Rascheln, ein Durcheinander von Händen und Köpfen und Buketts und Augen, so daß Milla weder mit sich selbst noch mit ihrem Stuhl, noch mit ihrem Bukett, noch mit ihrem Taschentuch fertig werden konnte. Endlich kamen ihr alle mit Kölnischem Wasser zu Hilfe. Das letzte war das rote Ungeheuer mit dem großen Militärschnurrbart und den vielen Orden. Als ihr endlich freier wurde und sie aus tiefster Brust aufatmen konnte, – da begann sie zu weinen. Sie zog ihren Schleier herab. Das war ja entsetzlich, was man ihr angetan hatte! Und dann ward sie zornig, o so zornig. Konsul Engel bekam den ersten Blick – und nach alledem, was er hier hatte hinnehmen müssen, wirkte dieser Blick wie der letzte Trunk, der einem das Bewußtsein raubt; als er sich setzte, kam er sich so klein, so ohnmächtig vor ...

Der elegante Marineleutnant saß neben ihm. Bald nahm er den Hut in die rechte, bald in die linke Hand; bald schlug er das rechte Bein über das linke, bald das linke über das rechte. Ihm, ja ihm galt dies alles, und der zukünftige Staatsmann hatte es noch nicht so weit gebracht, daß er stillsitzen konnte, während er moralisch in Stücke gerissen wurde. Anton Dösen, der unmittelbar hinter ihm saß, strich mit seinen weißen Handschuhen die äußersten Spitzen seines blonden Schnurrbarts, bald rechts, bald links, heftig, immer heftiger. Er war unglaublich fleißig. Die Leute in der Kirche sahen diese weißen Handschuhe sich fortwährend unter der Nase hin und her bewegen und meinten, er mache Kunststücke oder gebe jemand ein Zeichen; man konnte nur nicht begreifen, wem. Die Matadore fühlten sich bei dieser beklemmenden Situation höchst unbehaglich. Aber trotzdem mußten sie doch noch einen Blick zurückwerfen nach der mit dem Kinde; sie war so verwünscht hübsch, sie hatte etwas so – so Ausländisches an sich. Und sie drehten und wendeten sich und reckten die Hälse. Sogar Konsul Bernick bekam einen so langen und verdrehten Hals, wie junge Hähne, wenn sie krähen lernen.

Zu diesem Unglück kam noch, daß der Propst auf sich warten ließ; der Küster ging aus und ein, ein und aus mit seinem feierlich albernen Gesicht.

Der Organist arbeitete weiter. Es wollte ihm scheinen, als bliebe der Propst doch etwas lange; er ging deshalb zu einem Kirchenliede über. Das Pompöse hatte er längst verbraucht; er war jetzt zu dem gerade Entgegengesetzten übergesprungen. Es kamen lauter Hirtenflötentöne zum Vorschein. Seine Phantasie wurde unzweifelhaft angeregt von all den Kleinen, welche aus dieser Ehe hervorgehen würden; er streckte gleichsam den Finger nach ihnen aus und sagte in der Quinte »ti-ti-ti!«

Endlich hatte Engel sich so weit erholt, daß er wieder den Unterschied empfand zwischen fein und grob, zwischen wohlerzogen und unerzogen. Für Menschen der letzteren Sorte gab es kein höheres Vergnügen als Skandal. Aber dieser Skandal war ganz neu, ganz unerhört. Etwas so Wahnsinniges konnte nur von einem »Kurt« ausgeheckt und in Szene gesetzt werden.

Sein Taschentuch war schon naß, seine Handschuhe begannen grau zu werden. Und während er sich fortwährend trocknete und mit Aroma versorgte, rückte er verstohlen und ängstlich nach seiner Tochter. Sie haßte ihn! Er betete zu Gott – ja, Konsul Emil Engel betete zu Gott! – aus innerstem Herzen flehte er Gott an, daß doch seine Sünden nicht über dieses arme, unschuldige Kind kommen möchten! Er hatte es verkauft, verhandelt, aber in der besten Absicht von der Welt; niemand wußte das ja besser als Gott selbst! Aber wer wäre auch darauf gefaßt gewesen, daß etwas so Wahnsinniges unternommen werden könnte, als diese Schändung des Heiligtums! Für gewöhnlich fluchte Konsul Engel nicht, dazu war er ein zu feiner Mann; aber unmittelbar nach seinem Gebet zu Gott fluchte er aus Herzensgrund und aus aller Kraft: »Oh, hol' doch der Satan das ganze Gesindel!«

Das nasse Taschentuch mußte wieder zum Vorschein, und gleichzeitig dachte Milla an seiner Seite: »Soll ich aufstehen und gehen?«

Konsul Engel las es in ihren Augen, sah es ihren unruhigen Bewegungen an. Auch Fürst bemerkte es. Beide fühlten es wie tausend elektrische Schläge, aber sie konnten doch nicht die letzte Hoffnung fahren lassen, daß Milla zu wohlerzogen sei, um den Skandal noch zu vergrößern. Der erstere fühlte, daß, wenn sie auch jetzt bliebe, er von nun an ein beschimpfter Mann sei ... Der andere fühlte, daß, wenn sie nur mit ihm zum Altar ginge, er schon Karriere machen würde!

Aber der Pastor Green! Er kam immer noch nicht! Jetzt richteten aller Gedanken sich auf ihn; die Situation ward entsetzlich peinlich! Aller Augen starrten nach der Tür der Sakristei. War er krank geworden? Oder stellte er sich krank, um das Paar nicht trauen zu müssen? Wo war denn der Hilfsprediger? Heraus mit dem Hilfsprediger! Warum stand nicht Karl Wangen auf?

Die Frauen auf dem Chor, welche sich von dem ersten Schreck noch nicht erholt hatten – viele von ihnen hatten sich mit der Hand an dem Stuhl festhalten müssen, damit das Zittern aufhörte – sie wurden ganz krank durch diese neue Spannung; mehrere von ihnen begannen zu weinen. Ja, dachte Milla, es ist sündhaft von mir, schrecklich sündhaft! O Gott, wenn meine Mutter noch lebte! Und jetzt begann sie aus Herzensgrund zu weinen. Alle Menschen hatten sich gegen sie, die doch nichts getan, verschworen. Sollte nun auch der alte Pastor Green sie so grausam im Stich lassen? Es war ihr, als stände sie am Schandpfahl! – all diesen häßlichen, o so häßlichen Menschen zur Freude!

Und nun begann sie zu grübeln, und das Gefühl der Verlassenheit packte sie mit aller Macht, so daß, als Pastor Green endlich kam, sie das wie eine Erlösung empfand.

Aber hatte sie nicht einmal einen Augenblick so weit aus sich herausgehen können, daß sie nachzudenken vermochte, warum all dieses geschah? – Nun, diejenigen, welche da auf dem Chor saßen, dachten darüber nach. Nicht bloß die, welche zu den Eingeweihten gehörten, nein, sämtliche Frauen empfanden das Empörende, daß Milla nach alledem, was sich ihr bis jetzt in den Weg gestellt, doch noch weitergehen wollte! War sie auch bis hierher geschleppt worden, warum erhob sie sich jetzt nicht? Warum riß sie sich nicht von ihnen los? Von Minute zu Minute, von Sekunde zu Sekunde erwarteten sie das von ihr. Aber Milla blieb sitzen! War das wirklich möglich nach einer so mächtigen Mahnung an ihr Gewissen?

Jede gute Frau, welche tadellos und frei dasteht, nimmt unwillkürlich Partei für den Schwachen, für den, welcher Unrecht leidet ... Die Gemüter wurden immer erregter; die Empörung immer größer. Ist es möglich, daß sie mit einem solchen Schurken vor den Altar treten will? Dann Schmach und Schande über sie!

Alle starrten nach dem Altar. Kam denn der alte Pastor noch nicht? Im letzten Augenblick noch zauderte er, ihr den Segen der Kirche zu erteilen! Das hätte Karl Wangen niemals getan! Da saß er neben derjenigen, welche er, der Bräutigam, verführt und betrogen hatte! Wie mancher dankbare Blick richtete sich auf sein großes Gesicht! ...

Jetzt bemerkte man auf dem Chor, daß endlich der alte Green erschien. Also doch noch! – – Langsam und krank kam er, ja, er war sehr krank. Er sähe ganz aus wie ein kirchliches Kompromiß, wurde nicht weit von ihm geflüstert.

Kaum stand er vor dem Altar, da wurde das Kirchenlied angestimmt. Die ganze Versammlung auf dem Chor sang mit. In ihrem Eifer, im Gefühl ihrer Erleichterung und Dankbarkeit gegen die Vorsehung sangen alle mit; der Bräutigam, der Schwiegervater, der General und der Generalkonsul, Bernick, Dösen, Ries, die Matadore, der Amtmann – sie sangen von der ersten Braut, welche von Gott persönlich dem Bräutigam zugeführt wurde. Nicht ein einziger von ihnen glaubte daran, aber sie sangen es, sangen mit der Orgel um die Wette. Auch ihre Frauen stimmten mit ein; sie waren so erschreckt, daß sie das Lied in dem Buch nicht fanden, aber sie konnten es so ziemlich auswendig. Diejenige, welche am herzhaftesten das Glück der Ehe pries, war Frau Garman.

Aber außer ihnen und dem Küster sang niemand in der ganzen Kirche. Die Entrüstung wurde so groß, so allgemein, daß manche nicht mehr sitzen konnten. Sie erhoben sich. Die, welche ganz hinten standen, wollten auch sehen und erhoben sich ebenfalls.

Aber vor allen anderen Thora. Was die um sie herum gefühlt hatten und fühlten, war bei aller Heftigkeit doch nur matt gegen das, was sie selbst empfand. Wenn ihr tiefstes Innere aufgewühlt war, so war sie ganz die Tochter ihrer Mutter, und dabei hatten sie die Reise und die Erlebnisse der letzten Tage in eine Spannung versetzt, welche nur ihre kräftige Natur zu ertragen vermochte. Wenn nicht aus anderen Gründen, so doch um Millas selbst willen mußte es verhindert werden, daß sie diesen Schurken heiratete. Dazu war erforderlich, daß sie sich zeigten, sie und ihr Kind. Alles andere mochte wirkungslos bleiben, das aber mußte Milla zwingen, noch im letzten Augenblick zurückzuschrecken. Sie kannte sie! Es kam nur darauf an, ob Thora den Willen und den Mut dazu hatte. Ja, das hatte sie! Denn ihre Freundinnen und Freunde hatten den Willen und den Mut, mit ihr zu gehen. Es handelte sich ja nicht bloß um sie selbst; es handelte sich auch um die Schule, um Milla, um eine große Sache, um das Wohl von Tausenden.

Niemand, am allerwenigsten sie selbst hegte auch nur den leisesten Zweifel, daß dieses Mittel, sich der Braut mit dem Kinde auf dem Arm zu zeigen, wirken würde. Von dem Augenblick an, da Milla da oben auf dem Chor zu weinen begann und dennoch sitzen blieb ... bis zu dem Moment, als der Pastor erschien, steigerte sich Thoras Aufregung und Entrüstung in einem Grade, daß ihre Begleiter ängstlich wurden. Auch in der Bankreihe gegenüber konnte man sie sehen. Alle fühlten, jetzt mußte etwas geschehen, an das weder sie noch Thora selbst dachte, ehe es geschah. Thora war Thora, und ganz richtig – – –

Leutnant Fürst stand, vom Konsul Wingard geleitet, schon vor dem Altar, vorsichtig schritt Engel über den Teppich, um seine Tochter ihm zuzuführen. Sie erhob sich und ließ sich von den Brautjungfern schleppen und den Schleier ordnen – da stürzte Thora nach dem Altar.

Dort blickten jetzt alle auf die Braut, welche ihrem Vater die Hand reichte und sich mit ihm dem Altar zuwendete. Sie sahen Thora nicht kommen. Sie vernahmen hinter sich ein Etwas, wie wenn eine Welle hereinstürzt – und in demselben Augenblick fuhr etwas Schwarzes an ihnen vorbei.

Die Damen schrien auf, die Herren erstarrten. Die am Altar wandten sich um, Konsul Engel taumelte zurück – Thora stand zwischen ihm und seiner Tochter!

»Soll ich das Kind vor dich hinlegen? Willst du auf mein Kind knien?«

»Nein, nein!« rief Milla entsetzt.

Sie wich zurück, und die Hände weit ausgestreckt, floh sie vom Chor – der Schleier flatterte ihr nach.

Alle waren aufgesprungen. Thora war weitergestürmt, hinein in die Sakristei. Sie fühlte, jetzt waren alle ihre Kräfte erschöpft. Fräulein Hall folgte ihr. Aber als Milla den Chor verlassen hatte, wußte sie nicht wohin. Es mußte ihr doch jemand folgen; das sagte ihr ihr weiblicher Takt. Sie wandte sich um und sah sich verzweifelt um. Da ward die Tür der Sakristei geöffnet, und von dort vernahm sie ein herzzerreißendes Weinen und Schluchzen – nur so lange als nötig war, die Tür zu öffnen und zu schließen; das genügte. Auch Milla brach in Weinen aus. Da legte jemand den Arm um ihren Leib und zog sie fort. Es war Nora.

Von diesem Augenblick an war alles vorüber. Aller Zorn war mit einem Male verschwunden, Thomas war sofort an ihrer Seite; dann ging er voraus, ihr den Weg zu bahnen.

Der Organist, welcher den Anfang nicht gesehen hatte, nach dem ersten Verse des Gesanges aber die Rede erwartete, erhob sich, als die Bewegung etwas laut wurde. Was ist das? Er bemerkt die Braut unten in der Kirche, die anderen auf dem Chor, die ganze Versammlung war auf den Beinen ... »Aber das ist ja kurios. Wird denn nichts daraus? Oho, ich habe meine 2000 in der Tasche!« Und er begann wieder die Orgel zu spielen. Man wollte ihn davon abhalten, aber er fragte, was sie denn der Braut getan hätten? Der würde die Musik wohltun.

Und kaum vernahm der Glöckner die Orgeltöne, so dachte er: »So, jetzt sind sie getraut; jetzt kann's losgehen!« – und er begann aus aller Macht zu läuten.

Und kaum hörten die da draußen auf dem Salutschiffe die Glocken läuten, da begannen die Kanonen zu donnern. Es sollte geschossen werden, bis die Braut vor dem Hause aus dem Wagen stieg; und da sie das vom Schiff aus nicht sehen konnten, sondern durch ein Zeichen benachrichtigt werden sollten und man in der Verwirrung vergaß, dies Zeichen zu geben, so schossen sie in einem fort, unaufhörlich, stundenlang ... Schließlich meinten sie selbst, eigentlich sei nun genug geschossen, aber das war ja nicht ihre Sache – solange sie Pulver hatten, konnte immerhin geknallt werden. Denn auch die da unten auf dem Schiffe hatten tapfer getrunken. Und dieses alles erregte eine ungeheure Heiterkeit; die ernste Sache erhielt etwas ungemein Lächerliches – erst unter der Menge, welche unter Orgelton und Glockenklang und Kanonendonner aus der Kirche ging; dann verpflanzte das Lachen, immer kräftiger werdend, sich über den Marktplatz, und vom Markt verbreitete es sich durch die ganze Stadt. Seit Menschengedenken war nicht soviel gelacht worden. Und auch die Leute vom Lande kehrten unter dem Donner der Kanonen lachend heim; und überall, wohin sie kamen, wurde ebenfalls gelacht.

Man flaggte in der Stadt und im Hafen!

Man donnerte und flaggte, flaggte und donnerte – unter unaufhörlichem Lachen!

Die Hochzeitsgäste sahen sich im ersten Augenblick voll Entsetzen an, zersprengt und zerstreut drängten sie sich aus der Kirche. Aber das Lachen da draußen wirkte ansteckend. Als sie nach Hause kamen und den »Zuschauer« lasen, mußten auch sie lachen. Ja, sogar der Bürgermeister lachte! ...

Durch die Allee hinauf nach der Schule gingen Nora und Rendalen. Noch immer donnerten die Kanonen, und sie blickten zurück, um die Flaggen in der Stadt und im Hafen zu betrachten – und lachten. Karl Wangen stürmte mit seinen langen Beinen an ihnen vorbei. Thora befand sich bei Nils Hansen. Es hatte sie eine ungeheure Mattigkeit erfaßt, aber sie war jetzt ruhig und zufrieden.

Er kam nur hinauf wegen eines Wagens – und fort war er.

Nicht weniger als fünfzehn junge Mädchen stürmten an ihnen vorbei zu Frau Rendalen. Eine zweite große Schar folgte. Sie gingen nicht, sie jagten förmlich. Frau Rendalen kam heraus auf die Treppe, um ihren Sohn und Nora zu empfangen, aber Nora und Thomas schienen weniger Eile zu haben; sie blieben jeden Augenblick stehen ... Die Mutter verlangte so sehnsüchtig nach ihnen! Daß man sie auch so ganz und gar vergessen konnte.

Mit einem Male riß sie sich die Brille ab und begann sie zu putzen ... Dann setzte sie sie langsam wieder auf. –

Thomas hielt da unten in der Allee eine Art Vortrag. Er meinte, in seiner ersten Rede habe noch viel Einseitiges und Unklares, vieles von einer fixen Idee gesteckt. Und ähnlich verhalte es sich mit seiner Entwicklung, die noch lange nicht abgeschlossen wäre. Aber »das Leben ist eine Schule,« sagte er, und das gelte in erster Linie vom Schulmeister.

Das heißt, von alledem sagte er jetzt nicht ein Wort. Etwas so Steifes und Kaltes konnte er jetzt nicht gebrauchen. Offen herausgesagt: während man da in der Stadt und im Hafen so unfreiwillig zur Krönung seines Lebenszieles flaggte, ging er da in der Allee herum und freite, und zwar um die mit dem blonden Haar. Sie meinte, sie wäre seiner nicht würdig und jagte sich in einem fort Fliegen von den Augen. Aber es war ihr so vollständig unmöglich, etwas anderes zu wollen, als er –

Und dann einigten sie sich über viele, viele Dinge – namentlich darüber, daß, wenn man etwas unternehme, es noch einmal so gut vonstatten gehe, wenn es von zwei zugleich angefaßt würde. – – –

Fünfzehn Mädchen waren zugleich auf den Turm gestiegen. Heute fühlten sie das Bedürfnis, eine Fahne aufzuhissen, die nicht ein Sinnbild der Verlogenheit war. Und zwar wegen einer Sache, an der ebenfalls nichts Verlogenes haftete. Sie riefen von oben herunter und baten um die Erlaubnis. Da unten stand Thomas Rendalen auf der Treppe; und er lachte zu ihnen hinauf. Nora war von ihm fortgelaufen zu seiner Mutter. Sie hatte sich fest, oh so fest an sie geschmiegt ...

»Ach nein,« rief Thomas zu den Mädchen im Turm hinauf, »nicht heute ... um Millas willen! Aber in einigen Wochen wird von neuem geflaggt – überall, in der Stadt und im Hafen!«


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