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14.

Der Generalstab.

Die blonde Milla, die braune Thora,
Die breite Tinka, die schmale Nora.

Es wurde darüber gestritten, wo dieser ausgezeichnete Vers mit seinen schönen Rhythmen und Reimen zuerst aufgetaucht war, ob in der obersten Klasse der lateinischen oder der Realschule.

Der Streit kann nicht mehr entschieden werden; aber so oft diese vier Damen sich zeigten, wurde der Vers ihnen nachgebrüllt – anfangs abwechselnd mit einem anderen von Anton Dösen gedichteten »Verse«, der also lautete: » Thora, Nora, ora pro nobis!« – der sich jedoch, da die beiden Namen Tinka und Milla nicht darin vorkamen, gegen den ersten Vers auf die Dauer nicht halten konnte.

Doch auch dieser verlor bald den Reiz der Neuheit. Wer der Vater des neuen Wortes war, konnte diesmal durchaus nicht zweifelhaft sein. Thomas nämlich hatte die vier Damen bei einer gewissen Gelegenheit als seinen »Generalstab« bezeichnet, – und nun gab erst die ganze Mädchenschule, dann die Knabenschule und hierauf gewissermaßen die ganze Stadt ihnen diesen Ehrentitel.

Drei von diesem Generalstab kennen wir bereits. Die blonde Milla ist keine andere als Emilie Engel, welche in ihrem Trauerkleide aussah wie ein Emailbild; die breite Tinka ist Katinka Hansen, Augustas Schwester, die Altstimme; und die schmale Nora des Amtmanns Töchterlein, welche mit Katinka bei der Einweihung des Turnsaals unter dem Tuch sich versteckt hatte – die mit den großen Augen und dem »flammenden« Haar. Die braune Thora kennen wir noch gar nicht, – und sie mag für uns noch eine Weile eine mystische Persönlichkeit bleiben.

Vor einem Jahr hatte die Gegend einen neuen Amtmann bekommen. Er hieß Jens Tue, mit dem Beinamen »der Damen-Jens«. Statt jedoch seinen Posten sofort anzutreten, reiste er mit seiner Gattin, die brustkrank zu werden drohte, ins Ausland. Aber während sie sich im Auslande aufhielten, blieb ihre Tochter daheim.

Vielleicht wäre es besser gewesen, sie in Christiania bei Verwandten und Freunden zu lassen. Aber es hieß, Frau Rendalens Schule und Pension wären so ausgezeichnet. Doch das war wohl nicht der einzige Grund.

Man war sehr neugierig auf die Amtmannstochter... Eine moderne Dame, hoch und schlank. Wenn auch nicht gerade elegant, so doch flott in ihren Toiletten sowohl wie in ihrem ganzen Wesen, und dabei so überlegen! Aber sie hatte nichts Unangenehmes an sich; dazu war sie zu geschmeidig, zu liebenswürdig. Sie brachte Leben und Bewegung in alles und alle, mit denen sie in Berührung kam; und dann vergeben die Menschen viel.

Niemand jedoch wollte ihr die unglaublich vielen Briefe verzeihen, die sie teils selbst schrieb, teils von bekannten Personen empfing. Die Lehrerinnen nicht, weil sie ihre Schularbeiten versäumte, ihre Mitschülerinnen nicht, weil sie vernachlässigt wurden. Ja, diese hatte sie erst kaum angesehen! Des Abends schlief sie immer ein mit Tinte an den Fingern und einem Haufen Briefe vor dem Bett. Entweder schrieb sie Briefe oder sie las Briefe oder weinte über Briefen. In jeder freien Viertelstunde hüpfte sie hinauf in ihr Zimmer, um ein paar Zeilen hinzuzufügen oder noch einmal einen Brief zu überfliegen, den sie soeben erhalten hatte.

Da die anderen sie überall verfolgten, war sie nach dem Essen immer sofort verschwunden. Wo steckte sie? Man machte Jagd auf sie, und gewöhnlich fand man sie oben auf dem Boden, natürlich schreibend; diesmal auf einer großer Tonne. Vor Kälte war sie ganz blau geworden.

Mindestens zwanzig »Busenfreundinnen« hatte sie in Christiania zurückgelassen, und alle diese zwanzig Freundinnen schrieben ihr und alle erhielten Antworten, lange Antworten.

Zum Glück hatte sie noch eine andere Leidenschaft; und es geschieht gar oft, daß die eine uns von der anderen erlöst. Sie schwärmte nämlich für Musik. Manchmal sang sie überraschend poetisch, aber teils konnte sie in ihrem Alter nicht lange genug auf einmal singen, teils war sie zu wenig ausgebildet, um eine feine Auffassung so auszuführen, daß es ein harmonisches Ganzes wurde.

Aber wie sie auch war, sie wurde von ihren Mitschülerinnen bewundert – und von keiner glühender, als von Tinka Hansen. Denn Tinka war selbst musikalisch, wenn auch in anderer und bescheidenerer Weise. Wie ihre Schwester Auguste hatte sie sich früh entwickelt, namentlich in bezug auf logisches Denken. Katinka war einfach, klar, sicher; sie konnte alles auswendig und verstand Klavier zu spielen; und das war sehr viel. So kam sie dazu, Noras Gesang auf dem Piano ehrfurchtsvoll zu begleiten. Aber ihr Vortrag war nicht viel wert. Da übte Nora sich so lange, bis sie es so machte, wie sie es haben wollte. Dafür war ihr Tinka außerordentlich dankbar.

Dann entdeckte Nora eines Tages Tinkas tiefe Altstimme, Und von diesem Tage an gab es Duette über Duette! Das Alter, in dem sie standen, erheischte jedoch Vorsicht, und wollte Nora nicht maßhalten, so wollte und konnte es Tinka. Nora war gewöhnt zu befehlen, so daß es manchmal selbst zu Handgreiflichkeiten kam; aber Tinka war so sehr gewöhnt zu siegen, wo ihr Gewissen ihr recht gab, daß Nora wie ein Hühnchen überwunden wurde

Das war die Grundlage dieser Freundschaft. Eine Mitschülerin, die Nora bewunderte und zugleich im Zaume hielt – die eignete sich ausgezeichnet zur Busenfreundin.

Aber auf Tinka wirkte Nora etwas so wie eine Reihe Kunsteindrücke auf denjenigen, der bisher nichts gesehen hat. Da Nora zudem unbedingtes Vertrauen zeigte, meinte die gewissenhafte Tinka, es müßte erwidert werden.

Alle wußten es, aber keiner sterblichen Seele hatte Tinka es vertraut: – Tinka war verlobt! »Er« war gerade in diesen Tagen als Student nach Christiania gezogen. Alle acht Tage bekam sie einen Brief von ihm; mehr als diesen einen wollte sie aus verschiedenen Gründen nicht haben. Fredrik war sein Name, Fredrik Tygesen. Sein Vater war der Kreisrichter Tygesen. Nora war »die erste in der ganzen Welt«, der sie dieses gestanden.

Gott, wie entzückt Nora war! Wirklich richtig verlobt – mit einem Brief wöchentlich und unter stillschweigender Einwilligung der Eltern! Wie war das zugegangen? Ja, das war das Merkwürdige, daß niemand von ihnen das wußte. Sie hatte einmal, als sie acht Jahre alt war, durch eine offene Tür Frau Rendalen und ihre Mutter von Auguste und Thomas Rendalen sprechen hören, – nämlich, was er zu seiner Mutter von Auguste, und was sie zu ihrer Mutter von Thomas gesagt. Und seitdem hatten diese beiden Kinder zusammengehalten, just wie jene es getan, aber niemals sich verabredet. Niemals.

Auf dieser einen festgegründeten Vertraulichkeit baute sich eine unwandelbare Freundschaft auf und durch Tinka schlang sich das Freundschaftsband weiter um andere Mitschülerinnen. Bald schrieb Nora ihren besten Freundinnen in Christiania nur noch von Zeit zu Zeit, und die Briefe begannen stets mit den Worten: »Es ist schon schrecklich lange her –; es macht mir wirklich Gewissensbisse, daß ich erst heute –« usw.

Aber es gab doch eine bestimmte Grenze für ihre Eroberungen in der obersten Klasse; und das war Nora durchaus nicht recht; am liebsten hätte sie ja gerade diejenigen zu Freundinnen gehabt, welche sich kühl gegen sie verhielten. Allein über diese Grenze konnte sie nicht hinaus. Der Grund lag darin, daß hier früher eine Königin gethront hatte; ja sie residierte hier noch. Ihre Machtmittel waren anderer Art; ob sie aber von geringerer Wirkung waren, mußte erst die Gegenprobe erweisen.

Zunächst war sie die reichste Erbin der Stadt. Zweitens kam bei der geringsten Aussicht auf Regen oder Schnee oder Sturm ein Diener mit einer Equipage herauf zur Schule gefahren, um sie abzuholen. Dann entstand die große Frage, wer mitfahren durfte. Fast immer hatte sie etwas Schönes und Neues; in bezug auf Taschengeld war sie so gestellt, daß sie, je mehr sie ausgab, um so mehr zur Verfügung hatte; die kleine zierliche Börse war in dieser Beziehung unglaublich weit. Sie bekam von Mama, sie bekam von Papa, sie bekam von den beiden unverheirateten Onkeln. Zudem war sie schön, taktvoll und rücksichtsvoll. Niemand hatte sie je ein heftiges Wort gebrauchen hören oder eine heftige Bewegung machen sehen, nicht einmal im Turnsaal; sie sprach stets in etwas gedämpftem Ton; alles an ihr hatte eine harmonische Form. In ihren Augen gab es nichts Häßlicheres, als sich selbst vergessen. Sie lebte dahin, als wandelte sie beständig auf Blumen. Und wer ihres Umgangs gewürdigt wurde, wandelte ebenfalls auf Blumen.

Wir kennen sie bereits: es ist Milla Engel.

Sonderlich begabt war sie nicht, aber fleißig; sie gab sich wirklich Mühe, wenn es eine Schwierigkeit zu überwinden galt. Alle mochten sie sehr gern leiden; manche bettelten gleichsam um ihre Gunst und einige schwärmten förmlich für sie.

Zu keiner dieser Gruppen gehörte Tinka Hansen.

Wollte Tinka sich hingeben, so konnte sie das nur an ein Wesen, welches das Gegenteil von ihr war; die ruhige pflichttreue Milla war ihr viel zu ähnlich.

Als dann Nora kam und sich zunächst an Tinka und durch Tinka an andere anschloß, da fühlte sich Milla verletzt, und als Nora sich auch an sie wandte, war es zu spät. Sie war sehr artig, sehr dienstwillig – aber nicht ein Wort über ihren Gesang, nicht ein Lächeln über ihre großstädtischen Bemerkungen, nicht ein Augenaufschlag, wenn die ganze Klasse bei einem ihrer lebendigen Vorträge bewundernd an ihren Lippen hing. Diese Gleichgültigkeit vermochte Nora nicht zu ertragen; sie ließ sich herbei, um Milla zu werben, – nach all den verschiedenartigen Methoden, welche nur ein junges Mädchen zur Verfügung hat ...

Dann kam's zur Parteibildung. Nora fand Milla nichtssagend, selbstsüchtig, kalt, pedantisch, damenhaft. Milla fand Nora – nein, Milla fand nichts an Nora; Milla ließ ihre Freundin reden und hörte nur zu. Noras flotte, großstädtische Sprache und freies Wesen waren unpassend; ihr launenhafter Umgang war unerträglich für jede, die etwas auf sich selbst hielt; ihre Begabung war nach jeder Richtung mittelmäßig; sie hatte keinen Charakter. Ferner meinte man aus gewissen Äußerungen schließen zu dürfen, daß sie auch keine Religion habe, und Millas Partei war religiös. Sie selbst wurde Ostern konfirmiert und ihre religiöse Mutter wurde immer kränklicher, was einen Hauch von Schwärmerei über ihr Antlitz wie über ihre Denkungsweise breitete. Sie fühlte sich wohl bei diesem Anflug von Schwärmerei; ja sie bedurfte ihrer, und sie war bemüht, auch ihrer Tochter ihre Eigenart mitzuteilen.

Während der Konfirmationszeit fand diese eine Vertraute an der Nichte der Fräulein Jensen, an der kleinen Anne Rogne, die damals sehr stark religiös angehaucht war. Sie war ein paar Jahre älter, aber von kleinem Wuchs; ihre Gesundheit ließ viel zu wünschen, ja mehr als einmal war sie sogar dem Tode nahe gewesen.

Anna hatte mehr Kenntnisse in der Religion als viele Erwachsene, und Karl Wangen war geradezu entzückt von ihr während der Konfirmationszeit. Etwas von ihrer Schwärmerei übertrug sie auf Milla, die nichts dagegen hatte, ein wenig zu schwärmen. Als die kleine Anna merkte, daß Milla empfänglich geworden, war sie überaus glücklich und erklärte Milla für »geistvoll«; es war ihr unbegreiflich, daß die beiden sich nicht schon früher entdeckt hatten.

Dann kam die Zeit, wo Millas Mutter von den Ärzten aufgegeben wurde. Da hatte die kleine Anna geradezu übernatürliche Kräfte; sie wachte gemeinsam mit ihrer Freundin bei der Kranken; sie las und sang und betete ihr vor; denn Frau Engel sollte und mußte gerettet werden! Der Arzt vermochte sie nicht zu retten, aber das Gebet, – wie fest sie daran glaubte!

Und als dann Frau Engel dennoch starb, hätte sie buchstäblich gern ihr Leben für die Tochter hingegeben. An und für sich war es ihr ein so schöner Anblick, die reiche, von allen Bequemlichkeiten des Lebens umgebene Erbin auf den Knien inbrünstig zu Christus beten zu sehen, Und nun die Gebete nichts genützt und sie dennoch glaubte, ja bei all ihrer Trostlosigkeit Gott noch für die Schicksalsschläge dankte und ganz Demut und Ergebenheit war, da schloß die kleine Anna einen Bund mit ihr, den nicht einmal der Tod lösen sollte.

Milla begann drei Wochen später als die anderen am Unterricht wieder teilzunehmen. Sie setzte sich zu Anna Rogne; und mit ihr kam sie auch fast täglich gefahren; und sie nahm sie nach Beendigung des Unterrichts wieder zu sich in den Wagen. Sie wohnte nämlich noch auf dem Lande, und Anna war fast immer bei ihr.

Es machte Aufsehen, als sie wieder zur Schule kam. Ihr Trauerkleid stand ihr zum Entzücken; ihr blasses Antlitz, ihr gedämpftes Wesen paßten dazu, wie matte Silberarbeit zum Samt. Durch die stille Weichheit, mit der sie alle, auch Noras Anbeterinnen, behandelte, sicherte sie sich eine rücksichtsvolle Freundlichkeit. Einige Tage war es, als begehe man nur eine Trauerfeierlichkeit zu Millas Ehren.

Allein da waren ein paar neue Augen, ein neuer Rücken, ein neuer Hals und neue Arme gekommen, gerade auf der Bank vor ihr. Eine neue Stimme, neue Bewegungen und – bei Milla kam dieses nicht zuletzt – ein neues Kleid. Und als dann auch der neue Hut und der neue Mantel hinzukamen, da sagte sich Milla, daß dieses ein kühnerer Farbenreichtum, ein feinerer Schnitt, eine reichere Ausstattung im einzelnen sei, als sie je an einem Kleide gesehen.

Sie wußte, wer diese neue Schülerin war – die Tochter des Oberzollkontrolleurs Holm aus Bergen, des Mannes mit dem braunen Gesicht, den großen, dunklen Augen und dem kreideweißen Lockenhaar, – ein merkwürdig scheuer Mensch, der trank, ja trank, so daß er sein Verbleiben im Amte nur der Nachsicht seiner Vorgesetzten zu danken hatte ... Er hatte zehn Kinder!

Thora war die älteste und von ihrem zwölften Jahre an teils in England teils in Frankreich erzogen worden, – bei einem Oheim, der erst in dem einen, dann in dem anderen Lande Schiffsmakler gewesen. Jetzt war er tot und hatte seiner Pflegetochter eine kleine Leibrente hinterlassen. Das alles wußte Milla. Dann hatte Anna ihr gelegentlich auch erzählt, daß Thora Holm hübsch sei.

Aber das war nicht das rechte Wort. Wo hatte denn Anna ihre Augen gehabt? Thora war geradezu eine Schönheit, – und dann hatte sie etwas so Besonderes, etwas so »Ausländisches« an sich ... Anna hatte doch wirklich ein schlechtes Auge; denn hierüber waren alle einig.

Am ersten Tage mußte Milla in einem fort Thora ansehen. Und obschon diese ihr den Rücken zukehrte, konnte sie das doch nicht still hinnehmen, sondern wandte sich und bückte sich, als fühlte sie Millas Augen im Nacken. Je unruhiger Thora wurde, desto ruhiger studierte Milla sie ... Zu Hause im Wohnzimmer stand der junge marmorne Augustuskopf: den hatte Milla von klein auf bewundert. Hier nun saß dieser Kopf auf der Bank vor ihr auf weiblichen Schultern und drehte und wendete sich im Glanz der Sonne und der Farben! Ganz dieselbe Stirn, ganz dieselbe Kopfform; die Breite, die Wölbung der Wangen, die Schwingung der Brauen, die Rundung des Kinns – ganz wie am Augustuskopf! Die Augen waren anders und lebhafter, – d. h. die des Augustuskopfes machten den Eindruck, als wären sie etwas erstorben oder doch verschleiert. Diese spielten unablässig in bläulichgrauen Brechungen unter den langen dichten dunklen Wimpern. Die Lippen voll und gebogen. Das Haar braunschwarz, je nachdem das Licht darauf fiel. Der Teint spielte ins Bräunlich-Bleiche, – Milla fand nicht die rechte Bezeichnung dafür; es war eine Mischung, die sie noch nie gesehen. Und auf der linken Wange ein etwas zu großes Muttermal; das mußte sie genieren; denn niemals kehrte sie ihr diese Wange zu, so oft sie sich umwandte, um Milla anzusehen. Die Gestalt war voll entwickelt; recht kräftig und wie ausgemeißelt. Vermutlich war sie über sechzehn Jahre alt. Augenblicklich machte sie den Eindruck, als sei sie nicht ganz wohl; sie hatte leichte blaue Ränder unter den Augen. Die ganze Erscheinung war aufsehenerregend; Milla betrachtete sie ohne eine Spur von Neid. Der Geschmack der neuen Dame war feiner als der all der Mädchen, die sie bisher gekannt; wieviel mußte sie wissen!

Von Zeit zu Zeit betrachtete Milla die neben ihr sitzenden Mitschülerinnen. Da saß Anna – spitz und mager; namentlich die verhältnismäßig langen, dünnen, bläulich-bleichen Finger beschäftigten heute Milla ganz besonders. Das war doch etwas ganz anderes!

Sollte sie mit der neuen Mitschülerin sprechen, sich entgegenkommend verhalten? Vielleicht ging das etwas zu weit ... Und als sie sie in der zweiten Pause mit Nora Arm in Arm gehen sah, konnte davon natürlich nicht mehr die Rede sein.

Auch war da etwas geschehen in den drei Wochen vor Millas Rückkehr; in aller Stille hatte sich eine Wandlung vollzogen.

Eines Morgens hatte Thora Holm ihren Einzug in die Schule gehalten – und der war nicht glücklich ausgefallen. Sie kam zu spät, traf niemand in dem großen Flur und wußte nicht wohin; alle waren zum Morgengebet in dem Laboratorium versammelt. Da kam Karl Wangen, der zu einem Kranken geholt worden, und stürmte sie fast über den Haufen. Er wurde so verlegen, wie es nur ein Geistlicher werden kann, hielt sie für die neue Lehrerin und machte sie und sich selbst mit seinem linkischen Wesen verwirrt. Es dauerte daher eine Weile, ehe sie in ihrer Bergenser Sprache erklären konnte, wer sie war; und als er das hörte und es ihm durch den Kopf fuhr, daß sie nach des Onkels Tode manche Unannehmlichkeiten gehabt und nun zu Hause so betrübende Zustände gefunden, rief er aus:

»Hier wollen wir alle so freundlich, so lieb gegen Sie sein –!« und ergriff ihre Hand. »Willkommen! Willkommen!«

Das genügte; sie brach in Tränen aus. Sie war nervös und furchtsam; alles war ihr so neu und unbekannt. Aber er wußte sich nicht anders zu helfen, als die Tür zu öffnen und »Mutter!« zu rufen. Und heraus kam Frau Rendalen mit der schiefsitzenden Brille und fragte etwas kurzab – denn Frau Rendalen drückte sich immer bündig aus, was sie auch von allen anderen verlangte –:

»Was gibt's, Karl?«

»Da ist Fräulein Holm, die Tochter des Oberzollkontrolleurs Holm.« »Gut, laß sie eintreten,« antwortete Frau Rendalen und machte die Tür ganz offen. »Willkommen!« sagte sie auf der Schwelle erscheinend und dem jungen Mädchen in dem nicht ganz hellen Flur die Hand reichend.

Es lag etwas zuviel Befehlendes in diesen Worten, als daß Thora nicht sofort hätte gehorchen sollen. Da sah denn Frau Rendalen, daß sie weinend zur Schule kam – wie kleine fünfjährige Kinder. Verwundert sah sie die junge Dame an, deutete auf einen Stuhl, den Thora schüchtern einnahm, und bat eine der Lehrerinnen, ihr beim Ablegen von Hut und Mantel behilflich zu sein.

Sie sangen ein geistliches Lied, und Karl Wangen hielt eine kurze Ansprache. Er verbreitete sich über die guten Eigenschaften, die wir an unseren Mitmenschen fänden. Wir sollten immer denken, daß dies von Gott dem Menschen eingepflanzte Tugenden wären und darum jeden Menschen als ein Geschöpf Gottes achten und lieben.

Das klang Thora in die Ohren wie eine Harmonie schöner Stimmen. Sie fühlte sich bedrückt infolge ihres unglücklichen ersten Auftretens und des Eindrucks, den es gemacht – namentlich auf Frau Rendalen; aber auch auf die anderen; das hatte sie wohl gemerkt.

Sie konnte keine Ruhe finden, drehte sich hin und her, wenn jemand sie ansah, und wandte sich ihren Mitschülerinnen bald zu, bald von ihnen ab, als wollte sie gesehen und auch wieder nicht gesehen sein. Sprach man mit ihr, so wurde sie rot und antwortete etwas, das sie im nächsten Augenblick widerrief.

Und so war es nicht bloß am ersten Tage, sondern auch am zweiten und dritten. Der norwegischen Geographie und Geschichte war sie ganz unkundig; ja sie verstand kaum etwas anderes als englisch und französisch und errötete über das ganze Gesicht, als das entdeckt wurde. Als es sich dann aber zeigte, daß sie diese beiden Sprachen fließend redete, wurde sie ebenfalls rot. Zum Turnen wollte sie sich gar nicht verstehen; schließlich wendete sie ein, sie habe keinen Turnanzug. Dann nähte sie sich einen zurecht, der ein Meisterwerk von Koketterie war. Aber das stellte sie wieder in Abrede; es war ein ganz gewöhnlicher, ja im Grunde häßlicher Anzug. Ferner konnte sie, obgleich sehr kräftig, das Turnen nicht vertragen und begann zu weinen.

Fräulein Hall, welche die Turnübungen leitete und je nach den körperlichen Eigenheiten der Schülerinnen besondere Bewegungen einführte, nahm sie auf die Seite und sah sie an. Fräulein Hall hatte ihre Muttersprache zum Teil vergessen und erinnerte sich im Augenblick nicht, daß Thora englisch sprach; und während sie sie untersuchte, bemühte sie sich, das rechte Wort zu finden. Thora mißverstand das, lief von ihr fort, kleidete sich um, rannte geraden Weges nach Hause und wollte nicht mehr in die Schule.

Es kostete große Mühe, sie zu bewegen, wieder die Schule zu besuchen. Sie mußte bessere Kost haben, als sie sie zu Hause erhielt; denn sie hatte Anlage zur Bleichsucht. Das war das Wort, auf welches Fräulein Hall nicht hatte kommen können. Thora wohnte nun mit Fräulein Hall in demselben Zimmer. Sie war die erste, der das gestattet wurde; von dieser Zeit an wohnte fast immer eine Schülerin mit Fräulein Hall zusammen.

Nach und nach legte Thora ihr ursprüngliches Wesen wenigstens so weit ab, daß sie still sitzen konnte; doch war ihr das nicht möglich, wenn jemand sie unverwandt anblickte oder von ihr sprach. Sie fühlte das im Rücken, meinten die Mitschülerinnen. Sie stellten Versuche an und amüsierten sich köstlich, wenn sie wirklich unruhig zu werden anfing, sich schließlich umdrehte und sie wieder anblickte.

Während des ganzen vorhergehenden Jahres hatte Thora in der Pension gewohnt; weshalb sie natürlich auch jetzt noch darin wohnte. Mit Nora sprach sie nicht anders als im Vorbeigehen. Eines Sonntags jedoch fragte Thora sie, ob sie erlauben wolle, ihr das Haar zu machen.

Das erregte in der Pension ein solches Aufsehen, als ob sie Nora neues Haar angeboten hätte. Von Zimmer zu Zimmer ging eine Botschaft, und alle kamen zusammen, die Großen wie die Kleinen; alle wollten sehen, wie Nora neues Haar bekam. Sie hingen förmlich übereinander, während das große Ereignis sich zutrug. Aber das, was nun wirklich geschah, war nicht minder seltsam – das Gelächter verwandelte sich bald in einen wahren, von Händeklatschen begleiteten Jubel.

Als eines Tages Noras Haar in Unordnung geraten war, hatte Thora sogleich gesehen, daß sie dies kleidete. Das paßte zu diesen großen, weitgeöffneten Augen, welche ihr kleines Gesicht ganz beherrschten. Eine Stirn war fast gar nicht vorhanden. Von Wangen kaum eine Spur, und der Mund so groß wie eine Kirsche; die Nase dagegen war verhältnismäßig groß; aber sie gab den Augen gleichsam die Richtung, so daß sie sich den Augen ebenfalls unterordnen mußte.

Jetzt galt es, eine Haartracht zu erfinden, welche zu den Augen paßte. Thora hatte viel gesehen und war gewohnt, »Inspirationen« zu bekommen, aber im Punkte eigentümlicher Haartrachten hatte sie noch keine gehabt... Da hatte sie's!

Natürlich begann sie damit, das Haar aufzulösen und es zu kämmen; dann nahm sie das Haar des Vorderkopfes, legte es lose geflochten in zwei große Wulste, auf jede Seite einen. Das war an und für sich sehr wenig, aber die Wirkung war überraschend. Wenn Nora mit den Augen aufblickte, so nahm sich das Haar aus, als hebe es seine Schwingen und wolle davonfliegen. Dann wieder war es, als flammte es – es spielte ja auch ein wenig ins Goldbraune.

Bisher hatte man Nora niemals schön genannt; an ihr zog etwas anderes die Aufmerksamkeit auf sich. Aber jetzt mußte sogar Thomas, der sonst die einzelnen Schülerinnen nicht sonderlich zu beachten pflegte, in der nächsten Unterrichtsstunde innehalten, als er zufällig aufblickte und Nora ansah. Die ganze Klasse wußte was er dachte.

Diejenige, welche vielleicht am wenigsten sich daraus machte, war Nora selbst. Sie war jetzt mit ihrem Haar fertig und brauchte sich in Zukunft nicht mehr darum zu kümmern. Aber als Thora Holm bei der weiteren Entwicklung ihrer Freundschaft für Toilette zu schwärmen anfing und mit der ihr eigenen Übertreibungssucht versicherte, Nora sei »ganz ätherisch«, Noras Spiel »entzücke einen förmlich« – – ja das war etwas! Derartige Äußerungen der Bewunderung mußte sie mehr hören, und so pflegte sie diese Freundschaft. Thora Holm machte immer neue Entdeckungen; vor allem die, daß Nora stets recht hatte, selbst wenn sie gegen andere launenhaft und heftig gewesen, ja sogar, wenn sie ihre kleinen Anfälle von Untreue gehabt ... Im Grunde genommen hatte Nora immer recht, immer ...

Da wurde sich Nora bewußt, daß Thora Holm die erste war, welche sie je ganz verstanden. Wie seltsam, daß eine Fremde, ein Mädchen, das mit neuen, unparteiischen Augen sah, sie sofort entdeckt hatte!

Je inniger der Verkehr dieser beiden sich gestaltete, um so begabter wurden sie. Nichts ging über Thoras Talent fürs Geschichtenerzählen, meinte Nora; und sie versammelte alle ihre Freundinnen, damit sie zuhörten – und dann ging's los! Märchen und Romane um die Wette – was hatte Thora nicht alles gelesen, welch einen reichen Schatz barg sie in ihrem Gedächtnis! Tausend und eine Nacht – nicht den Auszug für Kinder, nein die echten Geschichten – konnten die Mädchen wieder mit demselben Interesse anhören wie kleine Kinder. Daneben liebte sie auch ganz moderne Geschichten; doch mußte das Liebespaar immer edel und unglücklich sein. Diese fünfzehn-, sechzehn-, siebenzehnjährigen Damen besaßen aus verschiedenen Gründen außer ihren Schulbüchern nur eine zusammengestohlene Lektüre, was zu allerlei Heimlichkeiten führte. Die Bücher, welche Thomas ihnen vorgelesen, hatten schnell ihren Horizont erweitert und ihre Sehnsucht gesteigert, so daß Thora ihnen höchst willkommen war.

Aber während der Zeit, wo nichts erzählt wurde, wollte Nora sie ganz für sich haben, sie vollständig besitzen; Nora–Thora; Thora–Nora waren förmlich ineinander verschlungen; niemand vermochte sie zu trennen. Auch erklärte es Nora ganz frei heraus, daß sie mit ihrer Freundin am liebsten allein sein möchte.

Man kannte Nora und wußte, daß dies nach einigen Tagen vorübergehen würde; man lachte nur darüber. Aber da war eine, die nicht lachte.

Tinka Hansen konnte Treulosigkeit nicht ertragen. Einige Male hatte sie Nora streng ins Gebet genommen und sie verwarnt. Diesmal bewahrte sie Schweigen und ließ die Strafe darin bestehen, daß sie sich vollständig fernhielt; selbst beim Geschichtenerzählen vermochte Nora sie niemals heranzuziehen.

Bald kam es Nora öde und leer vor in all den herrlichen morgenländischen Schlössern. Sie wurde sich allmählich bewußt, daß sie ohne Tinka sich nicht mit voller Freiheit hingeben konnte; ohne sie wagte sie nicht einmal ordentlich zuzuhören; Thoras Romane waren oft recht »französisch«. Aber ein Jahr war sie nun an Tinkas Grenzen gewöhnt; sie war sich nicht sicher, ob sie sich innerhalb oder außerhalb dieser Grenzen befand; sie empfand etwas wie ein böses Gewissen. Und dann ging es bald über Thora her.

Sie wußte nicht, woran sie sich halten sollte; despotisch unterbrach sie die angefangenen Erzählungen und befahl etwas anderes vorzutragen; aber auch davon wollte sie nichts hören. Sie gab Versprechungen und hielt sie nicht – sie langweilte sich.

Gerade als diese Periode begonnen hatte, kam Milla wieder zur Schule.

Am Donnerstagabend bei Frau Rendalen – Thomas sollte ihnen gerade ein neues Schauspiel vorlesen – kam Thora Holm zufällig in Millas Nähe und betrachtete deren neues schwarzes Kleid; es war nicht dasselbe, welches sie in der Schule trug. Indem sie, ohne dem Kleide nahezukommen, mit den Fingern Figuren in der Luft zeichnete, sagte sie:

»Die Garnierung müßte so sein und nicht so – auch würde sie sich etwas schmaler viel schöner ausnehmen.«

Auf Antwort wartete sie nicht; sie ging weiter und setzte sich.

Am folgenden Tage kam Milla vor der Morgenandacht zu ihr und bedankte sich, sie hatte es probiert und gefunden, daß sie recht habe. Zu einem längeren Gespräch war keine Zeit mehr, aber in der ersten Pause suchten sie sich unwillkürlich einander auf.

»Wie konnten Sie das nur gleich sehen?« fragte Milla.

»Ich hatte es kürzlich an einer Puppe probiert,« antwortete Thora.

»An einer Puppe?« fragte Milla leicht errötend.

Da fühlte Thora, daß sie das vielleicht nicht hätte verraten sollen, sie war nie mit sich einig, was das Richtige sei. Welch einen feinen Instinkt Milla Engel haben mußte, daß sie sogar ihretwegen errötete!

»Also Sie haben Puppen?« fragte am folgenden Tage Milla Engel lächelnd, indem sie vorbeiglitt.

Thora versicherte ... ja, es war nicht recht zu verstehen, was sie eigentlich versicherte: daß sie oder ihre Schwester Puppen habe, – daß sogar verheiratete Frauen oft noch Puppen hätten, so daß also nichts Schlimmes dabei sein könnte, – und daß sie sehr wohl das Unpassende einer solchen Liebhaberei einsehe ... Dieses und anderes sagte in ihrer singenden Sprechweise die Bergenserin, und Milla lächelte dazu.

»Möchten Sie mich nicht heut nachmittag besuchen? Wir sind jetzt vom Lande zurückgekehrt.«

Thora wurde sich dieser Wendung erst bewußt, als sie sich schon verneigt hatte. Dann war auch dieses ihr höchst unangenehm.

Aber gegen sechs Uhr fand sie sich ein ...

Das Haus des Konsuls Engel war das einzige in der Stadt, welches auch am Tage verschlossen blieb. Wenn man klingelte, kam zu gewissen Zeiten ein Diener und öffnete; zu anderen Stunden ein Dienstmädchen. Und dann trat man in ein Haus, in welchem die Brüsseler Teppiche nicht bloß in den Zimmern, sondern auch in den Korridoren und auf den Treppen lagen, – in welchem man gleich an der Haustür sich zwischen zwei Spiegelwänden befand, in denen man sich von den Füßen bis zur Hutfeder betrachten konnte.

Thora ward nach oben geführt. Dort befanden sich die Zimmer des »gnädigen Fräuleins«.

Sie ward herzlich empfangen. Es waren dieselben Gemächer, in welchen Frau Engel während der letzten Jahre sich aufgehalten und die sie nur selten verlassen hatte. Hier war sie auch gestorben. Das war zugleich der Grund, weshalb in diesem Jahre die Familie so spät aufs Land gezogen und erst jetzt zurückgekehrt war.

Alles war hier vereint, was ein Zimmer Anheimelndes und Bequemes enthalten kann. Die Möbel waren alle wie weiche Decken; wohin man sich setzte, wohin man faßte, alles gab nach. Der Bezug war von moosgrüner Seide; ebenso die Gardinen und Portieren. Die Wände hatten eine unbestimmte dunkle Farbe. Eine altertümliche Chiffonniere von Rosenholz mit eingelegter Arbeit und unzähligen Gemmen ...

Thora konnte sich gar nicht müde sehen. Ein Erard mit geschnitzten Köpfen und Emblemen; ein Bücherschrank in demselben Stil. Aber den Gemälden, namentlich den Landschaften, schwebte etwas von jenem stimmungsvollen Sehnen, wie es die Abendsonne hervorruft; gedämpft, beinahe schwül. Thora ging von einem Gegenstand zum anderen; jeden einzelnen betrachtete sie wie eine Persönlichkeit, mit welcher sie in nähere Beziehung zu kommen wünschte.

Dann ins Schlafzimmer! Hier bewunderte sie den weichen Teppich, in welchem der Fuß fast verschwand, die kleine Chaiselongue in der einen Ecke, das Bett mit den kostbaren Vorhängen, die durch ihre Mannigfaltigkeit und Zierlichkeit auffallenden Toilettengegenstände ...

Milla freute sich, ihr dies alles zeigen zu können.

Noch niemals, bemerkte sie, habe sie jemand die Gemächer ihrer seligen Mutter gezeigt.

Nur an einem Möbelstück ging Thora stets achtlos vorüber; aber schließlich konnte sie nicht mehr an sich halten; das störte ja die ganze Harmonie.

»Liebe, was ist denn in dem Schrank?« fragte sie. »Warum steht der hier?«

Lächelnd antwortete Milla, er steche allerdings sehr von seiner Umgebung ab, das wisse sie; früher habe er auch nicht dagestanden. Er gehörte nämlich Milla und war ihr von Anfang an überallhin gefolgt.

»Aber kann er denn nicht anderswo stehen?«

»Nein, das läßt sich nicht gut machen.«

Es lag etwas Zurückhaltendes in der Antwort; Thora konnte nicht weiterfragen.

Als Thora sich verabschiedete, bat Milla sie herzlich, doch bald wiederzukommen. Aber das beste sei, sie sagte es ihr vorher, damit sie allein sein könnten; dann wär's am angenehmsten.

Thora begriff, daß dies an Anna Rognes Adresse gerichtet war; aber das war ja nicht ihre Sache.

Dann geschah es, daß sie, als sie das nächste Mal in der Dämmerung Nora und ihren Freundinnen – welche sich auf Decken und Teppichen gelagert hatten – ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht erzählte, leichthin die Bemerkung machte: »Diejenigen von allen meinen Freundinnen, welche Gulnare am meisten gleicht, ist Milla Engel.«

Das nahm sich in dieser Umgebung aus, wie wenn in des Königs Nähe gesagt wird, er sei nicht der weiseste Mann im Reiche.

Nora blickte erstaunt auf; die Freundinnen waren empört. Thora fühlte, daß sie etwas Unpassendes gesagt, sie suchte sich näher zu erklären, indem sie Milla jene »passive« Schönheit beilegte, auf welche es hier ankam. Die Worte »aktiv« und »passiv« waren damals Schlagworte in der obersten Klasse; es gab »aktive« und »passive« Menschen; »aktive« und »passive« Augen; »aktive« und »passive« Farben.

»Aber du lieber Gott,« sagte eine der Freundinnen, »Milla hat ja nicht einmal schwarzes Haar! Sie ist ja blond!«

»Das ist ja Nora ebenfalls,« antwortete die unbesonnene Bergenserin.

»Ich will keine passive Schönheit – keine orientalische Prinzessin sein,« entgegnete diese beleidigt.

»Nein, das meint' ich ja auch nicht; damit meint' ich nur – –«

Sie stockte, sie wußte wirklich nicht, was sie eigentlich gemeint hatte.

»Das ist ja vollständig Unsinn,« sagten die anderen und setzten Thora so lange zu, bis sie mit Tränen in den Augen erklärte, Milla sei die Feinste und Schönste in der Schule; sie (Thora) fühle sich unendlich glücklich, eine Freundin zu haben, die so taktvoll, so rücksichtsvoll sei. Das waren sicherlich nicht alle.

Das ging über alle Grenzen! Selbst Gina Krog, die sonst immer so nachsichtig war, trug jetzt kein Bedenken, mitzuteilen, was sie schon vor zwei Tagen erfahren, aber niemand hatte sagen wollen: daß Thora Milla besucht habe und daß sie sich duzten!

Es wurde still, grabesstill. Nach einer Weile war Nora verschwunden ... die Gesellschaft hatte sich aufgelöst.

Thora suchte eine Erklärung abzugeben, aber niemand wollte sie anhören. Keine von den Mädchen hatte je einen Fuß in Milla Engels Zimmer gesetzt – aus dem einfachen Grunde, weil sie nie eingeladen waren ...

Wie Thora sich und ihr Kopfkissen an diesem Abend auch drehen und wenden mochte, sie fand keinen Schlaf. Es wurmte und peinigte und schmerzte sie, daß sie mit keiner innig befreundet sein konnte, ohne sich mit den anderen zu verfeinden. Jetzt hielt die ganze Pension sie für ein treuloses Mädchen – der Gott da oben wußte, daß sie das nicht wahr! ... Vielleicht hatte sie sich mit einem unauslöschlichen Makel behaftet ... Sie empfand eine so schreckliche Unruhe; sie suchte sich an etwas Festes anzuklammern, aber immer entglitt es ihr wieder.

Dann begann sie bitterlich zu weinen. Sie mochte beide, Milla wie Nora, gern leiden – jede in ihrer Weise; sie waren ja auch so verschiedene Naturen. Warum durfte sie das nicht, wenn es ihr Bedürfnis war? Was sollte sie beginnen? Sie wollte weder die eine noch die andere opfern ...

Der nächste Tag war ein Sonntag; auch sie mußte zur Kirche gehen; aber es war ihr gar nicht möglich, auf andere zu warten, welche ebenfalls zur Kirche gingen ... Sie stahl sich fort und ging zu Milla.

Auch Milla war zum Kirchengehen angekleidet; sie begegneten sich im Korridor. Aber als Thora sie dringend um eine Unterredung bat, sah sie sie überrascht an, nahm sie mit sich ins Zimmer und drehte den Schlüssel um.

Jetzt begann Thora zu weinen und alles wahrheitsgetreu zu erzählen; sie verhehlte es nicht, daß und warum sie beide gern leiden möchte; sie fühle sich so unendlich verlassen, und Gott wisse, welche Folgen das für die Zukunft haben könnte. Nora habe eine solche Macht in der Pension und in der Schule.

Während der Erzählung und in dem Augenblick, als Thora ein Weilchen innehielt, um zu weinen, hörte Milla jemand an der Tür ... Da klopfte es sogar.

Sie öffnete so weit, daß sie gerade hinausschlüpfen konnte. Nach einer Weile kam sie wieder herein und erzählte, sie habe sich mit Anna Rogne verabredet, in die Kirche zu gehen; jetzt aber hätte sie sich mit Kopfweh entschuldigt; zwar hätte sie das am vorigen Sonntag auch getan, aber es ginge nicht anders, daran lasse sich nichts mehr ändern. Milla tat es sehr leid um Thora; sie war ihr aufrichtig zugetan; das zeigte sich jetzt klar. Sie gelobte, es nicht übelzunehmen, was Thora etwa ersinnen möchte, um mit Nora und ihren vielen Freundinnen wieder auf guten Fuß zu kommen. Milla war wirklich sehr lieb und nett.

Thora konnte ihre Freundin wegen dieser Nachsicht nur noch eben umarmen und küssen: sie mußte fort, um sich in der Kirche zu zeigen. Aber durfte sie nicht am Nachmittage wiederkommen? Wie getröstet sie sich jetzt schon fühlte! Doch sie mußte sich noch weiter mit ihr besprechen, es war ihr so ängstlich zumute; alles müsse sie mit ihr überlegen.

Milla bat sie, wiederzukommen, sobald sie frei sei.

Gleich nach dem Kaffee war sie wieder da, und Milla flüsterte, nachdem sie abgeschlossen und während sie den Arm um ihren Nacken schlang – nun wolle sie ihr eine Freude bereiten; wenigstens glaube sie, daß es ihr Freude machen würde. Niemand, absolut niemand habe sie bisher gezeigt, was sie jetzt sehen solle. »Der Schrank dort –«

»Der Schrank dort –?«

»Ist früher mein Puppenschrank gewesen.«

»Dein Puppenschrank!«

»Aber alle wissen, daß er das jetzt nicht mehr ist,« fuhr Milla fort.

Mit diesen Worten öffnete sie den Schrank – die großen Flügeltüren, die unteren sowohl wie die oberen, drehten sich zu gleicher Zeit, und die Mädchen blickten in die vielen Stockwerke eines Hauses, von denen das unterste eine vollständige, ungemein kokette Küche, sowie Speisezimmer und Waschstube, der oberste Stock einen großen und eleganten Salon mit den feinsten mit Seide bezogenen Möbeln, einen Tisch von Rosenholz, Kaminspiegel und Uhr enthielt ... Im dritten Stock befanden sich die Schlafgemächer mit den reizendsten Bettchen. Der vierte Stock war für die Garderobe bestimmt – eine großartige Puppengarderobe in Seide, Samt und Moiré antique in verschiedenen Farben; ein ganzes Lager von Stoffen, die noch nicht zugeschnitten waren, allerlei Reste, die offenbar jahrelang mit großem Fleiß gesammelt waren. Und welch ein Vorrat von Leinen und Strümpfen, Unterkleidern, Hüten, Mänteln, Gürteln und Schmucksachen! ... Thora schrie hell auf. Bald lag sie auf den Knien, bald richtete sie sich auf den Zehen hoch auf; aber noch hatte sie nicht das geringste mit einem Finger angerührt, sondern nur alles mit den Augen verschlungen. Mit einem Blick ließ sich das nicht übersehen, dazu war es zu viel, zu verschiedenartig, zu mannigfach, zu unerwartet; nicht einmal die Puppen hatte sie bis jetzt gezählt, – eins, zwei, drei, vier – fünf – sechs! sieben!! acht!!!– Leise hatte sie begonnen, aber bei jeder Nummer hob sie die Stimme, so daß Milla sich beeilte, ihr zu sagen: »Zwölf, zwölf! – Es sind zwölf!«

»Zwölf! Ein ganzes Dutzend! Himmlischer Vater! Du hast also alle Puppen aufbewahrt, die du je bekommen? Nicht eine einzige verdorben und zerschlagen?«

– O doch; aber nicht mehr von ihrem siebenten Jahr an.

»Wart' mal!« Und mit einer Feierlichkeit, als fürchtete sie, sie könnten verschwinden, streckte Thora behutsam die Hand nach den Schätzen aus und nahm die allerreizendste Puppe, die große in der hellroten Seide, mit Schuhen und Hut von derselben Farbe, einem dunkelroten Sonnenschirm und einem im Gürtel steckenden Fächer und mit Unterkleidern, die, als wären sie für eine erwachsene Dame bestimmt, mit Spitzen und Stickereien gesäumt waren, während das Kleid eine Tasche mit Taschentuch hatte und an den Händen so elegante und ausgezeichnet passende französische Handschuhe steckten –; und dann noch eine reizende kleine Brosche in Form eines Vergißmeinnicht und Armband und Uhr in demselben Geschmack ...

Sie war stumm vor Bewunderung, und während sie die Puppen drehte und wendete, den Schnitt des Kleides, die Zusammensetzung der Unterkleider musterte, sie bald weit von sich ab, bald nahe haltend – da klopfte es leise an die Tür.

Es war jemand die Treppe herauf und durch den Korridor gekommen, ohne daß die aufgeregten Mädchen etwas gehört hatten. Sie fuhren erschreckt zusammen.

Milla legte einen Finger an den Mund; nicht einen Laut! Sie wurde rot und dann plötzlich ganz bleich. Natürlich war's Anna. Aber Anna hatte niemals die Puppen gesehen, durfte sie nicht sehen. Sie würde so etwas gar nicht begreifen! Hier waren, erklärte sie später, sogar zwei Puppen in Trauer; aber Anna hatte Milla in der letzten Zeit so viel in Anspruch genommen, daß sie mehr als diese nicht hatte umkleiden können, – es wäre ihre Absicht gewesen, sie ihr alle in Trauer zu zeigen; das wäre sicherlich ganz reizend gewesen ... Da klopfte es zum zweitenmal, unsicher, matt ... Sie hielten den Atem an; Milla war ganz außer sich ... Dann hörten sie sich entfernende Schritte; und jetzt lauschten sie mit solcher Spannung, daß sie sogar die Schritte auf der Treppe vernahmen. Eine solche Unannehmlichkeit, es war zum Verzweifeln! Milla hatte doch die Anordnung getroffen, daß niemand als Thora vorgelassen würde!

Aber das Mädchen, an welches sie diese Verfügung erlassen – ihr eigenes Kammermädchen – mußte nicht zugegen gewesen sein, obgleich sie gerade jetzt Dienst hatte. Was sollte Milla beginnen?

Aber von diesen Betrachtungen ward sie durch einen Sturmwind abgelenkt.

*

Nora lag bei Tinka Hansen auf dem Bett. Es war eine kleine, blaugestrichene Wachstube in Schuhmacher Hansens neuem Hause am Markt. Außer dem Bett befanden sich darin ein braun angestrichener Bücherschrank, ein paar Stühle, eine große, für drei Personen bestimmte Waschtoilette, ein kurzes hohes Sofa, auf welchem jetzt Tinka saß und ihre Freundin betrachtete, während sie den rechten Arm auf den Tisch vor sich gestützt hatte.

Schluchzend lag Nora auf dem Bett, und Tinka sah sich das gelassen an. Jetzt hatte auch Nora erfahren, wie einem die Treulosigkeit ans Herz greift; jetzt wußte sie, wie es wurmt und peinigt, einer anderen wegen verlassen zu werden.

Aber es war mehr als dieses Verlassensein. Sie war abgesetzt worden, in den Staub getreten, vernichtet. Erst hatte Thora sie hoch erhoben; an ihr haftete ja kein Makel; jetzt hatte diese selbe Thora sie fallen gelassen, – der Milla Engel wegen!

Oh, die Welt war eitel Lug und Trug!

»Mein Gott, Tinka, warum magst du mich denn nicht leiden? Nu weißt nicht, wie unglücklich ich bin!«

Aber Tinka bewahrte Schweigen.

»Ohne dich kann ich nicht leben, Tinka; nein, nein, ich kann nicht! Seit heute morgen weiß ich, daß ich nur Fehler an mir habe. Es ist kein Halt in mir.«

»Das ist's nicht,« tröstete Tinka.

»Nein, es ist kein Halt in mir. O Gott, was soll ich beginnen? Kannst du mir denn gar nicht zureden?« Und sie brach in noch heftigeres Weinen aus.

»Du willst bloß angebetet sein, Nora.«

»Sage das nicht, Tinka.«

»Ohne Anbetung fühlst du dich nicht glücklich ... und der Anbetung wird man endlich überdrüssig.«

»Was soll ich machen, Tinka? Bei Gott, ich bin ihrer selbst überdrüssig. Das glaubst du nicht? Aber es ist wahr. Namentlich jetzt, seitdem auch Milla angebetet wird. Hu, so etwas ekelt einen an!«

»Wohl nur deshalb, weil jetzt Milla an die Reihe gekommen ist.«

»Nein, bei Gott, Tinka, nicht deshalb« – und sie richtete sich auf den Ellbogen auf.

»Thora hat es zu arg gemacht, deshalb bin ich der Sache überdrüssig. Ja, das bin ich! Und bedenke, jetzt ist sie bei Milla!« Und sie warf sich wieder hin und weinte vor Gram und Beschämung.

Plötzlich richtete sie sich auf: »Das ist ja widerwärtig; ich verachte mich selbst! Du weißt nicht, was für Gedanken mir seit heute morgen durch den Kopf gegangen sind! Hilf mir, Tinka! Du bist die einzige von allen, die aufrichtig gegen mich ist.«

Tinka saß unbeweglich. Nora warf sich wieder hin, wandte sich ab und weinte.

»Ich kann es nicht begreifen,« sprach endlich Tinka; »daß du, die so sehr schwärmt für – –«

»Sprich das Wort nicht mehr aus, Tinka!« unterbrach sie Nora, mit der Hand eine abwehrende Bewegung machend; »es ist mir so zuwider, seitdem auch Milla es gebraucht; auch Milla schwärmt! Kannst du dir so etwas denken!«

»Gut, ich will nicht mehr ›schwärmen‹ sagen – –«

»Ich bitte dich darum –«

»Sondern ›interessieren‹; also ich kann nicht begreifen, daß du dich so sehr für alles interessierst, was schön und groß ist, und daß du auch so mutig bist – denn das bist du doch ... Du würdest ja in den Tod gehen für das, was du für wahr und recht hältst ...«

»Ja, das kann ich, Tinka! Ich glaube, das könnt' ich!« Sie richtete sich halb auf ... »Oh, wie wohl es tut, wieder so etwas zu hören – und nun aus deinem Munde; ich war wie zerschlagen!«

»Ja, nun kommt es, was ich sagen wollte: Ist es nicht eine Schande, daß jemand, der gut ist, doch ein solcher Pfau sein kann!« ...

»Pfau, Tinka?!«

»Ja, Pfau ... Du siehst aus wie ein Pfau.«

»Ich? Ich meine, du – –«

»Ich hab' es nicht gesagt –«

»Das konnt ich mir denken.«

»Thora hat es gesagt ...«

»Thora –? Oh, die Falsche!«

»Aber Thora hat recht: du gleichst auf ein Haar einem Pfau, Nora ... Dein dünnes kleines Gesicht ... Und dann bist du so schmächtig ...«

»Aber Tinka?!«

»Ja, es ist die Wahrheit. Darüber sind wir Freundinnen alle einig. Wir andern sollten gleichsam die Augen auf deinem Pfauenschweif sein ... Ach, das wäre nett.«

Nora warf sich hin, schluchzte und heulte und vergrub sich mit Kopf und Händen im Kissen.

»Ja, natürlich hast du Thora beleidigt; du bist ja so launenhaft ...«

»Ja, das bin ich,« tönte es aus dem Kissen hervor.

»Gewiß bist du das. Das sagt Fredrik auch.«

»Was sagt Fredrik?«

Augenblicklich hob sie das rote Gesicht vom Kissen empor. Fredrik war eine Autorität.

»Ich will's dir vorlesen,« antwortete die andere, öffnete das Pult und nahm einen mindestens fünf Bogen starken Brief hervor. »Hier steht's,« fuhr sie fort, indem sie die vierte Seite des vierten Bogens umwandte, mit derselben langsamen Sicherheit, mit der sie das Pult geöffnet, den Brief gesucht und das Pult wieder geschlossen hatte. Und sie las:

»Du mußt nicht streng gegen sie sein. Denn wäre sie so von Natur, sie würde sich anders benehmen und es verstehen, ihre Anbeter festzuhalten. Jetzt ist sie bloß ein verwöhntes Kind, das nie etwas getan, ohne dafür gelobt zu werden; infolgedessen ist sie zugleich so launenhaft geworden, daß sie heut schon derjenigen, die sie gestern lobte, überdrüssig ist.«

»Gott, wie wahr, Tinka!«

»Aber vielleicht wird sie dieser Lobsprüche auch einmal überdrüssig. Denn sie verlangt ja nach etwas besserem; den Eindruck habe ich diesen Sommer erhalten. Du, Tinka, mußt ihr dabei helfen – –«

»Ja, tu das!« Nora hatte sich erhoben und saß jetzt auf der Bettkante; sie hatte ihre Hände gefaltet und sah Tinka an. »Du wirst immer mit mir zusammen sein, Tinka! Ich bin nicht mit mir zufrieden, wenn du es nicht bist, Tinka! ... Nie, nie, nie werd' ich wieder so sein! Wenn du auch nur eine Spur solcher Anzeichen an mir bemerkst, so nimm mich sogleich vor! Du weißt ja, ich möchte so gern besser werden ... Ich möchte so gern gut und vortrefflich werden – ja, lache nur! Im Grunde ist es mir gar nicht darum zu tun, den anderen etwas vorzusingen und Komödie vorzuspielen und gerühmt und gepriesen zu werden. Aber das ist so gekommen: ich verstehe es nicht! ... Ich habe keine Lust; ich möchte etwas Besonderes können, bei etwas Besonderem beteiligt sein! Ja, dazu hab' ich Lust! Manchmal ist es mir, als müßt ich in den Krieg ziehen; oder mit den Nihilisten in Rußland sterben ... Oder in der Welt umherreisen und öffentlich reden, um ausgezischt und verhöhnt zu werden. Ja, das könnt ich ... Ich weiß selbst nicht, für welche Sache; aber dazu hätt' ich Lust ... Ich sage das nicht aus Prahlerei, Tinka; ich sag's nur, weil ich es so fühle, – bei Gott, so fühle ich's! ... Vielleicht ist es nur ein unbestimmtes Sehnen – ich weiß es selbst nicht; aber mich erfüllt eine so große, unnennbare Sehnsucht!«

Sie hatte sich erhoben; unter Tränen funkelten ihre Augen; das Haar hatte sich aufgelöst; und als die Tränen hervorbrachen, breitete sie die langen Arme aus – jetzt warf sie sich wieder hin.

Tinka vermochte all den guten Erinnerungen, die Nora in ihr hervorgerufen, nicht zu widerstehen. In all ihrer Fülle und Breite kam sie zu ihr und legte sich über sie.

Und dann saßen sie eine Weile zusammen unter jenem traulichen leisen Geplauder, wie es dem Glück der Versöhnung eigen ist. Tinka vergaß nicht, was sie in diesen Tagen ihrem Gedächtnisse eingeprägt hatte und das für Nora bestimmt war; allein es hatte nichts Verletzendes mehr. Noras freimütige Antworten machten es fast langweilig. Schließlich mußte sie über das, was ihr noch soeben außerordentlich ernst und bedenklich geschienen, geradezu lachen.

Mitten in diesem versöhnlichen Geplauder stürmte jemand die Treppe herauf. Die erste Treppe ging's Schlag auf Schlag, wie Trommelstöcke; dann die zweite, jetzt die dritte und dann durch den dunklen Gang mit demselben rasenden Ungestüm ... Das war jemand, der nur zuweilen kam ... doch wohl nicht ...?

Da oben unter dem Dache war die Tür nicht verriegelt, da oben wurde nicht geklopft. Da riß man die Tür so ohne weiteres auf – ja, es war Thora ... Thora in eigener Person!

Dies Erstaunen, dies Beleidigttun, diese Würde der beiden Mädchen! ... An einem Fürstenhof hätte man das nicht besser machen können. Tinkas vollständige Unwissenheit darüber, daß es auf der Welt ein Wesen namens Thora Holm geben konnte, und Noras vornehmes, unnahbares und wortloses »Rührmichnichtan« – ausgezeichnet!

Niemals ist eine vorzügliche Darstellung jämmerlicher zuschanden geworden.

Thora war eitel Freude und Siegesjubel. Sie erzählte von zwölf Puppen, von denen mehrere größer als gewöhnliche Kinder; und von einem halben Hundert – ja soviel waren's mindestens – Puppenkleidern in allen Sorten, von Moiré antique, Seide und Samt bis herab zu den Morgenröcken. Von Hemden mit Stickereien und Beinkleidern, seidenen Strümpfen und Handschuhen, Regenschirmen, Sonnenschirmen usw. usw.; von Betten mit Vorhängen, Waschtoiletten mit allen möglichen Zutaten; von allem, von der Küche bis zum Salon und der Saloneinrichtung, von einem großartigen Plan, wie alle diese Puppen zu Königs Geburtstag auf den Hofball sollten, von Milla, die hunderttausendmal besser war als sie ahnten, und die nichts dagegen hatte, nein, es sogar wünschte, daß sie beide zu ihr kommen und die Herrlichkeit betrachten und dem Hofball beiwohnen möchten ... natürlich in allertiefstem Schweigen. Ja, das war wahr! »bei Gott« wahr! Und dann erzählte sie, wie das zugegangen; von Millas Zimmern und ihrer Ausstattung, und daß Thora dort viele Male gewesen, ohne eine Andeutung über die Puppen zu erhalten, aber heut hatte sie ihr rein aus Herzensgute, um sie zu trösten, die Herrlichkeit gezeigt, jetzt wollte sie sie auch den anderen zeigen, wenn es dann nur wieder gut und schön und alle vier dann wieder liebe Freundinnen werden könnten! Dieser Vorschlag war von Thora ausgegangen. Milla war erst ängstlich geworden; aber dann war sie auf den Plan eingegangen, und schließlich hatte sie ihn »ganz herrlich« gefunden. Milla war gut – und das mußten ja auch sie sein! Keine Bedenken – sie mußten! Wozu zwei Parteien? Im Grunde hatten sie einander nicht das mindeste getan; nicht das allermindeste!

»Brechen wir sofort auf; unterwegs können wir dann weiter darüber reden!«

Die beiden sahen sich an – aber Thora ließ ihnen keine Zeit. »Wir müssen zu Hause sagen, daß wir dort bis zum Abend bleiben; denn das ist unsere Absicht! Es geht wohl nicht an, eine solche Einladung abzulehnen? Eine förmliche Einladung von Engels!?«

Thora war wie der Sturmwind; sogar körperlich riß sie die beiden anderen mit sich fort. Und während des Sturmes war Feuer in ihre Augen und gleichsam in ihre Bewegungen gekommen; sie sprühte und funkelte förmlich, Und die anderen steckte sie mit ihrem Ungestüm an. – –

Nicht lange nachher standen sie alle vier vor dem Schrank. Die Einleitung, die anfängliche Verlegenheit, die Entschuldigungen, die Gegenentschuldigungen nahmen kaum einige Minuten in Anspruch. Thora faßte Milla und schob sie sanft vor den Schrank.

»Schließ auf! Schließ auf! Reden können wir später! Schließ auf!«

Milla selbst fühlte, daß hier handeln besser war als reden, und öffnete.

Noras und Tinkas Ausrufe der Verzückung waren ihr ein voller Lohn! Sie war sich bewußt, es lag eine Summe von Fleiß, Ordnung und Schönheitssinn in dieser kleinen Sammlung, und das machte sie ihr lieb und wert. Es war ihr Schatz; wenige hatten ihn bisher gesehen; ja, in den letzten Jahren nicht ein einziges fremdes Auge; es umschwebte ihn also ein ganz eigener geheimnisvoller Reiz. Der mußte genossen werden, wenn er den überraschten Augen anderer enthüllt wurde – und jetzt wurde er genossen!

Eine jede fand etwas, das sie besonders entzückte. Tinka erblickte in den Puppen ebenso viele kleine Kinder; und sie redete die Kindersprache mit ihnen. Sie begann eine davon auszukleiden, um das Vergnügen zu haben, sie wieder anzukleiden.

Thora jubelte über die Stoffe, befühlte sie, hielt sie gegen das Licht, verglich sie miteinander. Namentlich ein Stück Brokat, das sie erst jetzt bemerkte (Milla suchte es ihr hervor), versetzte sie geradezu in Verzückung; und da machte sie Plan auf Plan und redete unablässig.

Nora betrachtete den Schrank als eine Kunstsammlung. Milla stand in einer ganz neuen Gestalt vor ihr; man fühlte förmlich, was jetzt Nora von ihr dachte – auch an Millas leichtem Erröten. Den ganzen Abend behandelten sie einander mit einer Auszeichnung, welche die anderen ganz natürlich fanden.

Bald saßen sie alle mit den Puppen zwischen sich um den Tisch. Die Stoffe und all die Garderobe, welche man für den großen Zweck – den Hofball – geeignet hielt, lagen auf dem Tische ausgebreitet, und acht Augen und vierzig Finger waren unablässig beschäftigt. Man konnte nicht einig werden. Thora bestand auf einen Kostümball, und ihre stürmische Rede erfüllte das Zimmer mit Bildern und bunten Farben; es wimmelte förmlich von Edelfräulein aus der Ritterzeit und von Rokokodamen mit Bändern, Federn und Hüten.

Milla war für die Gegenwart; sie hielt sich an das Modenjournal; namentlich einige ganz neue Moden entzückten sie. Nora war bald auf Millas, bald auf Thoras Seite, je nachdem irgend etwas Besonderes ihre Phantasie anregte. Tinka opponierte gegen die Idee selbst. Jede mochte ihre Puppen schmücken, wie es ihr gerade paßte.

Das empörte Nora und Thora; das ganze mußte doch Stil haben! Milla behandelte den Vorschlag mit mehr Rücksicht, war aber ebenfalls dagegen. Nora wurde bald etwas ungeduldig, und infolge eines Kunstgriffs, den nur Mädchen verstehen, verwandelte sich dann die ganze Debatte in ein Gespräch – über Thomas Rendalen und Karl Wangen! Nicht zwischen Tinka und den anderen, sondern zwischen Thora einerseits und Nora und Tinka andererseits. Thoras Nervosität hielt gegen diejenige Rendalens nicht stand. Entweder war's ihre Nervosität oder ihre Oppositionslust – anders konnte es nicht erklärt werden, daß sie vom ersten Tage an sich mit Rendalen nicht hatte stellen können. Ein gewagter Vergleich zwischen rotgeflecktem Stoff und Rendalens Händen hatte den Streit entfacht.

Nora nämlich antwortete sofort, daß er lebhafte, ja geradezu redende Hände habe; Wangens Hände dagegen seien »dumm und lang, oben so breit wie unten!«

Wenn es in einer Mädchenschule zwei Lehrer gibt, so können die Schülerinnen sie nicht leicht beide loben, der eine muß getadelt werden, wenn der andere gerühmt wird. Und in dieser Schule war es der wohlanständige Karl Wangen, der es in der Regel entgelten mußte, wenn die Mädchen den Drang fühlten, sich für den »geistvollen« Rendalen zu begeistern. Aber hier war Thora entgegengesetzter Ansicht. Von dem Augenblick an, da Karl Wangen ihre Hand in die seine genommen zu einem warmen Willkommen und sie zugleich mit seinen guten Augen so freundlich angesehen, ja sogar noch an dem Morgen bei der Andacht gewissermaßen diese Begegnung zum Text seiner Ansprache gewählt – seit diesem Augenblick war sie für ihn eingenommen, und zwar um so mehr, je linkischer und gutmütiger er war; sie schlug sich förmlich für ihn, so daß die anderen sie ärgern mußten.

Diesmal begann es mit einem kleinen Scharmützel. Sie drangen mit Karl Wangens »gelehrtem leerem« Kopf, seinem langen Mund, seinen langen Fingern, seinen langen Beinen auf sie ein.

Da kam sie mit Thomas Rendalens rotem Haar, seiner frauenhaften Empfindlichkeit, seinem parfümierten Taschentuch.

Aber dann kam schwereres Geschütz. Thora führte Beispiele an von Rendalens unbändiger Hitze und Heftigkeit – und wie er sich dann irren konnte; Beispiele seiner oft wechselnden Stimmung. Manchmal lief er ganze Viertelstunden in der Klasse auf und ab, ohne etwas zu sagen, zu hören und zu sehen. Dann war er wieder eitel Leben und Lebhaftigkeit, geradezu übermütig lustig.

Die anderen fanden diese Ausstellungen ungerecht, weil, wenn man sie einzeln für sich nahm, man eine falsche Vorstellung von Thomas Rendalen bekomme, der doch jedenfalls der gescheiteste und feinste Lehrer war, den es gab. Tinka besaß ein nicht geringes Nachahmungstalent und nicht die mindeste Anlage zur Frömmigkeit, so daß Karl Wangen ihr leicht etwas komisch vorkam; und jetzt begann sie nach seiner Art zu predigen – mit starren, zum Himmel gerichteten Blicken. Nora konnte sich vor Lachen nicht halten, und Thora weinte.

Auch Milla hatte sich eines Lächelns nicht erwehren können. Jetzt aber nahm sie für Karl Wangen Partei. Sie bemerkte ruhig, sie fände ihn sehr fein. Über Thomas äußerte sie sich nicht.

Da Milla die Wirtin war und Nora und Tinka sich zum erstenmal bei ihr befanden, widersprachen sie nicht; jetzt sang sie erst recht ein Loblied auf Karl Wangen.

Um nicht antworten zu müssen und um zugleich anzudeuten, jetzt dürfte es wohl genug sein, stand Nora auf und sah sinnend zum Fenster hinaus.

»Mein Gott, da geht ja Anna Rogne!« rief sie.

»Ist sie hier gewesen?« fragte Milla, stand ganz bleich auf und trat ans Fenster,

»Gewiß!«

Sie sahen Anna von dannen eilen, sie mußte in heftiger Aufregung sein. Milla stürmte mit all der Schnelligkeit, welche die Wohlanständigkeit gestattet, zur Tür hinaus und die Treppe hinunter. Es währte eine Weile, ehe sie zurückkam.

Da war sie still und sehr erregt. Anna war oben, ja sogar vor der Tür gewesen!

Allgemeine Verwunderung. Dann erzählte Milla, was an demselben Vormittag geschehen und wie unschuldig sie im Grunde daran sei. Thora nahm dies sofort auf sich und fühlte sich schrecklich unglücklich.

»Nein, ich allein trage die Schuld,« meinte Milla.

Was sollte sie anfangen? Sie hatte den Wagen anspannen lassen.

Niemand antwortete; aber unwillkürlich blickte sie auf Tinka.

»Ja,« meinte Tinka, »wir wollen alle miteinander Anna abholen und ihr erklären, wie es zugegangen.«

Nora und Thora waren sofort einverstanden. Das war das einzig richtige!

Auch Milla gab zu, daß dies das beste wäre. Aber niemals hatte sie gegen Anna ein Wort über die Puppen fallen lassen; so etwas mochte Anna nicht leiden. Und jetzt konnte diese Puppengeschichte Anna, ohne sie zu verletzen, nicht gut auseinandergesetzt werden. Nora und Thora sahen das ein; das ging nicht.

Tinka war anderer Ansicht. Sie wollte es gern übernehmen; sie allein.

Nein, sollte es überhaupt geschehen, so mußte Milla selbst die Erklärung abgeben.

Das brachte Milla auf den Gedanken, ihr zu schreiben! Sie sagte einfach, die anderen hätten sie besucht; ob sie nicht ebenfalls kommen wolle, dann schickte sie den Wagen.

Ja, meinten die anderen, so könne es gemacht werden.

»Fahre selbst zu ihr,« sagte Tinka.

»Nein, unhöflich bin ich nicht gegen meine Gäste,« lachte Milla und setzte sich, um zu schreiben.

Die anderen waren still geworden. Aber da rief Nora plötzlich aus:

»Tinka hat ganz recht: fahre selbst zu ihr! Wir können ja solange hinausgehen.«

»Nein,« antwortete Milla, den Kopf vom Briefe aufrichtend, »Anna braucht ja gar nicht zu wissen, daß wir sie gesehen haben. Da ist es ja das Natürlichste von der Welt, daß ich ihr die Mitteilung mache, ihr wäret zu mir gekommen.«

Das fanden die anderen ausgezeichnet. Sie machte den Brief fertig und eilte hinunter. Als sie wieder eintrat, hörte sie den Wagen zu dem Tor neben dem Hause hinausfahren.

Milla lächelte: Ich habe ihr geschrieben, ein andermal würde ich ihr erklären, weshalb ihr gekommen wäret. Dann bat ich Hans, sich zu beeilen und einen kleinen Umweg zu machen, um mit Anna nicht zusammenzutreffen; vielleicht ist der Wagen eher da als sie selbst.«

Sie war offenbar sehr mit sich zufrieden, daß sie einer so verwickelten Situation gewachsen war.

Nun wurden die Verhandlungen über das Puppenfest wieder aufgenommen; aber die Puppen und ihre Toiletten mußten wieder in den Schrank, ehe der Wagen mit Anna zurückkehrte.

Plötzlich rief Nora aus: »Wenn wir Anna nichts von den Puppen sagen sollen, warum in aller Welt konnten wir da nicht alle zusammen fahren?«

Eine Weile sahen sie sich verwundert an ... Das war ja wahr! Sie brachen in helles Lachen aus ... Wie waren sie denn auf den verrückten Gedanken gekommen, daß ihr Puppengeheimnis verraten wurde, wenn sie alle miteinander sich entfernten! Sie versuchten sich wieder an den Gang des Gesprächs zu erinnern, was jedoch nicht leicht gelang. Dann wurden sie einig darüber, daß dies jedenfalls der Beweis eines bösen Gewissens sei.

Tinka machte den Vorschlag, beizeiten die Puppen, die Garderobe und die Stoffe unter Millas Aufsicht wieder in den Schrank zu legen, aber Milla erbot sich, später das alles selbst zu tun. Dagegen opponierten die anderen, das Ordnen der Puppen und der Garderobe war außerordentlich amüsant. Und so begaben sie sich an die Arbeit.

Der Wagen kehrte ohne Anna zurück; sie hatte Kopfweh.

Thora sah Milla, Milla sah Thora an: das war die Vergeltung für den früheren Besuch. Eine Weile waren sie alle verstimmt, aber da sie bedachten, daß sie ja jetzt wieder die Puppen vornehmen konnten, ließen die drei Gäste sich bald trösten.

Sobald sie wieder an ihrer Arbeit waren, fiel das Gespräch natürlich auf Anna. Keine von den dreien mochte sie leiden. Sie fanden sie gekünstelt, »prétencieuse«, wie Thora mit spitzer französischer Aussprache sich ausdrückte. Anna wollte immer etwas Besonderes sein, alles, was sie sagte und tat, sollte das Richtige sein. Aber alle waren darüber einig, daß sie einen guten Stil schrieb. Dann fielen sie spöttisch über ihre religiöse Schwärmerei her. Über das erstere hatte Milla sich nicht geäußert, bei diesem Punkte begnügte sie sich mit der Bemerkung, daß sie vielleicht etwas zuviel Schwärmerei besitze.

Nora war die erste, welche den Tisch verließ, sie konnte es nicht länger aushalten, sie mußte Musik haben. Man probierte den Erard; man befürchtete, er möchte nicht richtig gestimmt sein. Diese Befürchtung erwies sich als begründet. Und doch welche Schönheit! Nora sang, während die andern mit den Puppen beschäftigt waren. Dann verlangten sie, daß auch Tinka singe, aber Tinka wollte ihre blaue Puppe nicht verlassen. Schließlich wurde sie auch von Milla gebeten. Als sie ein paar Nummern gesungen hatten, wurde geklopft. Millas Stubenmädchen meldete, der Herr Konsul sei gekommen. Große Überraschung; man hatte ihn nicht erwartet.

Milla eilte hinunter. Die anderen kamen überein, daß sie jetzt gehen müßten; es würde zu genant sein, zusammen mit dem Konsul zu Abend zu essen. Diese Ansicht wurde namentlich von Thora eifrig vertreten; ihre Manschetten waren in etwas zweifelhaftem Zustand. Ob es wohl anging, Milla zu bitten, ihr ein Paar zu leihen? Während dieser Verhandlung ging die Tür auf und Milla eilte viel schneller herein, als es jemand für möglich gehalten hätte.

»Papa kommt!« flüsterte sie, und stürmte zum Tische. Alle ihr nach; von dort zum Schrank, vom Schrank zum Tisch ... Aneinanderprallen von Stirn und Schultern; gedämpftes Aufschreien, Lachen und Schelten, namentlich wenn auf die Zehen getreten wurde ... Alles war vom Tisch abgeräumt und eingeschlossen, als der Konsul klopfte.

Nora hatte Tinka gestoßen, daß sie auf das Sofa gefallen war; sie selbst saß jetzt mit würdevollem Ernst auf einem Stuhl; Milla und Thora standen am Schrank.

Der Konsul trat ein, elegant, lächelnd, wie immer; er sah, daß die vier puterrot waren vor verhaltenem Lachen, oder was es sein mochte, in verlegener, gemachter Haltung. Was zum Geier geht hier vor? dachte er und trat zu Nora, der Amtmannstochter, grüßte artig und fragte nach ihren Eltern. Dann zu den beiden andern, welche Milla vorstellte; hierauf kehrte er zu Nora zurück und fragte heiter, ob er das Vergnügen haben könne, das Fräulein zu Tisch zu führen. Er komme vom Dampfschiff und sei so ausgehungert, wie man es nach einer Seereise nur sein könne. Sie reichte ihm den Arm; aber er wünschte, daß die anderen Damen vorangingen, und dagegen sträubten diese sich ein wenig; es sah aus, als wartete die eine auf die andere. Tinka konnte schließlich nicht begreifen, warum Thora sich nicht rührte, und da der Konsul sich wiederholt zu ihr wandte, ging sie voran, obgleich es ihr unangenehm war. Warum half Milla ihr nicht aus der Verlegenheit? Auch sie nämlich stand da wie angewurzelt. Der Konsul gab seiner Tochter einen leichten Stoß: »Avancez, mes demoiselles!« Tinka tat einige Schritte, und siehe da, der untere Teil einer Puppe wurde sichtbar! Thora suchte sie zu verdecken; aber der Konsul hatte sie schon bemerkt und mit den Worten: »Um Verzeihung, Fräulein!« sich gebückt und sie aufgehoben.

Zuerst lief Thora davon, dann Tinka und Milla und endlich riß sich auch Nora los und lief hinaus; der Konsul mit der Puppe ihnen nach.

»Was ist das? Was in aller Welt ist das?«

Alle stürzten zum Speisezimmer hinein und standen da wie in einem Knäuel und krümmten sich vor Lachen, als der Konsul mit der wie eine Flagge hochgehaltenen Puppe hereinkam.

Es war die blaue Puppe, welche Tinka zum drittenmal ausgekleidet hatte und zu Bett legen wollte, als der Konsul hereinkam und alles im Nu fortgeräumt wurde. Sie mußte boshafterweise auf die Erde geglitten sein, als der Schrank geschlossen wurde. Milla und Thora hatten sie zugleich entdeckt und sich gleichzeitig darüber gestellt.

Der Konsul ging mit der Puppe zu Tisch. Erst hatte er sie im Arm; dann legte er sie auf seine Serviette, und nachdem er sie ein paarmal gewiegt, legte er sie, mit einer Teetasse unter dem Kopf, auf den Tisch. Da wurde sie von Milla fortgerissen.

»Habt ihr wirklich mit Puppen gespielt?«

Gott behüte! Sie waren zusammengekommen, um die Weihnachtsgeschenke zurechtzumachen.

»Warum denn einen so unschuldigen Gegenstand verstecken?« fragte der Konsul.

»Natürlich weil die Puppe nicht angekleidet war,« gab die Tochter zur Antwort. Man hörte es ihr an, daß sie in solchen Gefechten geübt war. Dann kam ihr Nora zu Hilfe; auch sie hatte Übung in solchen Dingen, denn sie hatte ebenfalls einen Vater, der junge Mädchen gern neckte.

Die beiden anderen kamen gleichsam ein wenig aus der Unterhaltung hinaus. Aber dafür waren des Konsuls Augen fast die ganze Zeit auf sie gerichtet. Tinka konnte es sehr wohl begreifen, daß Thora seine Aufmerksamkeit erregen mußte. Aber sie selbst? Allmählich wurde sie unruhig. Sollte ihr irgendwo am Arm die Naht geplatzt sein? Das passierte ihr bisweilen. Sie sah nach, so gut es gehen wollte, vermochte aber nichts zu entdecken. Sie hatte ein Gefühl, als säße sie unangekleidet da am Tische.

Der Konsul war in sehr muntrer Stimmung. Plötzlich richtete seine ganze Aufmerksamkeit sich auf Thora. Man hatte noch nicht lange bei Tische gesessen, und doch war Thora schon fertig!

Die unglückseligen Manschetten peinigten nämlich Thora über alle Maßen, und da sah der Konsul sie noch obendrein an; zwar den Fettflecken konnte er nicht sehen; denn es war ihr geglückt, ihn Milla zuzukehren. Aber er sah doch nicht ihr Gesicht an, er blickte tiefer hinab. Da legte sie Messer und Gabel hin und wischte sich unter dem Tisch die Hände ab.

»Liebes Fräulein Holm, Sie essen ja gar nicht! ... Ist Ihnen nicht wohl? ... Was fehlt Ihnen? Oder haben Sie irgendeinen Wunsch? Sagen Sie es nur! ... Milla, reiche Fräulein Holm noch eine Tasse Tee, – ja? ... Keinen Tee? ... Ein Glas Wein? Sehr wohl! ... Ein Glas Wein! ... Prosit, Fräulein! ... Aber Sie trinken ja gar nicht! ... Ziehen Sie Madeira vor? ... Aber, liebes Fräulein, darum werden Sie so rot? ... Kopfweh? ... Oh, oh! ... Vielleicht möchten Sie –? ... Soll Milla Ihnen helfen? ... Auch nicht? ... So sagen Sie doch, was Ihnen fehlt, liebes Fräulein – – – Haben Sie oft Kopfweh, Fräulein Holm? ... Nicht? ... Ich kannte einmal ein junges Mädchen, das bekam schon Kopfweh, wenn die Manschetten widerspenstig waren.«

Thora hatte ein Gefühl der Ohnmacht, das sie schon bei viel unbedeutenderen Anlässen beschlich, und dann drängten sich jedesmal die Tränen hervor; sie mußte den Tisch verlassen und hinaufeilen.

In demselben Augenblick stand Milla auf, und zwar mit einer Würde, die von ihren Freundinnen geradezu bewundert wurde; sie folgte Thora ...

Als die anderen ebenfalls hinaufkamen, war Thora fort. Milla war ganz bleich, ließ sich aber mit keinem Wort über das Vorgefallene aus; auch Nora und Tinka entfernten sich; Milla ließ es geschehen. Sie küßte sie und bat sie, bald wiederzukommen; unten im Hausflur wiederholte sie diese Bitte. Erst als sie wieder im Zimmer war und die Tür verschlossen, brach sie in heftiges Weinen aus. So etwas wäre nie und nimmer geschehen, wenn ihre selige Mutter mit am Tisch gesessen hätte; sie selbst füllte ihren Platz noch nicht aus: ja sie hatte er ebenfalls gekränkt. Ihre Mutter hatte sie allzu früh verlassen. O Mutter, Mutter!

Da klopfte es. Sie fragte, wer es sei. Ihr Vater. Da mußte sie selbstverständlich öffnen; aber sie kehrte zum Sofa zurück und warf sich weinend in die äußerste Ecke. Still nahm er Platz, und nach einer Weile sagte er, vorsichtig, fast flüsternd:

»Höre, Milla, es tut mir leid, daß es so gekommen ist... Ich begreife es nicht. Aber es ist ärgerlich – natürlich zunächst deinetwegen. Ich konnte ja nicht wissen, daß sie es sich so zu Herzen nehmen würde. Es freut mich so, daß deine Freundinnen, und namentlich diese jungen Mädchen dich besuchen; indes – – vielleicht war es dieses Gefühl, das mich dazu veranlaßte ... bist du auch vorsichtig genug in der Wahl aller deiner Freundinnen gewesen, Milla?«

»Was meinst du damit?«

»Nichts Bestimmtes ... Liebes Kind, nimm es doch nicht so heftig! Du verstehst mich nicht! Ein Mädchen, das eine so unsichere Haltung hat ... Das man so leicht verlegen machen kann ... Es könnte einmal ein Tag kommen, wo du ihren Umgang bereust.«

Kreidebleich stand Milla auf; sie hatte ein Gefühl, als hätte er von ihr selbst gesprochen.

Aber sie sagte kein Wort. Sie brach in heftiges Weinen aus, begab sich in ihr Schlafzimmer und schloß die Tür hinter sich ab ...

Kaum begann am folgenden Tage die erste Pause, da nahm Milla ihre Freundin Thora unter den Arm; und das wiederholte sich in allen folgenden Pausen. Sie befanden sich beide in ausgezeichneter Stimmung. Nora und Tinka bewunderten Milla geradezu wegen dieser Haltung. Sie hatten nicht gedacht, daß sie so viel Herz und Mut hatte – und mehr als alles andere bildete diese kleine Begebenheit die Grundlage ihrer Freundschaft.


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