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12.

Die Rede.

Vierzehn Jahre sind verflossen ...

An einem Nachmittag im Frühjahr, zu Beginn des Mai, sah man ganze Scharen von Menschen die Allee hinauf nach dem Gute wandern. Der Kandidat Thomas Rendalen sollte das große neue Turnlokal, das auf dem Hofe erbaut worden, mit einem Vortrage einweihen. Bei dieser Gelegenheit wollte er den Plan entwickeln, nach dem die Schule geleitet werden sollte; im August wollte er sie übernehmen.

Man wußte, daß dies schon damals, als er nach Christiania reiste und die Universität besuchte, seine Absicht gewesen; daß er nie einen anderen Lebenszweck gehabt, auch während der Zeit nicht, als er nach beendeten Studien bald an dieser, bald an jener Knaben- und Mädchenschule Unterricht erteilt und eine mehrjährige Reise durch Deutschland, die Schweiz, Frankreich, England und Amerika gemacht hatte, um solche Schulen kennen zu lernen.

Namentlich in dem letzteren Lande hatte er, wie man erzählte, gefunden, was er gesucht. Er selbst hatte darauf aufmerksam gemacht, daß die Rede, die er heute halte, seinen ganzen Bildungsgang entwickeln würde; und das fand man seltsam. Man war neugierig geworden.

Während der vier fünf Monate, die er wieder zu Hause gewesen, hatte er das Turnlokal bauen lassen, weil er den Rittersaal, der bisher als Turnzimmer benutzt worden, von jetzt an für seine chemischen und wissenschaftlichen Versuche brauchte. Man wußte zwar nicht recht, was das für Versuche sein sollten; aber gelegentlich erfuhr man das ja wohl. Der Turm war in ein kleines Observatorium verwandelt worden. Dann waren auf dem Gute zahllose Pakete und Kisten angekommen mit Gegenständen, die er als »Unterrichtsmaterial« bezeichnete, und den Kindern die wunderbarsten Experimente gezeigt worden. Dies alles sowie seine langen Reisen hatten viel Geld gekostet.

Woher war das Geld geschafft worden? Durch einen Zufall hatte Frau Rendalen erfahren, daß die Waldungen einzeln für sich verkauft worden, teils bevor, teils nachdem die Gehöfte, zu denen sie gehörten, in andere Hände gekommen waren. Einige dieser Waldungen waren seinerzeit nur zum vollständigen Niederschlagen verkauft worden; der Grund und Boden gehörte also immer noch zu dem Gute. Da dieser Boden aber lange unbenutzt geblieben, war dies vergessen worden, und die betreffenden Gehöfte hatten den Waldgrund zum Teil an sich genommen. Einige Prozesse, die Frau Rendalen infolgedessen anstrengte, verlor sie, andere dagegen gewann sie, und so war es Thomas und Karl möglich geworden zu studieren und Reisen im Auslande zu machen. Karl hatte Theologie, Thomas Philologie und Naturwissenschaften studiert. Nach einjähriger Abwesenheit war Karl nach Hause zurückgekehrt, während Thomas immer noch im Auslande reiste.

Während der Zeit nach seiner Rückkehr hatte er den Mädchen in den obersten Klassen Vorträge gehalten, namentlich naturwissenschaftliche. So hatte er ihnen die allerneuesten Entdeckungen über die Gehirntätigkeit erklärt, wobei er ihnen große Abbildungen zeigte! Die Kinder ihrerseits erklärten den Erwachsenen, wie diese Entdeckungen gemacht seien, und so bekamen auch diese Lust, sich darüber zu unterrichten. Nicht selten geschah es daher, daß ältere Schwestern und Mütter der Schülerinnen, ja sogar Väter zwischen den jungen Mädchen saßen, um dem jungen Lehrer zuzuhören.

Jetzt ist es uns erklärlich, warum der Andrang zu dem Vortrag so groß ist.

Ein häßlicher rothaariger junger Mann mit einem Gesicht voll Sommersprossen und ziemlich breiter Nase, grauen Augen ohne Brauen und, wie sein Vater, mit einem Munde ohne Lippen – das war das Bild des Vortragenden.

Und doch wurde behauptet, die ganze Mädchenschule schwärme für ihn! Man wollte hören und sehen, was er denn Merkwürdiges an sich habe. Daher kamen je drei Damen auf einen Herrn in der Schar, welche sich die Allee hinaufdrängte.

Von der großen Freitreppe vor dem Haufe führte der Weg um die Fassade und den Flügel zum Hinterhof; es war dies der gewöhnliche Schulweg. Dort im Hofe lag auch das neue Turnlokal. Aber am Eingang dazu, oben auf der Treppe, war eine Wache aufgestellt, und ringsumher stand Kopf an Kopf eine große Menschenmenge, welche zum Teil sehr laut gegen eine solche Behandlung protestierte. Es war Andreas Berg, der darauf zu achten hatte, daß nur »Eltern« hineinkamen. Die Einladung lautete ausdrücklich auf die »Eltern«; allein das war übersehen oder nicht recht verstanden worden, oder man wollte trotzdem einen Versuch machen; daher jetzt das Murren. Natürlich waren es meist jüngere Personen.

Es erregte große Heiterkeit, so oft eine ältere Person, die nicht offiziell als Vater oder Mutter anerkannt war, zurückgewiesen wurde. Anton Dösen – gewöhnlich »der französische Dösen« genannt, weil er mehrere Jahre in Frankreich gewesen und mit französischen Galanteriewaren handelte – präsentierte sich als »Vater« und wollte hinein. Er war aber nie verheiratet gewesen, dieser französische Dösen.

Große Fröhlichkeit! Der unerschütterlich ernste Andreas Berg wies ihn zurück und der französische Dösen fragte, was zum Geier denn nötig sei, um hineinzugelangen? Ob er erst zum Pastor gehen müsse, um sich ein Attest darüber zu holen, daß er Vater sei?

Der französische Dösen hatte nämlich das Vorrecht, laut alle seine Sünden zu bekennen; und die Leute hörten seine Beichte gern an. Sein Laden war trotz seiner lockern Sitten und Reden sehr besucht; die Konkurrenz, welche ihm die beiden gerade gegenüber wohnenden schiefen Fräulein Jensen machten, war ihm, was seinen Modeartikel anging, nicht gefährlich. Aber sieh, da kamen ja diese Fräulein Jensen ebenfalls; und sie durften hinein! Großer Jubel in der Versammlung! Denn alle Welt wußte, daß die Fräulein Jensen keine Kinder hatten! Andreas Berg erklärte, bei diesen Damen komme es daher, weil sie eine Nichte in der Schule hätten.

»Ob sie darum keine Kinder hätten?«

»Sie dürfen hinein, weil sie Elternstelle vertreten.«

»Aber,« meinte Dösen, »ist es denn nicht mehr, Vater zu sein, als bloß Vaterstelle zu vertreten?«

Lauter Beifall.

Übrigens vertrete auch er Vaterstelle bei denen, welche er in Kost und Lohn habe. – Auf solche Spitzfindigkeiten ließ Berg sich nicht ein.

Jetzt kam der Bürgermeister mit seiner Frau. Auch die wollte Berg nicht passieren lassen, denn sie waren ja nicht »Eltern«; ja sie hatten nicht einmal ein Pflegekind in der Schule.

Dösen rief »bravo!« und klatschte Beifall. Die Menge stimmte sofort ein, und es entstand ein stürmisches Gelächter. Alle kannten ja den Bürgermeister und niemand mochte ihn leiden. Das war ja ein ausgezeichneter Spaß! Der Bürgermeister geriet in einen solchen Zorn, daß ihm die Zunge den Dienst versagte; er konnte nur stammeln und gestikulieren. Er war ein langer, schmaler Mensch mit einer Brille auf der Nase und einem ewigen Lächeln auf dem Gesicht. Aber dies Lächeln war nicht der Ausdruck eines heitern Gemüts: es rührte von seinem schlechten Magen her; das merkte man sofort, wenn man sein verwimmertes Gesicht näher ins Auge faßte.

Endlich erhielt er die Sprache wieder und fragte Andreas Berg, ob er verrückt sei. Und die Frau Bürgermeister, welche bei solchen Gelegenheiten ihrem Manne stets zu Hilfe kam, bemerkte, ihr Gatte, der Herr Bürgermeister, habe das Recht, allen Versammlungen der Stadt beizuwohnen.

Das machte auf Andreas Berg nicht den mindesten Eindruck: er öffnete allen denen, welche wirklich »Eltern« waren, und zog dann die Tür sofort wieder zu. Jetzt legte Dösen sich für den Bürgermeister ins Zeug: Andreas Berg müsse doch begreifen, daß, wenn der Bürgermeister keine Kinder habe, daran der Herr Bürgermeister ebensowenig schuld sei wie seine Frau.

Furchtbares Beifallrufen.

Aus diesem Grunde könne der Bürgermeister aus dem Paradiese der Eltern so lange nicht ganz ausgeschlossen werden, als nicht – –

Weiter kam er nicht, denn der Bürgermeister fragte ihn, ob er verrückt sei.

»Ja, in Ihrer Weise, Herr Bürgermeister,« antwortete Dösen.

Und wiederum brach die Versammlung in fröhliches Lachen aus. In diesem Augenblick erschien der Schuhmacher Nils Hansen mit seiner kleinen Frau. Ihn hatte der Bürgermeister so oft gefragt, ob er verrückt sei, daß Nils Hansen, sowie er das Wort hörte, ebenfalls auflachte.

»Wer ist denn jetzt verrückt?« fragte er.

»Andreas Berg,« antwortete der Bürgermeister.

»Nein, ich,« rief Dösen.

»Nein, der Bürgermeister!« schrien einige in der Menge. »Denken Sie sich,« wandte sich der Bürgermeister an Nils Hansen, »Andreas Berg hat die Unverschämtheit, mir – mir! – und meiner Gattin den Eintritt zu verweigern!«

Man sah es Nils Hansen an, daß er das amüsant fand. Frau Laura dagegen wunderte sich darüber und fragte Berg nach der Ursache. Wenn sie aber geglaubt hatte, Berg zu einer Antwort bewegen zu können, so hatte sie sich geirrt. Er öffnete ihr und ihrem Manne die Tür und bat sie einzutreten. Und so gingen sie hinein, hörten aber Dösen noch hinter sich rufen:

»Der Bürgermeister kommt nicht hinein, weil er keine Kinder hat!«

Das hörte man im Saal, und auch hier entstand lautes Lachen, das bis in den Hof gehört wurde. Von dort kam helles Gelächter als Antwort zurück.

Jetzt entstand eine neue Bewegung da draußen: der Amtmann Die amtliche und gesellschaftliche Stellung des norwegischen Amtmanns entspricht etwa der des preußischen Landrats oder Regierungspräsidenten. war gekommen. Die Frau Amtmann hatte eine fremde Dame mitgebracht, welche Berg nicht einlassen wollte. Nur »Eltern« seien geladen, wiederholte er unerschütterlich; er wußte, daß diese Dame »Fräulein Krüger« genannt wurde; sie hatte mehrmals Blumen bei ihm gekauft.

Der Amtmann – auch der »Damen-Jens« genannt – ein blonder Mann mit spitzem, schelmischem Gesicht, blickte seine beiden erschreckten Damen fragend an; puterrot standen sie da oben auf der Treppe. Die Frau Amtmann hatte als ganz selbstverständlich vorausgesetzt, daß eine Dame, die sie mitbrachte, unmöglich zurückgewiesen werden könnte. Sie wußten nicht, was sie beginnen sollten,

sie und ihre Freundin. Für Dösen und seinen Anhang ein Gegenstand des Gelächters, wurde sie noch obendrein von einer Menschenmenge, die sie nicht kannte, boshaft begafft; sie war nämlich erst kürzlich in die Stadt gekommen.

Sie war eine schöne, zartgebaute, schlanke Dame mit seelenvollem Antlitz; aber sie sah jetzt so erschreckt aus; hilflos blickten ihre Augen umher. Endlich blieben sie wie flehend auf ihrem Manne haften, der wieder unten an der Treppe stand und, um gute Miene zum bösen Spiel zu machen, mit den anderen über die Damen da oben lachte.

»Ist es denn gefährlich, wenn Fräulein Krüger auch mit hineinkommt?« fragte er.

Diese Bemerkung ward von der Menge mit großer Fröhlichkeit aufgenommen, was Berg wahrscheinlich ärgerte. Er rächte sich dadurch, daß er höflich die Frau Amtmann beiseite schob, um die Tür anderen Gästen zu öffnen. Jetzt kam eine Anzahl von Damen, die alle ordentlich verheiratet waren und Kinder in der Schule hatten, die Treppe herauf. Die unglückliche Frau Amtmann trippelte die Stufen wieder hinab; ihre verlegene Freundin folgte ihr; es entstand ein kurzer Meinungsaustausch zwischen ihnen, der damit endete, daß die Freundin sich entfernte. Die Frau Amtmann wollte sie unbedingt begleiten, was ihr aber nicht gestattet wurde. Da wollte der Amtmann galant ihr Kavalier sein; aber die fremde Dame wandte sich jäh von ihm ab. Dabei kam der Amtmann fast unmittelbar vor einen mit zwei großen dänischen Pferden bespannten und von einem graulivrierten Kutscher gelenkten Wagen.

Es war die Equipage des Konsuls Engel. Wegen der Kränklichkeit seiner Frau mußte der Wagen bis auf den inneren Hof fahren. Es gab nichts Rücksichtsvolleres, Liebenswürdigeres, Anmutigeres als die Art, wie der Konsul seine Frau aus dem Wagen hob. Er war ein schöner Mann mit edlem Gesicht. Sein bekanntes Lächeln war liebenswürdiger denn je, während er mit seiner schwachen Bürde durch die Menge glitt. Auch sie war schön; ihre klugen Augen hatten einen schmerzhaften Ausdruck; derselbe Leidenszug lag um die Mundwinkel und die eingefallenen Wangen. Auf ihrem ganzen beschwerlichen Wege bis zur Treppe und die Treppe hinan bis zur Tür folgten ihr die erschreckten Vogelaugen der Frau Amtmann; sie flatterten gleichsam fragend um die Kranke herum. Und von ihr flogen sie zum Konsul; und von seinen Augen wieder zu denen seiner Gattin ... Was in aller Welt wollten sie denn? Sie füllten sich mit Tränen. Rasch, mit einem scheuen Blick entfernte sie sie.

In demselben Augenblick kam der Amtmann, um sie hineinzugeleiten. Sie fuhr zusammen, errötete und lächelte; ja sie lächelte – Gott mag wissen warum.

Siehe, da erschien auch, jung und strahlend, Frau Emmy Wingard. Der Amtmann flüsterte ihr etwas zu, worüber sie lächelte. Dann fragte er, ob sie sich nicht zusammensetzen sollten. Frau Emmy Wingard war eine geborene Fürst. Sie hatte hellblondes Lockenhaar und funkelnde Augen, mit denen sie einigemal zu Dösen, dem besten Freunde ihres Bruders, des Marineleutnants hinüberblickte. Dösen machte ein verzweifeltes Gesicht, zeigte nach innen und ließ den Kopf auf die Brust sinken. Sie begriff, daß er nicht hineindurfte und strich den einen behandschuhten Zeigefinger spöttisch über den andern. Dann verschwand sie.

Wie schön und heiter sie war. Sie hatte große Ähnlichkeit mit dem vornehmsten Kavalier der ganzen Stadt, ja der ganzen Küste, ihrem Bruder Nils Fürst, dem Marineleutnant. Oh, wenn jemand zweifelte, daß Nils Fürst der Löwe in den Küstenstädten war, so brauchte man nur die Dame zu fragen, die jetzt Frau Emmy folgte: Kaja Gröndal, die Frau des Ingenieurs – jenes Mannes, der nie zu Hause ist. Fragt sie, ob Nils Fürst, der sehr oft zu Hause ist, nicht der erste Kavalier ist in den Städten ringsum, und die üppige Dame wird euch ohne Erröten ansehen und zurückfragen, ob denn daran jemand zweifle.

Der galante Amtmann ließ die Damen vorausgehen, dann wandte er sich mit ein paar freundlichen Worten an Berg, der keine Antwort gab.

In demselben Augenblick bemerkte Berg Frau Rendalen und ihren Sohn in Begleitung des Bürgermeisters und seiner Gattin. Alle vier kamen aus dem Hauptgebäude. Der Bürgermeister hatte sich also zu Frau Rendalen hineingedrängt, um sich über ihn zu beklagen! Sollte Berg jetzt vielleicht vor dieser ausgelassenen Jugend unrecht bekommen, weil er so streng Ordre pariert hatte! Richtig, sie gingen nach der Haupttür statt nach derjenigen, welche in das Vorzimmer führte, wo die Turnkleider der Schülerinnen hingen. Das konnte keinen anderen Zweck haben, als dem Bürgermeister und seiner Frau Eingang zu verschaffen!

Frau Rendalen und ihr Sohn wurden von den Zunächststehenden begrüßt. Berg öffnete, sie kam zuerst die Treppe herauf, trat aber, oben angelangt, ein wenig zurück und ließ wirklich die Frau Bürgermeister nebst ihrem Manne passieren; dann ihren Sohn. Sie selbst blieb stehen.

Sie war sehr stark geworden. Das Haar unter dem Hut war aschgrau, das Gesicht braun und voll; in der Nähe der Brille hatte es etwas Leuchtendes.

Sie hatte ein gutes Stück Lebensarbeit getan und war sich bewußt, daß man ihr Achtung zollte. »Alle die, welche nicht hierher gehören, täten am besten, sich zu entfernen; es muß hier jetzt ruhig sein.«

Sie sagte das nicht eher, als bis alle sie hören konnten; und als die, welche ganz hinten gestanden, um die Ecke bogen und verschwanden, folgten auch bald die andern; man versuchte zwar da und dort leise ein paar Witze zu machen, aber es wurde vollständig leer auf dem Hofe. Andreas Berg war der einzige, der große Lust hatte zu mucksen; denn die Geschichte mit dem Bürgermeister war ihm doch etwas stark.

»Jetzt werden wohl nicht viel Gäste mehr kommen; Sie können also ebenfalls gehen, lieber Berg.«

Und damit war es aus.

Sie trat ein. Die Zunächstsitzenden erhoben sich und grüßten, denn das war eine alte Gewohnheit; es waren nämlich ehemalige Schülerinnen. Das hatte zur Folge, daß nach und nach die ganze Versammlung sich erhob.

Sie grüßte nach rechts und nach links und nahm dann neben dem Katheder auf der Erhöhung Platz, auf der es stand.

Ihr Blick glitt über die Versammlung. Alle Sitzplätze waren besetzt; einige wenige Männer hatten sich in dem Mittelgang aufgestellt; jetzt wurden von einer alten Frau auch für sie Stühle gebracht.

Thomas stand drüben am Fenster und sprach mit Doktor Holmsen. Dieser Herr ist sehr stark geworden, er hat ein rotes Gesicht, und in seinen hervorstehenden Augen liegt eine Mischung von Ironie und Schüchternheit.

Er fuhr sich, während er dastand und Thomas zuhörte, mit einem verlegenen Lächeln durch das braune Haar und streichelte sich den etwas graugesprenkelten Bart.

Thomas Rendalen war sein vollständiger Widerpart: bestimmt, feurig, elegant. Die Schulkinder wußten Wunderdinge zu erzählen von all den Essenzen, die er gebrauchte, und in der Tat, er verbreitete einen Duft, wie eine feine Dame. Auch seine Wäsche hatte etwas ausnehmend Elegantes, und der graue Anzug, der nach dem neuesten Schnitt gemacht war, saß ihm wie angegossen. Er hatte eine vortreffliche Figur und war in allen seinen Bewegungen außerordentlich elastisch.

Während er in leisem Ton sich mit dem Doktor unterhielt, hatte er etwas Nervöses, Eindringliches an sich; es war, als gelte es den Augenblick vollständig auszunutzen. Dann brach er das Gespräch plötzlich ab und eilte fort. Die Tür wurde nämlich abermals geöffnet, und herein kamen diejenigen, auf welche er wahrscheinlich gewartet hatte: Der alte Pastor Green in Begleitung des Kaplans Karl Wangen.

Ja, jetzt war er wirklich der »alte« Green; ein langsam und gebückt gehender Greis, der sich auf den Arm des langen Pastors Wangen stützen mußte. Karls Gesicht gehörte zu jenen, die sich nicht leicht verändern: die große Stirn, die tiefen Augenhöhlen, die freundlichen Augen und der gerade, leicht lächelnde Mund – sie waren noch ganz so wie damals, als Thomas sich noch darüber lustig machte; nur daß sie auf einem vollständig ausgewachsenen Körper saßen.

Thomas näherte sich, um den Greis zu begrüßen, und trat dann ehrerbietig an ihm vorbei auf die Erhöhung, wo neben dem Stuhl der Frau Rendalen ein Sessel für ihn aufgestellt war. Karl Wangen nahm neben ihm Platz, und Thomas bestieg das Katheder.

Er fuhr sich mit den nervösen, sommersprossigen Händen durch das rote Haar, das er dadurch noch mehr aufbauschte, dann in die Tasche nach dem Taschentuch, darauf nach der Karaffe, alsdann nach einem Gegenstand, den er vom Pult entfernte; er war ein schrecklich unruhiger Mensch. Scharf blickten seine blitzenden grauen Augen bald hierhin, bald dorthin, endlich blieben sie auf seiner Mutter und dem alten Pastor haften; dann lächelte er Karl Wangen zu und – begann.

Seine Stimme hatte einen Tenorklang, war voll, warm und sehr geübt, so daß sie einen ungemein angenehmen Eindruck machte.

Zur allergrößten Überraschung der Versammlung sagte er, daß er zunächst über die Sittlichkeit sprechen wolle. Sei doch diese Halle vor allem aus sittlichen Rücksichten errichtet worden. Fortan müsse die ganze Schulerziehung mehr als früher die Sittlichkeit zum Zweck haben.

Um über diesen Gegenstand frei reden zu können, sei es nötig gewesen, die Einladung ausschließlich auf die Eltern und solche Gäste zu beschränken, die eine ähnliche Verantwortlichkeit übernommen hätten, so daß man auch von diesen erwarten könne, sie würden die ernste Sache mit Ernst aufnehmen.

(Und es lag ein Ernst in seinem Wesen, der eine gewisse Schärfe, ja fast etwas Drohendes hatte. Er bemerkte gar nicht, wie erschreckt diese kleinstädtische Versammlung sofort wurde; er hielt ihre Verlegenheit für etwas wie feierliche Stimmung, für eine Art festtäglicher Scheu – und fuhr fort:)

Nicht bloß der Frau wegen, auch im Interesse des Mannes müsse hier ernstlich Hand angelegt werden. Ein jedes, der Mann wie die Frau, habe selbst auf sich zu achten; aber die Frau habe den Sporn, daß sie, wenn sie auf sich achte, höher steige in der Gesellschaft.

Die Aufgabe der Schule sei nun, sie künftig besser als bisher hierin zu unterstützen.

Der ehrwürdige Greis, der da zu seiner Rechten sitze, habe ihm einmal gesagt, nur solche Familien könnten dem Laster der Trunksucht verfallen, deren Nerven zuvor durch geschlechtliche Ausschweifungen gründlich geschwächt seien; in solchen Familien würde die Trunksucht leicht erblich.

»Aber ich glaube,« fuhr er fort, »wir können noch andere Laster hierauf zurückführen. So unbedingt die Genußsucht. Die gedeiht oft in einem anscheinend gesunden Boden, aber man kann gesund aussehen und doch völlig ruiniert sein. Die Charakterlosigkeit, die nicht dem leisesten Widerstand gewachsen ist – in der Regel ist sie die Frucht der geschlechtlichen Sünden unserer Väter. Und alle Arten moralischer und geistiger Stumpfheit und Schlaffheit – wenn sie in Familien um sich greifen, die sich einst ausgezeichnet haben – fast immer können sie auf diese Ursache zurückgeführt werden; jedenfalls ist es unter verschiedenen Ursachen die stärkste. Und unsere Heftigkeit, unser aufbrausendes Temperament, unsere Ungeduld, unser Hang zu Übertreibungen, unsere Reizbarkeit haben – wenn sie nicht durch rein zufällige Erziehungsfehler, durch zufällige Krankheiten entstanden sind – hier ebenfalls ihren fruchtbarsten Boden.«

Die Untersuchungen über diesen Gegenstand seien noch ziemlich neu; wir könnten noch nicht so schwerwiegende Beweise vorlegen, als höchstwahrscheinlich vorhanden seien. Erst in der letzten Zeit hätte die Arbeit ernster Männer und Frauen sich dieser Sache als der allerwichtigsten zugewendet; aber die Zahl derer, welche von dieser Erblichkeit Kenntnis hätten, sei noch gering.

Darum stehe auch die Schule hier nicht auf der Höhe ihrer Aufgabe; namentlich seien die Mädchenschulen völlig verwahrlost.

»Die Schule für die weibliche Jugend, die wir hier jetzt haben, ist als Unterrichtsanstalt so gut wie nur irgendeine andere im Lande; davon habe ich mich überzeugt. Aber die Leiterin dieser Anstalt hat es während ihrer ganzen Wirksamkeit tief empfunden, daß das Ziel, welches sie sich ursprünglich gesetzt – die sittliche Erziehung, mehr als es sonst geschieht, in den Vordergrund zu rücken – nicht erreicht werden konnte. Darüber hat meine Mutter sehr oft sich mit mir unterhalten, so daß diese ihre Anschauung schließlich auch die meine wurde. Meine Herkunft, meine Erziehung, meine Lebensweise hatten mich vielfach darauf vorbereitet.«

(Seine Stimme begann leicht zu beben, so daß er innehalten mußte. Seine Mutter war bewegt. Große allgemeine Verwunderung.)

»Die sittliche Erziehung der Frau? werden die meisten fragen. Was ist daran auszusetzen? Freilich, auf dem Lande ist sie mangelhaft; aber unter den gebildeten Klassen der Stadt? Ist sie da nicht ausgezeichnet? Der starke Schild der Religion, die reine Luft der Familie, die regelmäßige Arbeit der Schule, das abgesonderte Leben der Geschlechter – bilden sie nicht einen genügenden Schutz?

Ja, wie verhält es sich denn mit alledem?

Nehmen wir zunächst die reine Luft der Familie; ganz nebenbei. In einer See- und Handelsstadt – das werden Sie mir wohl alle bestätigen – ist die sittliche Strömung gerade nicht die stärkste. Kaufleute und Schiffer stehen in sittlicher Hinsicht mit auf der niedrigsten Stufe – ihre Erziehung und ihre Lebensweise bringen das so mit sich. Das wagt niemand zu leugnen! Ein frühes Wanderleben drängt die Moral auf abschüssige Bahn. Die Tätigkeit des Kaufmanns – die auf Gewinn, immer auf Gewinn gerichtet ist – vermag den moralischen Willen nicht zu kräftigen. Die Bildung ist in der Regel sehr gering; die Lektüre beschränkt sich auf ein paar Zeitungen und etwa einige Moderomane; von einem Verkehr außerhalb seines Standes und seiner Familie kann kaum gesprochen werden. Das Gegengewicht ist hier also sehr schwach.

Der Seemann seinerseits reißt sich in der Regel ganz vom Heimatboden los, um sich in allen möglichen Gesellschaften rings auf dem ganzen Erdball zu bewegen... In neun von zehn Fällen ist der Schiffer ein ungebildeter Mann, meist roh, oft von dem Reeder tyrannisiert, wogegen er wieder andere tyrannisiert, wenn sich Gelegenheit bietet. Und da es sich nun bei uns so gestaltet hat, daß der Schiffer von der Fracht nicht bloß, sondern auch von allem, was er an Bedürfnissen für das Schiff – bis herab zum Wasser – einkauft, sich Prozente einsteckt – also ein vollständiges Raubsystem! – so begreifen wir, daß bei einem solchen Leben strenge Grundsätze nicht anerzogen werden können. Und in der Regel nehmen auch die Untergebenen des Schiffers sich sehr böse Beispiele an ihm.

Wenn dann diese Schar heimkehrt, erfährt der sittliche Charakter der Stadt wahrlich keine Kräftigung. Es wird uns ohne weiteres einleuchten, daß die Kindererziehung namentlich in unsern Schifferfamilien besser sein könnte. Oder verlangt vielleicht auch jemand Beweise für diese Behauptung?«

(Wenn der Leser hätte sehen können, welcher Schrecken, welche Verwirrung, welche Beschämung und Angst, da und dort auch Wut – z. B. bei drei braunroten Schiffern – sich auf den Gesichtern malten, und wie andere unverwandt in ihren Hut, in ihre Hände, oder auf des Vordermanns Rücken starrten, während wieder andere unverhohlen ihre Schadenfreude über den Skandal zu erkennen gaben! Diese letzteren waren die einzigen, welche aufzublicken wagten. Neugierig richteten ihre Augen sich auf den lächelnden Konsul Engel, auf die Schiffer, auf die Kaufleute, auf den Amtmann, sowie auf deren Frauen – kurz auf alle, die hier für eigene oder fremde Rechnung auf der Anklagebank saßen! Da gab es Frauen, welche vor Scham, vor Entrüstung, vor Entsetzen darüber, daß sie so etwas anhören mußten, dem Weinen nahe waren; andere wieder waren fortwährend im Begriff aufzuspringen, wagten es aber doch nicht. Da waren Männer, welche dachten: Geht das noch ein Weilchen so fort – bei allen Teufeln, dann spring' ich auf! Aber sie sprangen nicht auf. Als der Doktor sich schneuzte, fuhren alle so erschreckt zusammen, als hätte es geblitzt.)

»Vermutlich glauben manche, wenn das Kind nur zu Hause nichts Anstößiges sehe und keine schlüpfrigen Reden höre, so sei alles getan, was getan werden könne.

Ich aber sage: solange nicht mehr getan wird, ist das Kind allem möglichen ausgesetzt.

Hier schwärmt man für die Unschuld der Unwissenheit; das hängt mit etwas zusammen, wovon ich jetzt nicht reden kann – später wird sich dazu wohl noch Gelegenheit bieten. Jetzt begnüg' ich mich damit zu sagen: die Unschuld, welche weiß, welche Gefahren ihr drohen und die von Jugend auf dawider gekämpft hat, ist allein stark, allein widerstandsfähig.

Alle Erziehung, welche in dieser Hinsicht etwas leisten will, setzt als unumgänglich notwendige Bedingung den Grundsatz auf: volles Vertrauen zwischen Kind und Eltern. Jedenfalls zwischen Kind und Mutter, oder, um meinen ganzen Gedanken auszudrücken, zwischen dem Kinde und dem, der sich sein größtes Vertrauen erworben hat. Und vermag das weder die Mutter noch der Vater, was ja leicht der Fall sein kann, so schafft jemand, der des Kindes Vertrauen gewinnt! Das ist unbedingt notwendig. Ist des Kindes Vater ein Mann, der selbst seinen Kampf nicht mit Ehren bestanden hat – mag er nun früh oder spät an ihn herangetreten sein – so ist er nicht bloß das fünfte Rad am Wagen – das ginge noch an – nein, in der Regel ist er geradezu ein verderblicher Hemmschuh! Dann hat er gewöhnlich etwas in seinem Wesen, in seiner Rede, in seinen Umgangsformen, das verletzt oder verführt; was mit Ernst behandelt werden sollte, wird in seiner Gegenwart etwas Lustiges oder gar Schlüpfriges.

Und in dieser Stadt – wie Sie sie kennen, und namentlich wie die sie kennen, welche alt darin geworden und deren Blicke sich für diese Dinge geschärft haben – in dieser Stadt, sollt' ich denken, bieten die meisten Familien in dieser Hinsicht einen dunklen Punkt. Die Versuche der Mutter, ein vertrauliches Verhältnis – wie unter guten Kameraden – zwischen sich und den Kindern aufrechtzuerhalten, sind sehr schwächlich; in der Regel werden solche Versuche gar nicht gemacht. Sie verstehen es nicht.

Solange sich das nicht ändert, wird auch die Arbeit der Schule ziemlich unfruchtbar bleiben. Wie leicht nämlich kann das Kind zwischen eine gute Lehre und eine schlechte Praxis geraten; die Kenntnis des Bösen, wenn ihm nicht umsichtige Vertraulichkeit zur Seite geht, kann leicht zur Versuchung werden. Darauf hat bereits Paulus aufmerksam gemacht.

Darum setze ich voraus, daß anfangs unsere Arbeit im Leben oft wider uns zeugen wird; aber einen anderen Weg vermögen wir nicht einzuschlagen. Gibt es nicht ein bestimmtes Alter, auf das die Schule besonders achten muß? Gilt es nicht vor allem, darüber glücklich hinwegzukommen? Die Lust hierzu anzuregen, die Mittel zu schaffen – sehen Sie, darin besteht unsere Aufgabe! Fragen Sie die Ärzte, fragen Sie erfahrene Erzieherinnen! Meine Mutter, die ich wohl eine erfahrene Erzieherin nennen darf, wird bezeugen, daß im Übergangsalter die meisten auf Abwege geraten, weil sie ihre Offenheit und zum Teil auch ihren Fleiß, ihren Ordnungssinn einbüßen. Es schleicht sich etwas Fremdes in das kindliche Gemüt. Und diese Wandlung – bedenken Sie es wohl – ist nicht eine Ausnahme, es ist die Regel.«

(Nach der Haltung der Versammlung hätte man meinen sollen, das ginge nur die Frauen und nicht die Männer an. Die Männer nämlich blickten die Frauen ganz frei und unverschämt an, was die Situation noch peinlicher machte – namentlich für die, welche früher Schülerinnen der Frau Rendalen gewesen.)

»Unsere Arbeit also muß sich vor allem darauf richten, die Jugend für diesen Übergang vollständig auszurüsten.

Denn es nützt nichts, es zu leugnen oder zu umgehen: dies ist das Wichtigste. Hiergegen sind z. B. Sprachkenntnisse, Musik und all die Geschicklichkeiten in feinen Frauenarbeiten bloßer Luxus. Geschichte, Geographie, Rechnen und Schreiben sind zwar von etwas höherer, aber auch nur von untergeordneter Bedeutung.

Aber die Religion? Kann sie nicht über diese Klippe hinweghelfen? Nun, die Kenntnis von den göttlichen Dingen und den Moralgesetzen ist natürlich unentbehrlich. Allein bauen Sie nicht zu fest auf einen Glauben, der verloren gehen kann! Nur bei den wenigsten übt der Glaube einen dauernden Einfluß.

Denken Sie ja nicht, die Kinder machten in dieser Beziehung eine Ausnahme! Man kann sie leichter mit sich fortreißen; aber sie vergessen auch viel leichter das eine nach dem andern. Der Einfluß der Religion auf ihren sittlichen Wandel ist sogar bei den Kindern noch schwächer als bei den Erwachsenen.

Es sind hier vier Geistliche anwesend, ich bitte sie, sich zu erheben und mir zu widersprechen – ich glaube nicht, daß sie sich dazu gedrungen fühlen.«

(Kurze Pause. Aller Augen richteten sich auf die Geistlichen. Aber die vier ehrwürdigen Herren saßen regungslos wie Götterbilder.)

»Damit will ich durchaus nicht behaupten, auf den Religionsunterricht in der Schule dürfe kein Gewicht gelegt werden! Im Gegenteil! Ich kann diesen Gegenstand nicht näher berühren; ich will nur darauf hinweisen, daß an unserer Schule für die religiöse Unterweisung vollkommen gesorgt ist. Mein Jugendfreund, Herr Pastor Wangen, wird unsere Zöglinge vom sechsten bis zum sechzehnten Jahre jeden Morgen in den Lehren des Glaubens und der Moral unterrichten.

In der jüngsten Zeit,« fuhr er nach kurzer Pause fort, »hat man angefangen, die Welt- und Literaturgeschichte zum Range von charakterbildenden Fächern zu erheben. Wenn diese Wissensgebiete besser zum Schulgebrauch bearbeitet sein werden, als sie es jetzt sind – dann mag ihnen eine größere Bedeutung in dieser Hinsicht eingeräumt werden.

Veredelnd wirkt es natürlich immer auf das junge Gemüt, wenn ihm große, edle Beispiele vor Augen geführt, wenn ihm erhabene Gedanken mitgeteilt werden und es einen Überblick gewinnt über den Lebensgang der Menschheit sowohl wie eines einzelnen Volkes, eines einzelnen großen Mannes. Aber die Hauptsache darf ihm niemals das werden, was ihm von andern erzählt wird.«

(Jetzt begann die Versammlung neugierig zu werden. Wo wollte er denn schließlich hinaus? Alle fühlten, daß es jetzt kommen mußte.)

Er neigte sich über das Katheder und sagte langsam:

»Das wichtigste für den Menschen ist, daß er über sich selbst wachen, auf sich selbst achten lernt...« Diese Worte des Herbert Spencer werden bald das Programm der ganzen Welt werden.

»Bevor sie nicht auch für die Schule das wichtigste werden, erhalten auch die übrigen Fächer nicht ihren richtigen Platz im Erziehungswesen.

Aber auf sich und seine Kinder achten lernen – das ist in sittlicher Beziehung von der höchsten Bedeutung; hierauf kommt alles an.

Erfahre ich schon in früher Jugend, aus welchen Elementen mein Körper besteht und wie er arbeitet; weiß ich, wie ich ihm schaden oder nützen kann – ja nicht bloß mir selbst, sondern auch denen, welchen ich dereinst das Leben gebe und die von mir abhängig werden –, so ist dieses mein Wissen nicht bloß mein zuverlässigster Wächter, es verleiht mir in der Regel auch den Willen, ihm Folge zu leisten. Nichts weckt stärker das Gefühl der Verantwortlichkeit als die Einsicht in die Natur der Dinge. Aber das Wissen darf nicht zu spät kommen.

Ich brauche wohl nicht erst auszuführen, daß die gewöhnliche Schule in dieser Hinsicht gar zu wenig leistet – und dieses wenige nicht in der richtigen Weise.

Ich muß wissen, warum mich dies und jenes gelehrt wird. Man muß offenherzig gegen mich sein; mir nichts verheimlichen; gerade das aber, was jetzt verheimlicht wird, ist das wichtigste.

Ich spreche von der Übergangszeit. Weiß das Kind, was dann kommt und warum es kommt? Weiß es, welche Versuchungen ihm dann nahen? Hat es diesen Versuchungen wirksam widerstehen gelernt? Hat es die Grundbedingungen der Charakterbildung, seiner Gesundheit, seines Glückes kennen gelernt? Weiß es, daß von dieser Zeit sein späteres Leben, ja das Wohl und Wehe seiner Nachkommenschaft abhängt?

Und wird dieses Wissen so gelehrt, daß es sich unauslöschlich in des Kindes Seele senkt? Wird der Unterricht in den genannten Fächern so vorgetragen, daß des Kindes Phantasie eine edle Richtung nimmt, daß es sich für alles Schöne und Gute begeistert? Denn Kinder, namentlich junge Mädchen, können sich begeistern.

Oder – um auf ein Gebiet hinabzusteigen, das im Bereiche des Möglichen liegt – weiß die Mutter, weiß der Vater, daß in diesem Alter gewisse Speisen und Gewürze manchen Naturen gefährlich sind? Daß eine ganz bestimmte Diät – und welche – beobachtet werden sollte? Weiß die Schule, daß eine besondere Gymnastik ihr unterstützend zu Hilfe kommen muß? Nicht alle Kinder heischen dieselbe Vertraulichkeit, dieselbe Behandlung; wohl aber die meisten, – ich kann mich getrost auf die Erfahrung dieser Versammlung berufen. Wir alle sind einst jung gewesen und haben Freunde und Kameraden gehabt.«

(Er machte eine Pause und sah sich um. Fern, ganz fern hörte man ein Vöglein mit frischer Stimme zwitschern.)

»Ich frage weiter: Lernten nicht die, welche früher nichts erfahren, gerade in diesem Alter, daß sie etwas zu verheimlichen hatten? Und daß sie heimlich zu Werke gehen mußten? Mit dem Schamgefühl wird auch das Ehrgefühl verletzt, und mit diesem der Mut. Wenn wir dies zu gestehen wagen, jenes nicht – ja, dann leidet unser Mut Schaden. Ganz still und unbeachtet beginnen in diesem Alter im Körper und im Charakter die Kräfte der Selbstvernichtung zu wirken. Niemand wird mir zu widersprechen wagen!«

(Die schreckliche Pause, welche er machte, war fast noch schlimmer als das, was er sagte.)

»Aber gibt es irgendeinen Ort in der Welt,« fragte er, »wo die Schule so eingerichtet ist, wie die Erfahrungen es gebieterisch fordern?«

Und hierauf gab er eine Antwort, in welcher er ausführlich mehrere Schulen in Amerika und England schilderte. Er war nicht der Ansicht, daß sie alles leisteten, was wünschenswert sei; aber jede etwas; manche sehr Tüchtiges.

Namentlich verweilte er länger bei einer medizinischen Hochschule in Boston, an der eine unverheiratete Frau Professor der Anatomie sei, und zwar für junge Studenten beider Geschlechter. Er erzählte, daß sie vor allem dafür sorge, daß ihre Schülerinnen an den städtischen Mädchenschulen angestellt würden.

Dieser weibliche Professor sei der Ansicht, jede Schule müsse einen Arzt zum Lehrer haben. Entweder der Arzt selbst oder ein anderer Naturkundiger müsse des Kindes Naturstudien leiten; aber stets so, daß es einen lebendigen Eindruck erhalte. Schon das Kind könne durch das Mikroskop sehen, wie z. B. die Pflanze aus Zellen sich entwickelt und wie all ihre verschiedenartigen Teile aus einem gleichartigen Element sich entwickeln; es könne gleichsam das Atmen der Pflanzen, die Zelleneinteilung, das Wachsen, die Befruchtung beobachten; die Einbildungskraft müsse sich mit der Arbeit und der Harmonie der Natur beschäftigen, ja davon ihre Richtung erhalten.

Das Kind müsse schon im zarten Alter eine heilige Bewunderung hegen vor allem, was gesund, frisch, natürlich, Mitleid empfinden mit allem, was gebrechlich und krank, und Widerwillen vor allem, was unnatürlich.

Es bedürfe einer Menge Zeichnungen und Apparate, damit der Unterricht in allen Hauptpunkten ein klares Verständnis erziele; und damit ferner die Unterweisung nicht zu einem langweiligen Hersagen herabsinke, sondern die Fähigkeiten müßten unter des Lehrers Leitung sich frei bis zur selbständigen Tätigkeit entwickeln.

Die Schule werde natürlich weit kostspieliger als sie es jetzt sei; schon die Beschaffung eines guten Materials erheische eine bedeutende Ausgabe. Zudem müßten auch die Bildner der Jugend eine bessere Entschädigung haben für ihre Mühen.

»Aber damit werden wir den Militäretat belasten,« bemerkte er launig. »Ein moralisch und physisch kräftiges Geschlecht – das ist eine reichliche Entschädigung für diese Belastung.«

Um Zeit zu gewinnen, müßten auch andere Fächer ganz anders vorgetragen werden, als es jetzt geschehe, davon abgesehen, daß die modernen Apparate die Aneignung des Stoffes wesentlich erleichterten. Selbstverständlich müßte am Vormittag wie am Nachmittag Schule gehalten werden und das Kind, wenn es nach Hause komme, vollständig frei sein und keine Gewissensbesorgnisse haben wegen des morgenden Tages. Aber dies alles, namentlich aber über den neuen Schulplan, wolle er hier an derselben Stelle am nächsten Sonnabend reden, wozu er die Eltern schon jetzt einlade.

Dringend bat er die Eltern, ihn bei dem Erziehungswerk zu unterstützen! Er würde das Seine tun, daß die Stadt mit der neuen Erziehungsmethode im ganzen Lande Ehre einlege. Freilich, ein kostspieliges Unternehmen. Was koste nicht schon der weibliche Arzt, der aus Amerika herüberkomme, um den Teil des Unterrichts, den er für den wichtigsten halte, zu leiten!

(Bewegung, Gemurmel, Unruhe in der Versammlung; zum erstenmal während des ganzen Vortrages.)

»Ja, in Boston habe ich eine norwegische Dame kennen gelernt, die in zarter Jugend ausgewandert ist und vor mehreren Jahren ihr Examen an der medizinischen Hochschule gemacht hat. Sie heißt Fräulein Kornelia Hall. Diese Dame hat bereits eine große Erfahrung, da sie schon längere Zeit an Mädchenschulen unterrichtet. Auch eine gute Praxis hat sie. Indem sie zu uns kommt, bringt sie ihrem Vaterland ein Opfer. Aber wir können es nicht annehmen, daß sie ihre Einnahmen in Höhe von dreitausend Dollar jährlich mit einem gewöhnlichen norwegischen Lehrerinnengehalt vertauscht. Als Arzt wird sie hier nichts verdienen; sie kann hier nicht praktizieren; sie kann hier nur auf Grund der in dem »Quacksalbergesetz« aufgezählten Bedingungen praktizieren – und die sind eines fremden Arztes ebenso unwürdig wie des Volkes, das sich dieses Gesetz gegeben hat.

Was ferner die Apparatsammlung der Schule angeht, so ist sie allerdings schon recht bedeutend; aber genügen kann sie noch nicht.

Ich schäme mich nicht zu gestehen, daß meine Mutter, die ein Vermögen auf die Schule verwandt hat, unmöglich weitergehen kann; vielleicht ist sie gar schon über ihre Kräfte hinausgegangen. Ich wende mich daher vertrauensvoll an die Versammlung, namentlich an die Frauen und sage ihnen: Wissen Sie aus Erfahrung, was es hier gilt; was eine kenntnisreiche Frau, die gelernt hat, sich selbst zu beherrschen, auf sich selbst zu bauen, wert ist – dann unterstützen Sie mich! Tun Sie es um Ihrer Kinder willen! Tun Sie es des guten Beispiels wegen!

Was mich angeht – ich will für diese Sache leben und sterben hier in dieser meiner Vaterstadt!«

*

Die letztern Worte sagte er mit einer plötzlichen Erregung; sie kam ihm so unerwartet, daß er den Turnsaal einzuweihen vergaß; ohne sich vor der Versammlung zu verbeugen, mußte er vom Katheder eilen; er verschwand in der Tür zu dem kleinen Vorzimmer, von wo er über den Hof nach dem Hause stürmte.

Die Versammlung saß da, als wäre er noch nicht zu Ende. Der Schluß kam auch ihr so plötzlich, so unerwartet ... Man mußte erst zur Besinnung kommen.

Inzwischen erhoben sich einige gröbere Naturen unten an der Tür; dann alle andern. Und nun kam für Frau Rendalen ein Augenblick der größten Überraschung.

Sie sah nicht gut; nicht einmal mit der Brille; und zudem hatte sie während der ganzen Zeit nur ihren Sohn angesehen. Die Halsmuskeln an der rechten Seite hatten ihr weh getan, da sie fortwährend den Kopf nach ihm umgewandt hatte; darum hatte sie schließlich den Stuhl umgekehrt und saß ganz ihrem Sohn gegenüber.

Der Gegenstand war ihr bis auf die geringsten Einzelheiten bekannt. Aber seine energische Vortragsweise, seine persönliche Macht, seine Unerschrockenheit waren ihr etwas ganz Neues. Sie hatte er nicht erschreckt. Im Gegenteil; sie war selbst eine tapfere Natur und wußte, daß wenn irgendwo Offenheit notwendig war, so bei diesem Gegenstande. Sie kannte die Verhältnisse und die Gleichgültigkeit der Eltern gegen das Erziehungswesen. Sie wünschte, daß sie es wenigstens einmal hören möchten. Und ihr Sohn entledigte sich, schien es ihr, seiner Aufgabe in so edler Weise! Seine innere Bewegung ging auch auf sie über; sie wußte, achtete er nicht auf sich, so wurde er von seinen Gefühlen überwältigt. Und als dann die paar Schlußworte kamen, war auch sie zu Ende. Und diese Worte selbst – ihre Brillengläser wurden feucht dabei. Sie mußte sie trocknen, und dabei sah sie niemand und dachte an niemand um sich her.

Aber als sie hörte, daß die Versammlung sich erhob, wurde sie mit einemmal aus ihrer Selbstvergessenheit aufgeschreckt. Sie mußte ja bereitstehen zum Empfang derer, welche auf die Erhöhung kamen, um sie zu begrüßen und zu beglückwünschen, ja vielleicht auch, um ihr Glückwünsche an den aufzutragen, der da soeben hinausgeeilt war.

Und da kam niemand ... Ja doch: die Fräulein Jensen, die beiden schiefen Modistinnen. Still, herzlich, lächelnd wie immer näherten sie sich; sie dankten und ließen sich dem Herrn Sohn herzlich, ganz herzlich empfehlen; wenn es genehm sei, möchten sie selbst kommen, um ihm ihren Dank abzustatten. Aber die Fräulein Jensen waren die einzigen. Nicht einmal Nils Hansen kam; auch Laura nicht, und keine einzige ihrer ehemaligen Schülerinnen ... Nicht einmal Frau Engel, die gute arme Emilie – niemand, niemand ...

Wäre jemand hinauf zu Frau Rendalen gegangen, um ihr im Namen der Versammlung eine Ohrfeige zu geben, die brave Frau hätte nicht erschreckter werden können. Mein Gott, was hatte das zu bedeuten?!

Für sie war ja seine Rede das Ergebnis ihres Zusammenlebens; Gedanke um Gedanke; nur die Summe dessen, was sie gemeinsam gelernt und erfahren.

Aber die Rede war mehr; sie war ihre lange Lebensarbeit, das Ergebnis ihres Erziehungswerkes an ihrem Sohn, von seiner Geburt an bis zu diesem Tage, wo er geistig klar, kenntnisreich, mit einem warmen Herzen und einem großen Ziele vor Augen dastand; die Rede war diese Arbeit, diese Entwicklung in der Blüte; jetzt sollte sie zur Frucht werden.

Wie sie ihn liebte; wie sie ihn bewunderte! Sie wußte, was er alles durchgekämpft und geleistet in diesen achtundzwanzig Jahren; sie wußte, woraus jeder einzelne Gedanke bestand.

Sie hatte nur unklare Vorstellungen davon gehabt; er hatte sich zur Klarheit durchgekämpft! Und sie würde mit dieser Klarheit, selbst wenn sie sie gehabt, nichts ausgerichtet haben; er aber konnte das! Aber war dies alles trotz ihrer gemeinsamen Arbeit nicht dennoch ein Wahn? Was sie einst in ihrem Jugendmut sich unklar gedacht, nämlich die ererbten schlechten Eigenschaften der Kurts durch eine gute Erziehung auszurotten – und was sie später kühn begonnen, als sie in dem dunklen Hause des Geschlechts aufräumte und es hell und rein machte, so daß es darin von frohem Kinderlachen wiederklang; unklar, aber mutig hatte sie damit begonnen – jetzt konnte sie sich des glücklichen Ergebnisses freuen! Und das hatte sie ihm, ihrem Sohne zu danken! War dies ein Märchen?

Wie überglücklich sie war! Sie hätte vor der Versammlung niederknien mögen, um Gott zu danken! Sie wußte, wenn all diese Menschen zu ihr kamen, ihr zu danken, mit ihr zu sprechen, so vermochte sie sich nicht länger zu beherrschen; dann vergab sie sich etwas; aber was hatte das zu bedeuten? Er hatte es ja so gut gemacht!

Und nun kam nicht ein einziger. Ja, die Fräulein Jensen; aber sonst niemand. Alle gingen hinaus.

Aber der alte Pastor? Ja, der saß noch sinnend und grübelnd da; ein unmittelbarer Drang, mit ihr zu reden, hätte doch ihn anspornen müssen, sich zu erheben und ihr im Namen der Versammlung etwas zu sagen ... Erst als fast alle sich entfernt hatten, begann auch er sich zu regen. – Er blickte auf, schaute sie lange wie fragend an, erhob sich mit Mühe und kam – endlich!

»Ja, liebe Frau Rendalen, das war recht tüchtig.«

»Ja nicht wahr –?«

»Recht tüchtig. Aber vieles würde ich darum geben, hätte er die Rede nicht gehalten.«

»Aber Herr Pastor –!«

»Ja, jetzt kann ich nicht mit Ihnen darüber sprechen; das Geräusch hier ist zu groß und ich bin müde. Ein andermal. Empfehlen Sie mich ihm! Leben Sie wohl, liebe Frau Rendalen!«

Und er nahm Karl Wangens Arm und wollte gehen.

Da war noch einer, den dies ebenso erschreckte und überwältigte, wie sie: Karl Wangen. Von Anfang an war er der Rede und dem Redner gefolgt; unschuldig wie er war, hatte er nie an die Möglichkeit gedacht, daß jemand etwas anderes dabei fühlen könnte, als daß dies das rechte Wort sei, gesprochen von dem rechten Manne. Aber als er später zufällig einen Blick auf die Versammlung warf, nämlich als der Redner sie direkt apostrophierte, – da waren doch Zweifel in ihm aufgestiegen, und die Zweifel hatten sich gemehrt, so daß er schließlich mit pochendem Herzen dasaß. Aber daß niemand sich der Mutter näherte, ja nicht einmal eine ihrer früheren Schülerinnen – oh, er sah und fühlte ihren Schmerz! ... Und jetzt noch der Pastor! ... Er ließ dessen Arm los und griff mit beiden Händen nach den ihren; es drängte ihn, sie zu umarmen; aber es waren noch zu viele Menschen im Saal ... Er sah sie an, bis seine Augen sich mit Tränen füllten, und da vermochte er doch nicht mehr an sich zu halten und umarmte und küßte sie; mochte das sehen wer wollte ... Dann gab er etwas linkisch dem Pastor seinen Arm und half ihm von der Erhöhung hinabsteigen.

Darüber wurde die ehrwürdige Frau Rendalen wieder Mensch. Leichter als man ihr zugetraut hätte, schritt sie zur Tür hinaus in das kleine Vorzimmer, und von dort durch den Hof in das Haus.

Hier suchte sie sofort ihren Sohn.

Er hatte gerade Rock und Weste abgelegt, um ein Bad zu nehmen. Aber so lange konnte sie nicht warten. Sie eilte auf ihn zu, drückte ihn warm an ihr Herz und weinte, während sie sagte: »Thomas, mein Sohn, mein geliebter Sohn!«

Auch er hatte längst begriffen, daß etwas nicht in Ordnung war. Das bestätigten ihm jetzt ihre Blicke, ihr ganzes Wesen; ferner der Umstand, daß sie nichts sagte, ihm von niemand einen Glückwunsch, einen Gruß überbrachte, obgleich sie im Saal zurückgeblieben war. Jetzt, da die Spannung vorüber, empfand er eine dunkle Angst, einen Stich im Herzen.

Allein davon wollte er nicht sprechen. Aber auch sie nicht. Dann entfernte sie sich und er nahm sein Bad.

*

Andreas Berg stand noch im Turnsaal. Und als alle ihn verlassen, schloß er die Tür und trat würdevoll in die eine Ecke unten an der Haupttür. Dort waren verschiedene Turnapparate aufgestapelt, über welche ein großes Tuch geworfen war.

Dieses Tuch nahm er und warf es geräuschvoll auf den Boden.

Dadurch kamen zwei Köpfe und vier Arme, die sich schnell ineinanderschlangen, zwei Kleider und vier Schnürstiefel zum Vorschein. Zwei schweißtriefende, feuerrote Gesichter drückten sich aneinander und zerzauste blonde und dito dunkle Haare flossen ineinander über.

Berg stand da mit einem strengen Gesicht.

»Ich sah mehrmals, daß das Tuch sich bewegte,« bemerkte er. »Ich konnte mir nicht denken, was das sein möchte; da kam ich schließlich darauf, daß es wohl ein paar kleine Mädel sein könnten. Nun sind es aber zwei vollständig ausgewachsene. Schämt ihr euch nicht?«

Die eine der beiden begann zu weinen, die andere zu lachen.

»Und das sollten guter Leute Kinder sein? Die Tochter des Amtmanns?« sagte er zu der Lachenden. »Ein erwachsenes Mädchen, konfirmiert und in der obersten Klasse? ... Und du da? Meinst du, ich kennte dich nicht? Bist dem Nils Hansen seine Tochter. Deine Mutter war auch hier. Die hätte dich hier unter dem Tuch sehen sollen! Ja und erst dein Vater! Da war deine Schwester Auguste ein ganz anderes Mädel; die führte sich immer anständig auf ... Ja, steht nur auf! Jetzt meld' ich's Frau Rendalen.«

Noch war er nicht zur Tür hinaus, da sprangen sie in die Höhe. Gott, wie sie aussahen! Kleider, Haare, Gesichter – namentlich die Gesichter! Ungefähr wie kleine Kinder, die geweint und mit schmutzigen Händen sich die Tränen über die Wangen gewischt haben.

Das kam daher, daß ihre Hände von all den Gerätschaften, die hier lagen, schmutzig geworden, und sie den Schweiß, der ihnen in die Augen stach, doch hatten abwischen müssen. Und wie elend und zerschlagen sie sich fühlten! Als wären sie gelähmt. Obschon sie reichlich Gelegenheit gehabt, sich's auf ihrem Platz bequem zu machen, hatten sie doch gar zu lange in dieser Stellung zubringen müssen; wenigstens schon eine ganze Stunde vor dem Anfang hatten sie sich unter dem Tuch versteckt.

Die eine weinte und schalt auf die andere, welche lachte. Aber als sie sich dann betrachteten und merkten, wie sie aussahen, brachen sie beide in lautes Lachen aus und stürzten in das kleine Zimmer am anderen Ende des Gebäudes, wo Toilettengegenstände sich befanden. Und nun mußten sie zu den Pensionärinnen, um ihnen alles zu erzählen. Denn nicht bloß im eigenen Namen hatten sie unter dem Tuche gehockt, nein, sie waren dazu von der obersten Klasse auserwählt worden. Die ganze Klasse war dabeigewesen und hatte ihnen das Tuch über die Köpfe gezogen.

Auch Speisevorräte hatten sie mitgenommen, namentlich Getränke. Aber schon lange vor Beginn war alles aufgezehrt.

Die Pensionärinnen der obersten Klasse waren bereits versammelt, da sie mit Spannung erwartet wurden. Was nur die Eltern wissen durften, mußte etwas ganz Apartes sein.

Und jetzt wußten es diese beiden! Sie hatten kaum Zeit sich einigermaßen zu reinigen und das Haar so weit zu kämmen, daß sie getrost über den Hof gehen konnten. Aber wie sie sich auch beeilten – die Ungeduld der anderen war zu groß. Da kam die ganze Klasse über den Hof nach dem Turnsaal gestürmt; man hatte nur darauf gewartet, daß Andreas Berg die Tür schließen und verschwinden würde. Dabei hatte er sich gar zuviel Zeit genommen! Aber endlich begab er sich in die Küche.

Die beiden waren nur ihres guten Gedächtnisses wegen zu Abgesandten gewählt worden; und es geschah das Unglaubliche, daß sie sich fast der ganzen Rede erinnerten; jedenfalls alles dessen, was am meisten packte, was am besten vorgetragen worden, was ihnen besonders neu vorkam!

Und hatte Thomas vor einer undankbaren Versammlung gesprochen – diese Versammlung war ihm dankbar. Junge Mädchen halten es mit dem Mutigen; brauchen sie sich nicht selbst an die Spitze zu stellen, so glühen sie förmlich vor Kühnheit. Seht die blonde, schlanke, schmächtige, die mit den großen Augen, des Amtmanns Tochter! Sie hatte das Vogelgesicht der Mutter; aber statt wie das der Mutter den Eindruck des Erschreckten und Verschüchterten zu machen, war es wie zum kecken Fluge erhoben. Unordentlich war es von einem Rahmen üppiger blonder Haare umgeben, und nun die Augen, das ganze Gesicht strahlten, ward auch das Gesicht zur Flamme.

Sie erinnerte sich nicht genau der Worte, die Thomas gesprochen; das kräftigste und das amüsanteste kam zuerst. Sie hatten ein unbedingtes Verständnis; von der Schule her und infolge ihres Zusammenlebens mit ihm, Frau Rendalen und den Lehrerinnen waren bei den Mädchen die Vorbedingungen vorhanden, um zu begreifen, was er wollte – ja ihre Verständnisfähigkeit war infolgedessen größer als die der Versammlung.

Aber mitten in ihrem Bericht hielt Nora plötzlich inne; sie ward flammend rot und dann leichenblaß – da stand Frau Rendalen auf der Treppe!

Andreas Berg hatte Wort gehalten. Und sie hatten seine Drohung ganz vergessen.

Als Andreas Berg erschien, ging Frau Rendalen aufgeregt im Zimmer auf und nieder; und es war ihr sogar lieb, daß sie ihren Unmut ablenken konnte. Sie eilte sofort die Treppe hinan; sie wollte die Übeltäterinnen auf frischer Tat ertappen und ging deshalb um den ganzen Flügel herum und an dem Turnlokal entlang, um sie im Rücken zu fassen. Aber schon an der Tür zu dem Vorzimmer, das die anderen natürlich abzuschließen vergessen hatten, hörte sie Nora, von ihrer Freundin unterstützt, die Rede, Thomas' Rede vortragen, – und zwar in seinem Tonfall, in seiner Vortragsweise, mit seinem Feuer – kurz mit echter Beredsamkeit ... Ja hier war eine, die wirklich zugehört hatte!

Und die wackere Frau Rendalen wollte in voller Selbstvergessenheit vortreten, nur um sehen und den Bericht genau mit anhören zu können. Aber so ward es von der Versammlung nicht aufgefaßt.

Noras Schrecken und das Aufschreien der andern, als sie sich umwandten und die Allgewaltige erblickten – es war ein prächtiges Bild! Frau Rendalen war Schulmutter genug, um diesen Respektsbeweis anzunehmen; und dann sprach sie mit gehobener Stimme:

»Ich sollte wirklich recht böse sein. Ich sehe, ihr versteht es. Aber Noras Gedächtnis – das ist ja etwas ganz Außerordentliches!« Als Nora hörte, daß es nicht ans Leben ging, und als sie Frau Rendalens ehrliche Freude sah, da stürmte sie mit dem ganzen Ungestüm und der berauschenden Begeisterung eines sechzehnjährigen Mädchens auf sie zu und brach in Tränen aus.

Ja, so wollte Frau Rendalen es haben. Und darum sagte sie:

»Du bist ein liebes, gutes Mädchen, Nora! Hört, Kinder, wenn ihr hier fertig seid, dann kommt hinauf zu mir – heut abend soll's ein ordentliches Fest geben!«


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