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7.

Die Folgen.

In den ersten Tagen kamen einige von den Freundinnen ihrer Mutter und verschiedene ihrer eigenen Freundinnen, um ihre Teilnahme auszudrücken und ihre Unterstützung anzubieten. Aber sie war für niemand zu sprechen. An dem Nachmittag, da sie, ihrer Kleider, ihrer Jugend, ihrer Selbstachtung beraubt und um ihr Leben zitternd eingeschlossen im Zimmer saß – da hatte sie darüber nachgegrübelt, daß ja zu derselben Zeit John Kurt sich in der besten Gesellschaft der Stadt befand. Hätte die Gesellschaft John Kurt nicht anerkannt, man würde sie, ein so unerfahrenes Pensionsfräulein sie auch war, nie und nimmer oben auf dem Gut gesehen haben. Fast einmütig hatten alle sie ihm ausgeliefert – ausgeliefert, ja, das war das richtige Wort. Und irrte sie nicht, so hatten doch alle sie gern gehabt, ja sogar hoch geachtet! ...

Sie wollte niemand mehr sehen, niemand! Wäre sie frei gewesen, sie hätte sofort Heimat und Vaterland verlassen ...

Ihre eigene Schuld? Ja, sie sah jetzt, worin sie bestand! Sie wollte sich den Leuten nicht mehr zeigen.

Jetzt war sie frei! Aber nun hielt sie etwas anderes zurück; eine schreckliche Ungewißheit: – trug sie ein Kind unter dem Herzen oder nicht?

War es vielleicht ihre Bestimmung, einem wahnsinnigen Menschen das Leben zu geben? Denn nun er nicht mehr unter den Lebenden, war es ihr ein Bedürfnis, zu denken, daß er nicht bei Verstand gewesen – wie verschiedene andere seines Geschlechts. Sollte auch sie nun einem Wesen das Leben geben, das alle möglichen Eigenschaften an sich hatte?

Und sollte sie zeit ihres Lebens an dieses Wesen gefesselt sein? ... Weil die da unten in der Stadt sie sich selbst überlassen, und sie sich nicht verstanden hatte? ... In wenigen Wochen war sie ein Schatten dessen geworden, was sie vor kurzem gewesen ...

Und seltsam: sobald die Ungewißheit zur Gewißheit geworden, sobald sie wußte, daß sie Mutter war, kehrten Ruhe und feste Entschlossenheit in ihr Gemüt zurück. Sie begriff nicht, weshalb sie nicht gleich auf etwas so Klares, so Selbstverständliches gekommen war. Das lebende Wesen unter ihrem Herzen sollte es entscheiden. Artete es nach ihm, so sollte alles sein; sie wollte nicht leben, um ein solches Wesen großzuziehen. Besaß es aber die besseren Eigenschaften ihrer eigenen ehrenhaften Familie, wenn auch nicht ungemischt, so war es ein großer, sehr großer Segen, daß sie es allein erziehen konnte. Bis dahin also mußte sie warten und arbeiten.

Thomasine Rendalen war erwacht, und von jetzt an begann eine höhere, natürlichere Lebensanschauung sich in ihr zu entwickeln.

Allein hatte sie den äußeren und inneren Kampf durchgekämpft, allein richtete sie sich jetzt ein. Das erheischte Zeit, denn sie dachte nicht schnell; aber die Unruhe war von ihr gewichen; sie aß wieder mit Appetit und kam wieder zu Kräften. Und dann eines Tages hatte sie alles bereit.

Zunächst rief sie den Gärtner herein. Es war ein hübscher, hellblonder Mann mit einem bestimmten Wesen, das sich bei ihm in einem Leben voll Mühe und Arbeit entwickelt hatte, denn es war kein anderer, als jener Andreas Berg, dessen Sonntagsjacke John Kurt einst zerschnitten. Seitdem war er stets auf dem Gute gewesen. Andreas Berg hatte mit dem alten, heftigen Kurt, der ihn übrigens unzweifelhaft zu seinem Erben eingesetzt hätte, wenn sein Sohn nicht zurückgekehrt wäre, alles durchgemacht. Und später hatte er all die Launen und Wunderlichkeiten des Sohnes ertragen müssen.

Thomasine bat ihn, sich zu setzen. Sie fragte, ob er sich irgendeine andere Stellung wünschte, oder ob er bei ihr bleiben wolle? ...

Ja, er wünschte bei ihr zu bleiben – wenn Frau Kurt das recht sei.

Ob sie denn ganz auf ihn zählen könne?

Ja, das könne Frau Kurt in allen Stücken.

Dann möchte sie ihn zunächst bitten, sie nicht mehr Frau Kurt, sondern Frau Rendalen zu nennen, und auch die anderen müsse er zu bestimmen suchen, sie fortan nur Frau Rendalen zu nennen.

Ihre Augen begegneten sich: die ihren funkelten unsicher hinter den Brillengläsern; die seinen waren weit geöffnet vor Verwunderung. Aber da er sah, daß ihre Brillengläser allmählich feucht wurden, weil die Tränen nicht freien Lauf hatten, beeilte er sich zu sagen:

»Gut, gut, soll geschehen!«

Jetzt nahm sie die Brille ab, trocknete erst die Augen und dann die Gläser; bei dem letzteren ließ sie sich Zeit. Inzwischen hatte ihr Gesicht wieder einen etwas gemessenen Ausdruck angenommen.

»Lieber Berg,« sprach sie und setzte die Brille wieder auf, »könnten Sie nicht in aller Stille, so daß niemand es merkt, all die Familienporträts, all die Schildereien hier herum – denn ich weiß nicht immer dazwischen zu unterscheiden – verbrennen oder auf irgendeine andere Weise fortschaffen, so daß ich sie nicht mehr vor Augen habe? Und zwar so bald als es ohne Aufsehen geschehen kann... Verstehen Sie mich?«

»Ja, gnädige Frau! ... Aber –«

»Was wollen Sie sagen?«

»Es wird etwas schwer fallen, wenn es niemand merken soll.«

Sie dachte ein wenig nach.

»Wenn jemand es merkt – ein Unglück ist es gerade nicht, lieber Berg.«

»Gut; es soll recht bald geschehen!«

Und es geschah... In dem Hause und auf dem Hofe verbreitete sich ein abscheulicher Geruch von verbrannter Leinewand und anderen verbrannten Stoffen. Ein milder Wind trug ihn eines Nachmittags über die Stadt hinunter, ja fast bis in die Anlagen drüben am Elv.

Dann bat sie ihren Vater, mit der ganzen Familie zu ihr zu ziehen. Das geschah sofort. Sie übergab die Leitung seines und ihres eigenen Hauswesens der alten Marianne und unterstützte sie, wenn es verlangt wurde. Die Familie wohnte in den Zimmern, welche hinter ihren eigenen gelegen waren.

Und einige Tage später stand folgende Bekanntmachung in der Zeitung der Stadt:

»Frau Thomasine Rendalen
nimmt ihren Unterricht im Englischen, Französischen und Deutschen wieder auf.
Anmeldungen werden auf dem Gut entgegengenommen.«

Auch gesetzlich wechselte sie ihren Namen. Und von allen Seiten kamen Meldungen, so daß sie sich ihre Schülerinnen auswählen konnte. In ihren freien Stunden suchte sie sich mit dem Rechenwesen bekanntzumachen und führte bald selbst ihr Einnahmen- und Ausgabenkonto über den Garten, das Haus und die kleine Landwirtschaft. Zugleich begann sie etwas von alledem zu lernen, über das sie Buch führte. Vielleicht kam sie nie in die Lage, ihre Kenntnisse verwerten zu müssen; aber jedenfalls war sie auf diese Weise beschäftigt.

Sie fand keine Zeit zu Grübeleien, und das war vorläufig die Hauptsache. Sobald sie ihr Haupt aufs Kissen legte, schlief sie ein, so müde war sie jeden Abend; und wie alle kerngesunden Menschen war sie, sobald sie die Augen aufschlug, vollständig wach und im nächsten Augenblick im Bade.

Das alles konnte jedoch nicht verhindern, daß, je mehr die Zeit fortschritt, um so schwerer der Hintergedanke sie bedrückte, den sie still mit sich herumtrug. Alles, was sie an die Familie ihres Mannes gemahnte, hatte sie ausgerottet; sie hatte sich ganz und gar mit Erinnerungen an ihre eigene umgeben. Und sobald ein Gedanke in ihr auftauchte, der an die erstere erinnerte, wurde er von einem andern unterdrückt, der ihrer eigenen Familie galt.

Die Familie ihrer Mutter hatte sie nie gekannt; aber als Kind war sie in Rendalen gewesen und hatte dort die Verwandten ihres Vaters gesehen und die in der Familie noch lebendige Ahnensage vernommen. Das Geschlecht hatte sich nie durch etwas Besonderes ausgezeichnet; das gleichmäßige, etwas schwerfällige Naturell hatte wohl dann und wann, wenn es zu lange gereizt wurde oder sich im äußersten Drang befand, einen starken Anlauf genommen, im übrigen hatten sich alle mit sanftmütiger Beharrlichkeit durch das Leben gekämpft. Allein alles, was sie von den Menschen wie von den Dingen und Begebenheiten wußte, stellte sie dem entgegen, was von seiten der Kurts sich ihr aufdrängte. Dort war alles dunkel und unheimlich; auf ihrer Seite alles hell und licht, innerlich und äußerlich. Sie gewann bald eine solche Übung darin, die Familienbilder miteinander zu vertauschen, daß in dem Augenblick, wo eine Erinnerung an die Kurts in ihr auftauchen wollte, sie sofort von einer Schar blonder Hochlandsgestalten verscheucht wurde. Die Folge war natürlich, daß dunkel oder blond für sie das Entscheidende wurde; das Innere mußte dem Äußeren weichen; der erste Anblick des Kindes sollte genügen, um über ihr ganzes Leben zu bestimmen. Und nun konzentrierte ihre ganze Angst sich auf diesen ersten Augenblick.

Je mehr die große Stunde nahte, um so heftiger wurde diese Angst. Ihre gewöhnliche Beschäftigung vermochte sie nicht mehr zu unterdrücken; sie verabschiedete ihre Schülerinnen und nahm teil an den Arbeiten in und außer dem Hause. Der Frühling stellte sich in jenem Jahre erst spät ein, in ihrem Eifer erkältete sie sich, trotzte dann dieser Erkältung so lange, daß sie schließlich Zimmer und Bett hüten mußte – und da beherrschte sie sofort wieder die Angst, so daß sie vor der Zeit die Geburtswehen zu empfinden meinte und ganz außer sich geriet.

Als sie endlich ganz ermattet ihre Ruhe wiedergewonnen, auch da wollte die Angst sie noch nicht verlassen. Der erste Anblick des Kindes sollte ja entscheiden; hat es dunkles Haar, dachte sie in ihrer Not und Verzweiflung, so bin ich verloren, dann gelingt es mir nicht, des Kindes Sinn zu beugen.

Und es wird dunkles Haar haben ... Aber dann antwortete die tröstende Stimme in ihrem Innern, daß der alte Konrad Kurt ja doch ein braver Mann gewesen; die Kurts hatten doch also auch gute Eigenschaften. Angenommen, diese Eigenschaften des alten Gärtners offenbarten sich wieder in dem Kinde; wenn auch nicht ungemischt, aber doch so, daß die guten überwogen ... Sie betete darum, so heiß, so flehentlich, bis sie endlich bedachte, es müsse ja schon zu spät sein. Ja, es war schon längst entschieden ...

Und da gewahrte sie einen Nacken, der sich halb über sie beugte. Der Nacken auf dem Bilde des ersten Kurt. Sie nahm ihre Zuflucht zu ihrer alten Kunst: Gestalten ihres eigenen Geschlechts wider ihn heraufzubeschwören. Aber ihre Phantasie gehorchte ihr nicht mehr. Der Nacken blieb. Warum denn? Fort damit! Denn keiner von den letzten des Geschlechts hatte diesen Stiernacken, weder Konrad Kurt noch John. »Aber so nehmt doch den Nacken weg!« schrie sie denen zu, welche um sie waren. Und um den Ton der Worte: »nehmt weg« bildeten sich neue Vorstellungen. Gleich darauf nämlich erschien John Kurt, um zu melden, daß er gar nicht fort wolle. Und seine heiße Stirn funkelte, und er fluchte, daß es ihr in den Ohren gellte. Und er starrte ihr fest in die Augen ...

Sie war von diesem inneren Kampf so ermattet, als die Geburtswehen in Wirklichkeit begannen, daß diese ihr da eine Linderung waren; denn nun mußte alles andere weichen. Kein Fieber mehr; und mutig sammelte sie nun all ihre Kräfte; doch sie war schwächer als irgend jemand geahnt. Und so dauerte es lange, ehe sie einen schwachen Schrei und die Worte: »Ein Junge! ein Junge!« vernahm, und dann die sanfte, freundliche Stimme ihres Vaters:

»Thomasine, meine Tochter, es ist ein Sohn!«

Eine stille Freude erfüllte sie, nun alles durchgekämpft war. Jetzt konzentrierte sich all ihr Denken auf das Wort »Sohn ...« Sie hatte einen Sohn. Aber dann von neuem Angst und Besorgnis.

»Das Haar?« brachte sie ganz leise hervor; mehr vermochte sie nicht zu sagen.

»Rot, gnädige Frau!«

Sie hatte eine dunkle Vorstellung davon, daß das weder dunkel noch blond sei; vielleicht doch mehr dunkel. Aber ganz klar war es ihr nicht ... sie verlor die Besinnung ...

Lange merkte niemand von den Anwesenden etwas; denn niemand kam auf den Gedanken, diese kräftige Frau könnte ohnmächtig werden. Und so währte es so lange, bis sie geweckt werden sollte. Da war das Entsetzen groß.

Erst nach und nach ward sie sich bewußt, was geschehen ... warum es irgendwo wimmerte, warum sie sich an etwas Schmerzhaftes erinnerte ...

Das Kind wurde zu ihr emporgehoben. Aber nicht nahe genug; sie konnte nicht recht sehen. Ein Zeichen, daß man es näher halten möchte; aber das war so schwierig; die Stimme wollte ihr noch nicht wieder gehorchen, und der Kopf auch nicht, und ihrer Hand erinnerte sie sich nicht.

Aber da verstand sie jemand unter den Anwesenden und hielt ihr das Kind so nahe, daß es ihre Wange berührte, dort, wo sie zuletzt den Odem seines Vaters gespürt. Jetzt empfand sie etwas Weiches, Warmes, Feines; das Feinste, was je mit ihrer Haut in Berührung gekommen. Sie vernahm einen wimmernden Ton, und nun sah sie ... Augenbrauen, ihre eigenen, die ihres Geschlechts, helle, stachelige Brauen!

Das war zu viel, – zu viel des Guten. Das Glück war zu groß.

Schneller rollte ihr das Blut durch die Adern; dann schoß Wärme in die Wangen, und die Augen füllten sich mit Tränen. Still weinend lag sie da, während der Kleine bereits an die mütterliche Brust gelegt war.

Mit Gottes Hilfe konnte sie nun das große Werk der Erziehung beginnen.


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