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15.

Der Verein.

Man merkte bald, daß die beiden obersten Klassen unter einem gemeinsamen Einfluß standen.

Thomas frappierte die Veränderung derart, daß er schließlich nach der Ursache fragte, und da wurde sie ihm mitgeteilt. Darüber amüsierte er sich über alle Maßen, gab den vier jungen Damen ihren berühmten Namen und machte ihnen zugleich den Vorschlag, einen Verein zu bilden. Allerdings hatten sie bei seiner Mutter einen Versammlungsabend; den konnten sie ja auch fernerhin beibehalten; aber besser war es doch, daß sie die Sache selbst in die Hand nahmen und bestimmten, was ihnen vorgelesen oder vorgetragen werden sollte, und über was sie debattieren wollten. Namentlich der letztere Punkt war von Wichtigkeit. Junge Mädchen hätten so viele »Nippessachen« im Kopf, daß sie sich früh daran gewöhnen müßten, einen Gedanken auszudenken, für irgend etwas Besonderes Interesse zu hegen.

Ein Verein! Die oberste Klasse sollte einen Verein gründen! Freundinnen aus der Stadt konnten aufgenommen werden; auch ältere Schülerinnen aus der nächstobersten Klasse; und in dem Verein können sie frei über alles reden, einladen, wen sie wollen, ja sogar Vorlesungen halten und Musik machen ... Sie selbst haben alles zu bestimmen – sie und niemand anders. Sie können Gesetze erlassen, einen Präsidenten – das heißt eine Präsidentin und einen Sekretär wählen und Strafen dekretieren! ... Welche Phantasien regte das an – nicht bloß in den obersten Klassen, sondern in allen bis herab zu derjenigen, wo die kleinen Kinder saßen und buchstabieren lernten und Verslein sangen vom Miezekätzchen ... Welch ein Leben gab das auf und unter den Tischen, welch ein Flüstern und Zischeln und Debattieren während und außerhalb der Unterrichtsstunden!

Wenn von einer Schule eine Frage aufgegriffen wird, von welcher in den Unterrichtsstunden nicht laut geredet werden darf, so ist es für die Lehrer zum Verzweifeln. Niemand lernt, niemand hört, niemand ist ruhig. Will man sich über die heimliche Bewegung in der Schule wirklich amüsieren, so darf man nicht vorausgehen, sondern man muß hinten nachfolgen, wo man die Zöpfe im Auge hat. Man sollte meinen, sie hätten ein selbständiges Leben bekommen. Sie hüpfen, tanzen, verschlingen und lösen sich; und der Farbenunterschied wirkt mit seiner außerordentlichen Unruhe geradezu komisch. All die brandroten, braunroten gegen die dunklen, welche wasserfarbig aussehen oder goldig glänzen; gegen die, welche außen schwarz und innen braun oder ganz bläulich-rabenschwarz sind. Und die Zöpfe sind so eifrig und beweglich, als plauderten sie miteinander, als machten sie Kunststücke und Sprünge miteinander; das Leben auf dem Rücken ist ein treuer Reflex des wirklichen Lebens.

In der ersten, d. h. der konstituierenden Versammlung des Vereins wurde Nora zur Präsidentin gewählt. Tinka war so sehr gewohnt, daß alle Arbeit ihr aufgebürdet wurde, daß sie zum voraus wußte, sie werde zum Sekretär ernannt werden, und das wurde sie denn auch einstimmig. Das hatte den Vorteil, meinte Nora, daß sie das Verhandlungsprotokoll für ihren Fredrik abschreiben könne. Der erste Paragraph des Statuts bestimmte, daß für die Verhandlungen die Öffentlichkeit ausgeschlossen wurde; aber Tinka war ja verlobt. Die erste Bestimmung war allerdings, daß alles geheim bleiben sollte.

Im übrigen wurden keine Statuten festgesetzt. Aber Fredrik verlangte von Christiania aus auf das bestimmteste ein Vereinsgesetz. Er schickte einen Entwurf ein mit Strafen für das Ausbleiben, Strafen für Widerspenstigkeit, Strafen für Ruhestörung und Stimmenthaltung. Aber die Mädchen nahmen die Sache praktischer als ihr »Dorsch«, wie Tinka ihn bei dieser Gelegenheit titulierte; in aller Stille arbeiteten Nora und sie einen Gesetzentwurf aus, und darüber wurde in der nächsten Versammlung unter großer Fröhlichkeit debattiert; für Gesetze schienen sie keinen Sinn zu haben.

In der Stadt nahm man den Verein von der heitern Seite; es gab auch Leute, welche die Sache unpassend, ja sogar gefährlich fanden. Aber da um dieselbe Zeit eine reisende Schauspielergesellschaft die Stadt besuchte und ihren vornehmsten Spielabend am Vereinstag hatte, ohne daß dessen Mitglieder, bis auf wenige Ausnahmen, sich bewegen ließen, den Verein zu opfern, wurde dies als eine Generalprobe des Vereins betrachtet. Man hielt es nicht der Mühe wert, es zur Hauptvorstellung kommen zu lassen.

Bald stellte sich ein gefährlicher Mangel an Vereinsgesetzen heraus. Jedes Mitglied konnte anonym der Präsidentin Vorschläge für die Verhandlungen einsenden; dann stimmte man darüber ab, ob diese Vorschläge auf die Tagesordnung gesetzt werden sollten. So ward einmal anonym ein Antrag gestellt, über die Unsterblichkeit zu verhandeln; die Abstimmung ergab eine einzige Stimme für den Antrag; die Antragstellerin war selbstverständlich nicht Mitglied des Vereins.

Ein anderer Antrag lautete: »Unter welchen Bedingungen soll es den Männern gestattet sein, Schnurrbärte zu tragen?« – und diese Anfrage war von derselben Hand geschrieben. Jetzt wurde der Vorschlag gemacht, alle Anträge unberücksichtigt zu lassen, welche nicht während der Versammlung auf den Tisch des Sekretärs gelegt wurden. Man wendete ein, daß dann nicht mehr die Anträge anonym gestellt werden könnten; aber man verließ sich auf die eigene Geschicklichkeit, und der Antrag wurde angenommen.

Obgleich die Öffentlichkeit für die Verhandlungen vollständig ausgeschlossen war, behauptete man doch in der Stadt, daß eine junge Dame in einem Antrage es schrecklich, über alle Maßen erbärmlich von den Männern gefunden habe, daß sie ihr Keuschheitsgelübde nicht ebensogut halten könnten, wie die Frauen. Bei dieser Gelegenheit machte der französische Dösen sein berühmtes Epigramm: » Thora, Nora, ora pro nobis!«

Im übrigen konnte man niemals herausbekommen, was die Mädchen verhandelten. Sie waren übereingekommen zu tun, als ob alles, was über sie verbreitet wurde, wahr sei; eine schelmische Freimaurerei leistete diesem Entschluß Vorschub.

Derjenige, welcher die jungen Damen am schlimmsten hänselte, war der Konsul Engel. Er war sofort mit dem Generalstab wieder versöhnt, da er durch seine Tochter sich hatte entschuldigen lassen. Außerdem ließ er Thora ein japanisches Kästchen mit einer Anzahl kleiner Kästchen, in deren Innern eine reizende Nadel lag, verehren. Und um alles vollständig wieder gut zu machen, veranstaltete er ein Versöhnungsfest, wozu Milla mehrere ihrer Freundinnen einladen mußte. Bei Tische überraschte er die jungen Damen dadurch, daß er ihnen feierlich eine prachtvolle Puppe überreichte. Tinka hatte ihr dauerhaftestes Kleid an; Thora, die neben Milla saß, war ausgezeichnet bei Laune, sie plauderte unablässig, so daß Milla sie unter dem Tisch in den Arm kniff, um sie zum Schweigen zu bringen, was aber die entgegengesetzte Wirkung hervorbrachte. Nora sprang während des Desserts zum Piano, um ein Lied zu singen, das der Konsul noch nicht gehört hatte. Er versicherte später, noch niemals habe er sich so unschuldig amüsiert. Die einzige Art, sich mit ihnen zu unterhalten, bestand darin, daß er sie neckte; in der Regel ging es über den Verein her. Sie lachten über seine Scherze und griffen sie zum eigenen Gebrauch auf; aber sie verrieten nichts; denn das Weib ist gewohnt, Spott zu ertragen, wenn es sich um etwas handelt, das ihm am Herzen liegt. Der Verein war etwas neues in ihrem Leben; aber bald wurde er ihnen noch mehr. Doch das nötigt uns zu einer zurückzukehren, die uns schon längst erwartet.

Anna Rogne kam an jenem Montag, da sie Milla vergebens besucht hatte, nicht zur Schule. Milla erschien mit sehr beschwertem Gewissen. Gleich nach der Schule suchte Milla sie mit ihrem Wagen auf; aber Anna war krank. Die Tanten versicherten lächelnd, Anna dürfe nicht gestört werden. Am folgenden Morgen erschien Milla zum zweitenmal. Sie fragte, ob sie die Kranke nicht wenigstens sehen dürfe. Anna und sie hätten die »Fabiola« gemeinsam zu lesen angefangen – ob sie jetzt Anna nicht vorlesen dürfe? Die kleine Anna entschuldigte sich. Lächelnd überbrachten ihr die Tanten Annas Entschuldigung und Milla ging wieder.

Drei Wochen lang kam Anna nicht zur Schule; noch verschiedene Male suchte Milla sie auf, wurde aber nicht vorgelassen. Dann stellte sie ihre Besuche ein.

Anna war nicht krank. Unumwunden vertraute sie den Tanten, was ihr fehlte: sie war betrogen und verschmäht, ja noch mehr, geplündert worden. Was sich mit dem letzteren meinte, damit wollte sie nicht heraus; das konnte sie nicht sagen; sie mußte ganz allein bleiben. Und den ganzen Tag hörte man sie in ihrer Stube auf und ab gehen, bisweilen auch des Nachts. Die Tanten waren in der größten Angst, taten aber, was von ihnen verlangt wurde.

So oft Hausandacht war, wurde sie benachrichtigt; aber sie erschien niemals. Da sie die Tanten immer erstaunter und besorgter werden sah, kam es endlich heraus, daß sie gerade in religiöser Beziehung den schwersten Verlust erlitten; denn alles, was ihr das Liebste gewesen, hatte sie mit Milla geteilt. Von dem gemeinsamen Bekenntnis abgesehen, gab es kein Gebet, kein Kirchenlied, keine Bibelstelle, die sie nicht miteinander ausgetauscht – just wie man Verlobungsringe tauscht, Geschenke wechselt und gegenseitig die Bildnisse küßt... sie konnte es nicht mehr hören, nicht mehr daran denken!

Sie weinte nicht, jedenfalls nicht, wenn jemand es sah; oh, die kleine Anna hatte einen eisernen Willen! Sie betrachtete das Geschehene, wie ein Feind den anderen betrachtet. Sie haßt die andere und verachtet sich selbst. Ihr Irrtum bis zum letzten Augenblick des letzten Tages, da sie vor Millas Tür stand und die anderen da drinnen lachen hörte – konnte man sich etwas Lächerlicheres denken? Was sie in heiligstem Ernst mit einem solchen Mädchen zusammen vorgenommen – vor Scham mochte sie in die Erde sinken, wenn sie nur daran dachte! Und doch mußte sie daran denken. Sie zwang sich, es den Tanten zu gestehen; sie zwang sich, es zu untersuchen bis auf den innersten Grund. Das gab mancherlei Arbeit.

Aber sie erholte sich dabei; – sie begann lange einsame Wanderungen zu unternehmen ... Nach Verlauf von drei Wochen kam sie wieder zur Schule, etwas blasser als gewöhnlich und etwas abgemagert; aber in jeder anderen Beziehung hatte sie sich anscheinend gar nicht verändert.

Sie setzte sich auf ihren alten Platz, war aber freundlich gegen alle, – auch gegen Milla. Diese versuchte nicht mehr eine Erklärung abzugeben; doch geschah es vielleicht nicht ohne ihr Wissen, daß Thora den Versuch machte. Anna hörte sie an – und bat sie um einen gelben Faden; am nächsten Tage solle sie ihn zurückerhalten.

Fleißig nahm sie an allen Vereinsversammlungen teil, offenbar interessierte sie sich dafür; aber sie nahm nicht aktiv teil.

Kurz vor Weihnachten wurde Thomas – auf Noras Antrag – aufgefordert, einen Vortrag über Henrik Ibsens »Gespenster« zu halten. Er lehnte ab, erbot sich jedoch, einen kleinen Vortrag über verwandtschaftliche Verantwortlichkeit zu halten. Er meinte nämlich, aus diesem Gegenstand ließen sich, wenn er sorgfältig durchgearbeitet würde, mehrere neue Sittenregeln ableiten; ja auf manchen Gebieten würde er eine vollständige Revolution zur Folge haben.

Diese Behauptung erregte große Spannung; man freute sich auf eine interessante Darstellung – und erhielt einen abgerissenen, aber erschütternden Vortrag. Die Mädchen saßen da ganz erschreckt, sowohl über Rendalens Erregtheit wie über seine Worte; zum Schluß sprach er mit gehobener Stimme: Diejenigen, welche vererbliche Krankheiten über ihre Kinder brächten, in deren Familie z. B, wiederholt der Wahnsinn aufgetreten sei und welche trotzdem sich verheirateten; diejenigen, welche um des Geldes willen sich mit Geistesschwachen oder Ungesunden verheirateten und Kinder mit ihnen zeugten, seien ärger als die größten Schurken, ärger als Diebe, Fälscher, Räuber, Mörder! ...

Es mußte etwas geschehen sein. Auch Frau Rendalen war mehrere Tage mit roten Augen umhergegangen; und Thomas selbst war einige Tage abwesend gewesen, vermutlich in Christiania.

Anna trat zu ihm und dankte ihm in der ihr eigenen »prätentiösen« Weise für den Vortrag. Als er fort war, bemerkte sie, das sei das Beste, was sie je gehört. Nur eine stimmte ihr bei, nämlich Fräulein Hall; die andern sagten nichts; ja lange Zeit herrschte ein peinliches Schweigen. Endlich bemerkte eine, das scheine ihr ein schrecklich heftiger Vortrag zu sein. Darauf antwortete die kleine Anna, man müsse aufgerüttelt werden; alles, was man veranstaltet, bezwecke nichts als die »Unterhaltung« – auch hier im Verein sei man bereits in das Unterhaltungsfieber geraten.

Das verstimmte noch mehr; Nora fühlte sich beleidigt und sie fragte, ob denn nicht Anna etwas für die Belehrung des Vereins tun wolle. Anna errötete; aber zu aller Überraschung entgegnete sie, daß sie den Versuch machen wolle.

Dann blieb sie mehrere Tage aus der Schule fort; aber am nächsten Vereinsabend – dem letzten vor Weihnachten – meldete sie einen Vortrag an. Sie wünschte, daß nicht bloß Thomas Rendalen, sondern auch seine Mutter und Karl Wangen dem Vortrag beiwohnen möchten; sie war gerade nicht bestrebt, ihr Licht unter den Scheffel zu stellen, meinten die Freundinnen.

Die Eingeladenen fanden sich natürlich ein.

Die kleine Anna sah angegriffen aus, als sie in den Saal trat. Ihre Hände zitterten, als die dünnen, bleichen Finger da oben auf dem Katheder in der Handschrift blätterten und die Kerzen zurechtstellten.

Die Stimme und die Vortragsweise waren abgemessen, bisweilen fast scharf; ihre großen Augen blickten nicht gern auf; so oft das jedoch geschah, lag etwas so Vielsagendes in ihrer ganzen Haltung, daß es irritieren konnte. Sie las ihren Vortrag Wort für Wort ab. Der Anfang war ganz besonders zugespitzt.

»Die Frau arbeitet nicht in demselben Maße an ihrer Selbsterziehung, als sie das vom Manne verlangt. Sie legt nicht die Fehler ab, die sie sich in anderen und schlimmeren Verhältnissen angeeignet hat. Ich will heut abend nur einen Fehler nennen: das Lügen.

Als die Schwächere hatte sie sich das Lügen angewöhnt. Aber die Frau steht nicht mehr so unsicher da, daß sie zum Lügen ihre Zuflucht zu nehmen brauchte.

Sobald sich ein Fremder zeigt, lügt sie – d. h. sie macht sich dann so sanft, so fromm, so liebenswürdig gegenüber diesem Fremden ... und hat es für sie etwas Unangenehmes, den geraden Weg zu gehen, so macht sie sofort einen Umweg. Soll sie etwas tun, wozu sie keine Lust hat, so bekommt sie Kopfweh; erscheint jemand, den sie nicht gern sieht, so ist sie ausgegangen. Es geniert sie nicht im mindesten, ihr Dienstmädchen, ihre Tochter, ihre Freundin für sich lügen zu lassen, wenn sie es selbst nicht kann.

Einige Damen – vielleicht auch viele – haben sich derart daran gewöhnt, unwahre Gründe anzugeben oder die wahren zu verschweigen, daß sie es ohne jede äußere Veranlassung tun; sie gefallen sich darin, es ist ihnen eine Art von Koketterie geworden.

Wenn das bloß in ihren Beziehungen zu den Männern wäre! Aber auch in ihrem Verhältnis zu Gott lügen sie. Über diesen Punkt will ich einen Sittenschilderer für mich reden lassen. Er sagt: »Es ist schwer, über den religiösen Glauben der Frau sich eine Vorstellung zu machen, solange die Religion ganz allein ihr geistiges Interesse in Anspruch nimmt. Aber wenn man hundert, zweihundert, dreihundert Damen um einen einzigen Modegeistlichen sich drängen sieht, so wittert man Unrat. Die leichteste Art des Denkens besteht natürlich darin, sich eines anderen Worte anzueignen; aber noch leichter findet man mit der Verpflichtung, denken zu müssen, sich dadurch ab, daß man für diesen andern schwärmt, und am allerleichtesten dadurch, daß man so tut, als schwärme man, weil andere schwärmen – – –

»Der Glaube, der hier auf Erden seine Ideale verloren und sie in den Himmel verlegt, ist eines guten Empfanges dort oben wahrlich nicht so sicher, als die Priester verheißen. Und in der Regel kommt man ja über einen unbestimmten inneren Drang nicht hinaus – – –«

So zitierte sie weiter, und einige ihrer Zitate erregten Lachen – seltsamerweise auch bei Karl Wangen. Dann ging sie zu den »Vereinsfrauen« über – zu jenen Damen, welche zu wohltätigen Zwecken lustige Bälle arrangierten, für die Hinterlassenen von Ertrunkenen oder Abgebrannten fröhliche Bazare, ja sogar Theatervorstellungen veranstalteten. Sie schilderte, wie die Frau in solchen Vereinen sich mit großen Fragen amüsiere und für einzelne Vorleser schwärme.

Anna war sehr scharf, – wie es die Jugend fast immer ist, wenn sie sich auf Kritik einläßt.

Als sie ihren Vortrag beendet hatte, begriff sie anfangs nicht, was man ihr sagte. Sie gab verkehrte Antworten und wiederholte mehrmals dieselbe Frage. Aber allmählich faßte sie sich wieder – sie sah sich nach Thomas Rendalen um. Er hatte sich entfernt.

Das wunderte sie im höchsten Grade. Dann glitt sie hinüber zu Frau Rendalen, um sich nach der Ursache zu erkundigen. Aber sie mußte das Gespräch damit beginnen, daß sie fragte, wie ihr der Vortrag gefallen habe.

»Ja, mein liebes Kind, in verschiedenen Punkten hast du gewiß recht; aber ich befürchte, daß ihr die Sache jetzt aufbauscht und zu ernsthaft nehmt ...«

Endlich aber brachte Anna ihre Frage heraus, langsam, vorsichtig: »Warum ist Herr Rendalen fortgegangen?«

»Das mag Gott wissen!« entgegnete die Mutter. Seufzend blickte sie nach der Tür, durch welche er verschwunden war, stand auf und ging ebenfalls.

Karl Wangen unterhielt sich mit Thora. Jetzt sah er Anna allein dastehen, kam zu ihr, um ihr zu sagen, er hätte sich über einige ihrer Zitate köstlich amüsiert. Er kenne das Buch ...

Karl Wangen war nahe daran gewesen, ein Modegeistlicher zu werden. Glücklicherweise war er den Damen wieder entschlüpft; aber der Schreck saß ihm noch in den Gliedern. Das wußte Anna von ihren Tanten – sie besaß also den geheimen Schlüssel zu seinen Worten. Da fragte sie nach seiner Meinung über den übrigen Teil ihres Vortrages.

»Ich kenne die Frauen fast nur in ihrem Verhältnis zur Religion,« entgegnete er leicht errötend; »ich bin also nicht berechtigt, über ihr sonstiges Verhalten ein Urteil abzugeben.«

Sobald die älteren Zuhörer fort waren, brauste es los, denn die Mädchen waren begeistert. »Die kleine Anna« war die älteste von ihnen, was man leicht vergaß, weil sie körperlich zurückgeblieben war. So etwas hatten sie ihr nicht zugetraut. Wie vorzüglich das von ihr beobachtet und wie gut es gesagt war! Und einen solchen Vortrag hatte eine aus ihrer Mitte gehalten. Namentlich Nora und Thora waren entzückt. »Ja, so sind wir! Ganz so unwahr und verlogen, wie Anna uns geschildert hat; selbstverständlich fast nur im kleinen. Und wie wir mit ernsten Dingen tändeln, – oh! Nein, es bedarf der Taten; oder wenn nicht der Taten, so doch – –«

»Des Niespulvers,« ergänzte eine, und die ganze Schar lachte hell auf.

Aber sie kehrten zur Sache zurück.

»Es ist wahr; bei Gott, es ist wahr! Es muß anders werden, denn es ist ja eine Schande, wie wir jetzt sind!«

Um sogleich den Anfang zu machen, wollten alle Anna nach Hause begleiten. Und das taten sie denn auch, so daß die beiden schiefen Tanten Annas ganz erschreckt wurden in ihren Nachthauben, als sie zwischen elf und zwölf Uhr nachts den Schwarm da draußen rumoren und zwanzig helle Mädchenstimmen »Gute Nacht! Gute Nacht!« rufen hörten.

Und die kleine Anna selbst? Sie mußte noch hinein zu den Tanten und ihnen erzählen, was geschehen war; aber sie sagte weiter nichts, als daß ihre Mitschülerinnen sie nach Hause gebracht hätten. Mit dem anderen mochte sie nicht sofort heraus; ihre Eindrücke waren noch zu unbestimmt. Sie hatte das Vorgetragene mit ihrem Herzblut geschrieben; sie hatte ihre bitterste Lebenserfahrung in einen Angriff umgesetzt; sie war überzeugt gewesen, daß man deshalb über sie herfallen, sie verlästern, sie beschimpfen würde – und da hatte sie Dank und wieder Dank, Jubel über Jubel, Lob über Lob dafür geerntet!... Die ganze Nacht vermochte sie kein Auge zu schließen. War es Freude oder Furcht? Oder hatte sie irgendeine Begabung in sich entdeckt? Es waren keine unangenehmen Gefühle ...

Zur selben Zeit lag mehr als ein kleiner Mädchenkopf schlaflos und spekulierte und grübelte darüber, wie in aller Welt sie sich denn zu benehmen hätten. Der Drang, das Leben ernst zu nehmen, in allem wahr zu sein, mußte neue Nahrung haben, sonst erstarb ja dieser Drang. Und es ward ein Mittel gefunden! Milla hatte Trauer; sie konnte den Weihnachtsball nicht besuchen, und darum wollte überhaupt keine zu Weihnachten tanzen! Und das ward einstimmig beschlossen; eine trauernde Freundin läßt man nicht im Stich. Den ganzen Winter über wollte keine von dem »Generalstab« einen Ball besuchen. Milla fühlte sich geschmeichelt durch so viel Teilnahme; aber – kein aber! – es ist ein unumstößlicher einstimmiger Beschluß, Und dabei sollte es nicht bleiben, es war noch mehr in Aussicht ...

Die männliche Jugend der Stadt trauerte darüber, daß so viele junge fröhliche Balldamen im Saale vermißt wurden; aber alles Trauern war umsonst. Ja, die jungen Mädchen freuten sich sogar, daß man um sie trauerte.


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