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18.

Im Taubenschlag.

Eines Nachmittags im Monat Mai, als die obersten Klassen im Turnlokal übten, – und zwar, weil das Wetter gar zu schön war, etwas träge –, und das große, dem Berge zugekehrte Fenster offen stand, so daß der Duft der Blumen und der Bäume hereinströmte; – – eines Nachmittags, just als Fräulein Hall in den Turnsaal kam und wie gewöhnlich die regelmäßigen Übungen dadurch unterbrach, daß sie durch einzelne Schülerinnen besondere Bewegungen ausführen ließ; – – und als infolgedessen eine Anzahl Mädchen sich zum Fenster zurückzogen, um die Hunderte von blühenden Obstbäumen zu betrachten, welche amphitheatralisch ein großes Quadrat der Böschung über ihnen mit einer einzigen, dichten Krone bedecken; – – und als diese Mädchen diese Pause nicht so voll genießen konnten, als sie wohl mochten, weil dicht unter dem Fenster verschiedene naseweise junge Bäume in diesem Jahr so fabelhaft hoch emporgeschossen, daß es fast unmöglich war, die Herrlichkeit da draußen zu betrachten, – was noch dadurch erschwert wurde, daß diese jungen Bäume die Bienen aus den Stöcken nebenan an sich lotsten, und daß diese Bienen noch naseweiser waren, – denn sie summten zu dem offenen Fenster herein und erschreckten die Mädchen, wenn sie zwischen den Schößlingen hindurchlugen wollten, – – da neigten sich all die Hunderte von Bäumen, weil ein grimmiger »Landwind« plötzlich mit feinem Sand und Samenhülsen einen Anfall auf sie machte und sie unversehens so heftig rüttelte und schüttelte, daß im nächsten Augenblick Millionen und aber Millionen Blütenschwingen hoch in den Lüften wirbelten. Die Mädchen jubelten, schrien, klatschten und stürzten ans Fenster, während dieses Frühlingswunder leuchtend über den Garten hinzog. Dann stürmten sie mit einem lauten Aufschrei nach der Eingangstür, die halb offen stand; sie wollten ihnen folgen, diesen schimmernden Flüchtlingen der Obstbäume. Sie vergaßen, daß sie Turnanzüge trugen; aber hinter den Häusern hatte das ja nichts zu bedeuten; – laut jubelnd stürmten sie fort. Da ward die Tür von draußen ganz offen geschoben.

Auf der Treppe stand ein junger Mann in weißen Beinkleidern und der Uniform eines Marineoffiziers. Er lachte und grüßte – grüßte und lachte wieder.

Es war Nils Fürst.

Hinter ihm stand Kaja Gröndal mit einem kapuzenartigen Hut und einem violetten Sonnenschirm. Sie sah prachtvoll aus. Auch sie lachte.

»Ist Elise nicht hier?« fragte er.

In den beiden obersten Klassen hieß keine einzige Elise, und niemand kannte eine Elise in der Schule.

»Nein, nicht Elise,« sprach er; »vielleicht Olava?«

Auch eine Olava gab es nicht in den beiden obersten Klassen. Olava? Niemand kannte eine Olava. Alle merkten, daß dies nur Scherz war; aber was kümmerte sie das? Er betrachtete sie in ihren Turnanzügen, die eine nach der anderen ... Er hatte Blumen in den Händen; die, welche er in der rechten hatte, mußte er an die Brust legen und sie mit dem linken Arm an sich drücken, wenn er grüßen wollte. Auch Frau Gröndal hatte Blumen. Offenbar hatten sie sie soeben erst gekauft, und da sie gehört, daß gerade jetzt geturnt wurde, wollten sie sich das ansehen.

»Verzeihen Sie,« sprach er, »vielleicht hieß sie Petra? ... oder vielleicht war sie auch gar nicht hier?«

Er lüftete den Hut, und es war, als ob sein ganzes hellblondes Lockenhaar ebenfalls lache; und jetzt brachen sämtliche Mädchen in ein so schallendes Lachen aus, daß es von den Wänden des Turnsaals widertönte. Er ging die Treppe wieder hinunter, Frau Gröndal wandte sich und ging mit ihm fort. Als er um die Ecke bog, winkte er zurück.

Die lachenden Mädchen waren in eine eigentümliche Erhitzung geraten. Sie liefen ziel- und planlos umher, und fragten in einem fort, ohne auf eine Antwort zu warten; wo drei zusammenstanden, drängten sich die anderen herbei; lachte irgendeine lauter als die anderen, so stürmten alle dorthin.

Da kamen zwei in Streit. Erst gesellten sich einige, dann alle anderen zu ihnen, und der Streit wurde sehr hitzig. Es handelte sich um den großen in der Tür stehenden Taubendieb.

Die eine der Streitenden war Tinka. Sie war empört über seine Unverschämtheit; und sie sah sich nach Unterstützung um. Da erblickte sie Thora, welche sich auf eine Bank neben der Tür gesetzt hatte und leichenblaß war. Fräulein Hall machte sich gerade mit ihr zu schaffen,

Tinka sprang auf sie zu und fragte in einem fort: »Was ist geschehen? Was ist geschehen?«

Thora hatte ganz allein geturnt; sie war nämlich eine leidenschaftliche Turnerin geworden und hatte sich ein eigenes System gebildet. Gerade als sie mitten in ihren Übungen war, bemerkte sie durch die halb offenstehende Tür ein paar Vögel, welche über einem Busch hin- und herflatterten. Befand sich da jemand unter dem Busch? Hatten sie darin ihr Nest? Oder spielten sie bloß? Dann sieht sie Kaja Gröndals helles Kleid den Busch bedecken; statt der Vögel erblickt sie ein großes Bukett und einen Sonnenschirm; einen jungen Mann in der Uniform der Marineoffiziere mit Blumen in beiden Händen. Sie kannte ihn nicht. Jetzt wurde sie von Kaja bemerkt, und ob Kaja wirklich sagte: »Das ist sie!« oder ob Thora sich das nur einbildete, – es war ihr plötzlich, als wäre sie von unberufenen Augen entdeckt worden.

Auch der Marineoffizier sah jetzt nach Thora herüber. Und er hielt seine Augen unverwandt auf sie gerichtet; sie lachten und stachen, diese Augen. Kaja wollte ihn zurückhalten und trat selbst zurück; aber er näherte sich immer mehr und schritt sogar die Treppe hinan, ohne den Blick auch nur ein einziges Mal von ihr zu wenden. Sie konnte sich nicht rühren. Der große Lärm am Fenster, der Windstoß, der Frau Gröndals Schleier emporhob und ihren Sonnenschirm umzuwenden drohte, das Hin- und Herwiegen des Busches, das Sausen in den Bäumen ... sie sah es, sie hörte es, aber wie von fern. Sie konnte es nicht recht begreifen ... Eine seltsame Mattigkeit überkam sie, namentlich in den Knien, die Beine wollten sie nicht mehr tragen.

Da schrien die Mädchen entsetzt auf und stürzten nach der Tür; dann stieß er mit dem Fuß die Tür ganz offen. Da empfand sie einen frischen Luftzug; es war ihr, als hätte jemand sie gefaßt und von unten gestützt. Aber so lange er dastand, konnte sie nicht von der Stelle.

Erst als er sich entfernte, suchte sie sich zu erinnern, wo die Bank war; und erst als sie sich gesetzt, war es ihr, als müßte sie die Besinnung verlieren. Sie kämpfte, sie suchte sich aufrechtzuhalten; Fräulein Hall kam hinzu; und dann Tinka. Und als diese laut und heftig fragte, ward ihr anders, sie konnte jetzt weinen.

Die anderen kamen herbeigestürmt; aber beim Anblick ihres leichenblassen Gesichts wurden sie ganz still; sie fragten nicht einmal.

»Sie hat zu angestrengt geturnt,« flüsterte Fräulein Hall.

»Das tut sie immer,« fügte Nora sanft hinzu, sich neben sie setzend und ihren Kopf an sich legend.

Die andern zogen sich auf Fräulein Halls Bitten zurück. Man hörte sie in dem kleinen Nebenzimmer, wo sie die Kleider wechselten und allmählich die alte Fröhlichkeit wiedergewannen; und dann entfernten sie sich, die eine Gruppe nach der andern.

Als zu Mittag geläutet wurde, saß Thora noch immer da, mit Tinka und Nora neben und Fräulein Hall vor sich. Wiederholt hatte Thora versichert, jetzt sei ihr ganz wohl. Alle drei glaubten, sie habe zu eifrig geturnt. Plötzlich sagte sie: »Gott, welch ein abscheulicher, schlechter Mensch!«

Die anderen sahen sich einander an. »Meinst du Nils Fürst?«

Sie antwortete nicht sofort. »Also das war Nils Fürst?« – – Dann erbebte sie wie vor Kälte. Aber irgendeine andere Erklärung gab sie nicht. Sie begriff, was geschehen; daß ihr Unwohlsein vom Turnen herrührte, aber sein Erscheinen hatte ihr Unwohlsein in eigentümlicher Weise verschlimmert. Sie wollte lieber nicht davon reden.

Auch Fräulein Hall entfernte sich. Die beiden Freundinnen blieben bei ihr. Es tat ihr so wohl, ihre Hände in den ihren zu halten ...


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