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23.

Abrechnung.

Als Frau Rendalen sich mit ihrem Sohn entfernte, um die Sache mit ihm zu besprechen, war ihr keineswegs leicht zumute. Im Gegenteil, sie fühlte sich sehr bedrückt. Das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn hatte schon längst den Charakter der Vertraulichkeit verloren; später war es nicht einmal ein gutes gewesen, und in der letzten Zeit geradezu ein gespanntes. Auf seiner Seite sah es geradezu aus, wie ein Bruch. Niemand konnte hier vermitteln, nicht einmal Karl Wangen. Thomas weigerte sich, mit ihm darüber zu sprechen; er war schmerzlich berührt, so oft Karl nur darauf hindeutete.

Äußerlich war diese letzte Wendung etwas zufällig gekommen. Nach der Absprache hatte Thora Holm Frau Rendalen unterstützen sollen; aber als sie krank wurde, bot Nora ihre Dienste an. Noras Fähigkeiten waren anderer Art als diejenigen Thoras; was sie leistete, war deshalb auch etwas anderes; so mußte sie unter anderem auch die Bücher führen.

Als Nora eines Tages in einer Mußestunde in den Büchern herumblätterte und verglich, und Thomas durch das Zimmer schritt, fragte sie:

»Was ist das für eine Thomasine, die so oft Geld gebraucht hat? Ihre Mutter ist es nicht. Denn bei ihren Ausgaben macht sie immer den Vermerk: für mich selbst.«

»Thomasine? ... Ich habe nie von einer Thomasine gehört.«

Er trat nun näher heran, stellte den Hut von sich und neigte sich, kurzsichtig wie er war, tief über das Buch. Die hellen Brauen richteten sich in die Höhe, und die grauen durchdringenden Augen blickten scharf auf die Eintragungen.

Sie blätterte und zeigte ihm die Monat für Monat eingetragenen Posten; die letzte Eintragung war schon mehrere Jahre alt. Für sie hatte die Sache kein besonderes Interesse, aber ihm schien sie von der höchsten Wichtigkeit. Während er die Bücher studierte, beobachtete sie ihn sowie die Wirkung, welche seine körperliche Nähe auf sie übte. Es war eine angenehme Wirkung. Sie betrachtete die Sommersprossen in dem glattrasierten Gesicht; in dieser Stellung schienen die scharfen Linien des Mundes noch schärfer, der hastige Blick der Augen noch hastiger, und die Klarheit der Stirn noch klarer; die kräftige Wangenpartie und das widerspenstige rote Haar amüsierten sie. Sie folgte den kurzen, breiten, etwas nervösen Fingern, während sie da blätterten oder an der Seite des Buches herabglitten. Eine kräftige, mit Sommersprossen bedeckte und dicht mit hellen Haarbüscheln bewachsene Hand, ein breites Handgelenk, den Arm konnte sie gleichsam fühlen; unwillkürlich blickte sie daran hinauf bis zur Schulter; er mußte sehr kräftig sein. Sie hörte das Knittern des Hemdes und der Halsbinde, wenn er atmete; sie empfand den Duft des leichten Aromas, das sich jetzt, da sein Kopf ihr so nahe war, mit dem Duft seiner Haut mischte. Eine Art Angst oder Rausch hatte sich ihrer bemächtigt und ein Gefühl geschärfter Intelligenz. Sie dachte leichter und schneller, sie befand sich in einer stärkeren Spannung. Sie wünschte, daß dies so bleiben möchte; es war ihr so wohltuend.

»Wo ist die Mutter?«

»Das weiß ich nicht.«

»Das ist doch seltsam.«

Er griff nach dem Hut und ging.

Nach kaum fünf Minuten kamen Mutter und Sohn beide wieder hereingestürmt: »Aber Thomas, was hast du denn?«

»Was ich habe – ?«

Als sie Nora im Zimmer bemerkte, wandte sie sich hastig nach ihr um und trat ins Schlafzimmer. Er folgte ihr. Nora hörte ihn in heftigem Ton unaufhörlich reden. Auch Frau Rendalens Stimme vernahm sie: abwehrend und zuletzt sogar weinend verantwortete sie sich. Endlich ging er. Lange nachher kam sie herein, ermattet und gramvoll.

»Ich habe wohl etwas recht Verkehrtes getan,« sprach Nora verlegen.

Frau Rendalen antwortete nicht. In einem fort ging sie auf und nieder. Aber was sie bedrückte war mehr, als sie allein tragen konnte, und Noras sichtliche Teilnahme verleitete sie zum Reden.

»Gott weiß es, ich glaubte, dies wäre eine meiner besten Handlungen, und da höre ich, daß es die schlechteste war!« Die Tränen befeuchteten ihre Brille, und wie gewöhnlich begann sie sie zu putzen, indem sie sich setzte.

Nora stand auf und trat teilnahmsvoll zu ihr: »Aber liebe Frau Rendalen!« Sie kniete neben ihr nieder. Die alte Dame bedurfte dieser Herzlichkeit, sie mußte sich jemand anvertrauen können, und so vernahm denn Nora, daß »Thomasine« ihres Sohnes Schwester gewesen. Anfangs hatte sich das Mädchen gut gehalten, aber dann war sie nach Amerika gegangen, wo sie auf schlechte Wege geraten war, um später geisteskrank in die Heimat zurückgeschickt zu werden. Frau Rendalen hatte bis zu ihrem Tode alles für sie bezahlt. Dies alles hatte die Mutter ihrem Sohn verschwiegen. Wozu brauchte er es auch zu wissen? Aber jetzt richtete er die schrecklichsten Anklagen wider sie. Die Verstorbene hatte dasselbe Recht an das Vermögen ihres Vaters wie er; die Gesetze hierüber seien niederträchtig; kein ehrenhafter Mensch könne dieselben befolgen. Mit den heftigsten Worten hatte er Frau Rendalen wegen des Unglücks seiner Schwester angeklagt. Sie hätte es zu verantworten!

Nora ward ganz erschreckt. Zwar hatte sie das eine und andere gehört, seitdem sie Frau Rendalens Schule besuchte, aber so etwas –!

Thomas' Wesen in der Zeit, die nun folgte, erschreckte sie womöglich noch mehr; sie litt ebensosehr, wie Frau Rendalen. Er behandelte nämlich seine Mutter wie eine Fremde, ja geradezu hart, wenn er mit ihr zusammen sein mußte; für gewöhnlich ging er ihr aus dem Wege.

Von Kindheit an hatte Thomas eine Empfindung gehabt, als wäre seine Mutter derb und plump in ihrem Wesen, ja als sei er gar nicht mit ihr verwandt. Die kindliche Dankbarkeit, die Übereinstimmung in ihren Lebensanschauungen und Plänen hatten diese Empfindung immer wieder in ihm unterdrückt, und welches auch seine Gefühle waren, immer hegte er wahre Bewunderung für ihre Energie und Tüchtigkeit im Erziehungswesen und allen wirtschaftlichen Dingen. Die Mißstimmung stellte sich immer jäh bei ihm ein und ging gleich wieder vorüber.

In der späteren Zeit dagegen – – –

Die Mutter begriff es nicht; Karl ebensowenig. Aber sie begriff, daß er unglücklich war. Es hatte den Anschein, als befände er sich in einem Zustande immer größer werdender Selbstquälerei. Darin jedoch irrte sie.

Seine Grübelei ging dahin, daß, wäre er nicht gewesen, seine Schwester glücklich geworden sein würde. Dann wäre ihr das Vermögen zugefallen, und sie hätte eine entsprechende Erziehung genossen. Dann würde das ihrer Natur angeborene Element, das sie zum Wahnsinn führte, keine Macht über sie gewonnen haben.

Oder er dachte sich seine Schwester mit sich selbst, mit Auguste, mit all den anderen Mädchen erzogen. Diese Fremden waren hier in seines Vater Haus ein- und ausgegangen, nur nicht sie, seine Schwester, seines Vaters Tochter. Daß seine Mutter diese unabweisliche Pflicht mit einer armseligen monatlichen Abzahlung zu erfüllen wähnte! Daß sie sich nie zu größeren Zahlungen verpflichtet fühlte! Welches Verbrechen war da wider die Unglückliche begangen! Und das nicht einmal begreifen! ...

Während ihn diese Grübeleien noch beschäftigten, wurde Thoras Unglück bekannt.

Die Mutter wollte mit ihm sprechen. Das erstemal wurde sie, wie wir wissen, heftig unterbrochen. Aber als Thora schlief, begab sie sich zu ihm und vertraute ihm alles an.

Er erkannte sofort, von welcher Tragweite diese Sache für die Schule, für Thoras Freundinnen und ihn selbst war und geriet in eine solche Wut wider Nils Fürst, den er nie hatte leiden mögen, daß er ausrief: »Hätt' ich ihn hier, mit diesen meinen beiden Fäusten würde ich ihn zermalmen!« Obgleich Thomas äußerlich keine sonderliche Ähnlichkeit hatte mit seinem Vater, konnte er ihm doch in einer Weise gleichen, daß Frau Rendalen schauderte.

Aber gerade diese Angst verlieh ihr Mut. Sie hatte jetzt wohl ein ganzes Jahr lang seine Unduldsamkeit, seine Gereiztheit, seine leicht erregbare Wut mehr und mehr wachsen sehen. So oft sie selbst Anlaß gab zum Ausbruch, konnte sie sich nur verteidigen oder ihm aus dem Wege gehen; nach und nach war er wirklich ihr Tyrann geworden.

Allein jetzt galt es eine andere; Thoras Verzweiflung war ihr ein Sporn; diese Verzweiflung hatte sogar eine beängstigende Ähnlichkeit mit seinem eigenen Zustande ...

Als er nach einem neuen furchtbaren Ausbruch davonstürzen wollte, stellte sie sich ihm in den Weg:

»Thomas, du bringst mich unter die Erde mit dieser Heftigkeit! Du läßt ihr jetzt immer so sehr die Zügel, daß sie dir noch über den Kopf wächst, mein Sohn!«

Er fuhr zusammen und ward leichenblaß.

»Ja, Maßlosigkeit ist und bleibt Maßlosigkeit; und ich meine, du mußt etwas mehr auf dich achten.«

Ihre Stimme bebte – ihre Augen begegneten sich. Die seinen deuteten auf innere Verbitterung und heftige Seelenkämpfe.

»Aber, Thomas, ist es mir denn nicht einmal gestattet, dich zu warnen, mir, deiner Mutter? ... Nein, sieh mich doch nicht so an, ich bin nicht schuld daran! Ich habe gehandelt, wie ich glaubte handeln zu müssen – schon vor deiner Geburt, Thomas. Und so denke ich auch in Zukunft zu handeln. Erst seit einem Jahr kämpfst du nicht mehr wider deine Natur an. Und namentlich mich läßt du alles entgelten.«

Er stand am Fenster und schaute hinaus. Jetzt wandte er sich um; in seinen Blicken lag tiefer Schmerz.

»Was ist es, Thomas – um Gottes willen, sage mir's!« Aber er wandte sich ab und legte den Kopf auf den Arm. »Ich begreife dich nicht, Thomas! Du bist mir ja so überlegen. Du sagtest einmal, ich hätte etwas Blindgeborenes an mir, und das erkenne ich. Ja, du demütigst mich oft. Nicht bloß vor mir selbst, was ja in der Ordnung ist, sondern auch vor andern, was ja nicht notwendig ist. Aber du solltest es auch ertragen können, daß ich darauf aufmerksam mache, wenn auch du fehlst.«

Die letzten Worte sprach sie in fast demütigem Ton. Sie machten eine tiefe Wirkung. Er antwortete nicht, aber er wandte sich und begann in sichtlicher Aufregung schnell auf und ab zu gehen.

»Wenn ich nur erfahren könnte, was du gegen mich hast! Daß du mich zurechtweisest, ist ja nicht das einzige ... Ja, Thomas, du kannst es nicht ertragen, daß ich dieses Wort gebrauche. Aber – ich – ich muß mehr ertragen als ein einziges Wort. Was fehlt dir eigentlich? Warum sprichst du dich nicht mehr aus, Thomas – weder mir noch Karl gegenüber? Du bist selbst unglücklich. Meinst du, wir bemerkten das nicht? Ich möchte dir so gerne etwas sein. Wenn ich auch unter dir stehe – –«

»Das Wort kann ich nicht hören!« schrie er.

»Nein, – nein – aber du läßt dich ja nicht einmal herbei, mit mir zu sprechen. Da muß ich ja denken und grübeln.«

»Nein, ich will's nicht sagen!«

»Aber da siehst du ja selbst, wie du bist ... Dir gegenüber darf man nicht einmal solche Worte gebrauchen ... Ich sehe, du leidest. Wenn du bedächtest, daß auch ich leide! Mein Gott, und das dauert nun schon ein Jahr ... Wenn es etwas ist, das ich in Ordnung bringen kann, so sage mir's doch, ja sage mir, was es ist! Kannst du mir denn kein Vertrauen schenken?«

»Und kannst du mir kein Vertrauen schenken?« kam es gewaltsam aus ihm heraus; und das Gesicht mit beiden Händen bedeckend, warf er sich aufs Sofa. – – –

Und dann kam es an den Tag, daß er sich innerlich verzehrte, daß er eine warme, heftige Natur war, welche Vertrauen heischte, Vertrauen und Liebe, und wenn es sein Leben kostete; daß das in sich gekehrte, vereinsamte Leben, an das er sich gewöhnt, und das sich in fieberhaften Studien, häufigen Reisen und allerlei Plänen entwickelt hatte, in ein Sehnen sich verwandelt hatte, das von dem heftigsten Verlangen nach festen Verhältnissen abgelöst wurde, während er die Menschen um sich herum voll herzlicher opferfreudiger Eingebung miteinander verkehren sah; daß sein ganzes Wesen nach dem verlangte, was er um sich sah und wobei Vertrauen, Vertrauen und immer wieder Vertrauen die Grundlage war. Sie mußten Nachsicht mit ihm haben und ihn nehmen können, wie er war, weil sie an ihn glaubten. Sonst ging er zugrunde ...

Und Frau Rendalen saß da schließlich mit seinem Kopf in ihrem Schoß ... Sie hörte und hörte, und ihre Brust weitete sich und ihre Brillengläser wurden feucht. Sie dachte: er hat recht – Gott, wie recht hat er! Ein Bild nach dem andern stieg vor ihr auf, aber vor allem dachte sie an das, was sie mit den Lehrerinnen erlebt hatte. Ihnen hatte sie sofort vertraut. Und um ihnen gefällig zu sein, hatte sie ihm die Schule gleich abgenommen, ja seit jener Zeit eine Art Oberaufsicht ausgeübt ... Bis zu diesem Augenblick hatte sie in dem holden Wahn gelebt, das sei ihm gleichgültig, – oh, wie fühlte sie sich jetzt erleichtert!

Und dann begann sie zu ahnen, was auch sie gefehlt haben konnte – sie hatte nicht das rechte Verständnis für diese seine empfindliche Natur. Wenn die zurückgedrängten Triebe wieder Macht über ihn gewannen, so hatte sie das verschuldet.

»Du meinst das mit den Lehrerinnen, Thomas?« fragte sie, und in ihrer Stimme lag etwas wie eine Selbstanklage.

Dann ergriff er ihre Hände und hielt sie fest, während er abrechnete. Es kam eine so lange Reihe heraus – von großen und kleinen Posten –, von so kleinen, daß sie von ihrer Existenz keine Ahnung gehabt; – von Antworten, von beiläufigen Ratschlägen, von Worten, die sie an andere gerichtet, ja sogar von stummen Blicken bei etwas, das er gesagt ... Und in ihrem Schrecken bat die ehrliche Frau Rendalen mit Hand und Mund und Arm und Brust um Verzeihung und schwur, daß, wenn er künftig sage, er wolle zum Monde gehen, sie ihm glauben würde. Aber kaum hatte sie sich zu dieser kräftigen Übertreibung, über die auch Thomas lächeln mußte, emporgeschwungen, so erwachte auch ihr Gedächtnis wieder. Klar erinnerte sie sich, wie es zugegangen, wie sie zum erstenmal Mißtrauen gefaßt hatte. Das war damals nach seiner großen Rede. Da hatte er sie mit sich aufs Glatteis geführt, viel weiter, als sie ihm hatte folgen wollen, und das merkte sie erst später. Das war die Ursache! Die Macht seiner Überzeugungen, seine Überredungskunst und ein Etwas, für das sie keinen Namen hatte, ließ den Menschen, die mit ihm in Berührung kamen, nicht die Freiheit des Handelns; ohne Zweifel hatten sich auch die Lehrerinnen ihrer inneren Freiheit beraubt gefühlt. Aber so sind wir Menschen, daß, sobald wir entdecken, daß wir uns weiter haben fortziehen lassen, als es uns angenehm ist, wir uns nicht bloß zur Wehr setzen – das wäre ja nur in der Ordnung –, nein, von diesem Augenblick an betrachten wir alles, was uns gesagt wird, mit Mißtrauen ...

Frau Rendalen war sich bewußt, daß sie so gehandelt; sie wußte, daß sie versucht hatte, es wieder gut zu machen; aber sie ahnte nicht, daß er das merkte. Wohl hatte sie gefühlt, daß sie sich selbst schadete, wenn sie das tat; aber erst jetzt kam es ihr zum Bewußtsein, daß sie auch ihm schadete.

Ja, in dieser Weise wurde hier abgerechnet. Sie wurden gestört, aber in den nächsten Tagen ward die Abrechnung immer wieder fortgesetzt. Dabei wurde über das Schicksal der armen Thora für die nächste Zukunft ein Beschluß gefaßt. Es war nur eine kleine Abzahlung einer großen Schuld. Und jetzt brachte man sich auf beiden Seiten volles Vertrauen entgegen. Er gab sich so unmittelbar, so zärtlich und so treu in den geringfügigsten Dingen, daß sie ihn mehr als bewunderte – sie verliebte sich förmlich in ihn. Wenn sie da saß, oder in Gedanken umherging und er unerwartet zu ihr trat, errötete sie. Wie sich nur sein Schritt vernehmen ließ, konnte man ihr das ansehen; sie erriet, was er wollte, und alles, was er wollte, war ausgezeichnet. Sah sie ihn in guter Laune, so begann sie zu singen – das ärgste, was sie vornehmen konnte. Nora hätte sich unglücklich gefühlt, wenn sie nicht ebenfalls an diesem großen Versöhnungsfest, das vom Morgen bis zum Abend und vom Abend bis zum Morgen währte, hätte teilnehmen können.

Während diese Wandlung sich vollzog, wurde also Thoras nächste Zukunft geordnet. Thomas war bald mit sich einig darüber, was geschehen mußte. Fürst war, wie die Zeitungen gemeldet hatten, nach Stockholm kommandiert worden, und Thomas erbot sich sofort mit Thora dorthin zu reisen. Fürst sollte gezwungen werden, Thora zu heiraten – natürlich nicht, damit sie mit einem solchen Schurken zusammenlebe, sondern damit das Kind seinen Namen und sie selbst die Mittel erhielt, für ihr Kind sorgen zu können. Und mußte Thomas sich an Fürsts Vorgesetzte, ja sogar an den König wenden – er wollte dafür sorgen, daß der Schurke seine Pflicht tat. Niemand von den Eingeweihten und am wenigsten die Mutter zweifelte einen Augenblick an dem Erfolge. Eine sehr optimistische Stimmung hatte sich aller bemächtigt.

Der armen Thora war von Anfang an Rendalens Vorschlag widerwärtig gewesen. Das Entscheidende für ihre Nachgiebigkeit war die Rücksicht auf die Schule und ihren Freundeskreis, damit auf beide nur ein möglichst kleiner Schatten fiele. Man war schonend genug, es nicht zu nennen – es nannte sich selbst.

Nur in einem Punkte wurde Thomas' Plan geändert; Frau Rendalen mußte reisen und nicht er – das hätte unangenehme Folgen haben können.

Zwei Tage nachdem der Plan entworfen, und drei Tage nach der gewaltsam unterbrochenen Vorlesung reiste sie ab.

Am Nachmittag des letzten Tages ward Frau Rendalen mit einem Male mißmutig. Man wußte, daß wegen des Geldes nicht alles in Ordnung gewesen – aber das kam ja in diesem Hause so oft vor – und gerade jetzt war man damit ins reine gekommen; trotzdem blieb der Himmel bewölkt. Thomas begab sich zu ihr und wollte die Ursache wissen. Mehrere Male wich sie ihm unter einem Vorwand aus; aber da er sich nicht abweisen ließ, mußte sie denn schließlich erklären, daß sie es nicht sagen könnte; es sei ein fremdes Geheimnis – nicht Thoras Geheimnis, beeilte sie sich hinzuzufügen. »Öffne deine Augen, so brauch' ich dir's nicht zu sagen!«

Und er öffnete seine Augen, aber es war ihm ganz und gar unmöglich, zu begreifen, woher die Verstimmung seiner Mutter rührte. Sie reiste mit ihrem Geheimnis ab. Er ging umher und fragte die anderen; aber sie waren alle gleich dumm.

In der Stadt erregte es Aufsehen, daß Frau Rendalen um diese Jahreszeit und mitten in der dringendsten Schularbeit nach Stockholm reiste; und daß sie als ihre Stütze und Begleitung die kranke Thora Holm mitnahm. Thora Holms Mutter erzählte stolz, vielleicht würde ihre Tochter gar nicht zurückkehren; erweise sich nämlich Stockholm als der rechte Ort für sie, so sollte sie dort ihre »Studien« fortsetzen ... Alle hatten gehört, daß Thora ungewöhnlich begabt war, so daß dies nicht weiter auffiel.

Frau Rendalen war beim Amtmann Tue gewesen und hatte mit ihm und seiner Frau über Nora gesprochen. Nach ihrer Ansicht hatte Nora besondere Anlage für das Erziehungswesen. Frau Rendalen fragte, ob Nora nicht in der Schule wohnen könnte, um jetzt während ihrer Abwesenheit die Aufsicht über das Hauswesen, die Pension und die Schule zu führen. Später könnte sie sich dann vielleicht für das Schulfach weiter ausbilden.

Dazu gaben beide Eltern sofort und unbedingt ihre Einwilligung.

Sie hatten von ihrer Tochter dieselbe Ansicht wie Frau Rendalen. Lächelnd fügte der Vater hinzu, es komme ihm höchst unwahrscheinlich vor, daß sie sich in einen Mann verlieben könnte. »Nein,« bemerkte die Mutter, »zur Ehe hat sie gar keinen Beruf.«

Auf dem Gute fand man es sehr seltsam, daß die jüngste Lehrerin, die im vorigen Jahre selbst noch Schülerin gewesen, über alle anderen gesetzt wurde; aber in der Tat offenbarte Nora jetzt ihre besten Eigenschaften; sie war immer heiter, immer hilfsbereit.

Mit Thomas fand sie sich sehr gut ab; er schien besonderes Gefallen an ihr zu finden ... Obgleich noch nicht dreißig Jahre alt, hatte er sich nach und nach eigentümliche Gewohnheiten angeeignet.

In der Schule war er jetzt wie in der ersten Zeit nach seiner Heimkehr. Er war ganz Lust und Liebe, und geriet auf die absonderlichsten Dinge, um den Gegenstand, um den es sich handelte, recht klarzumachen. Den Lehrerinnen freilich war er in gewissem Sinne wieder ein Quälgeist, aber er wurde nicht mehr mißverstanden, wenn er sich in den Unterricht mischte. Wurde irgend etwas nicht begriffen, so begab man sich unbedenklich zu ihm, um sich von ihm Aufklärung zu verschaffen, und dann war er unwiderstehlich liebenswürdig. Aber darum hörten die Mißverständnisse nicht auf; er war jedoch so freimütig, daß er sofort um Verzeihung bat, wenn er auf einen Mißgriff aufmerksam gemacht wurde ...

Frau Rendalen meldete aus Stockholm, Fürst sei abwesend, würde aber in einigen Tagen zurückkommen; sie müsse also bleiben und warten; inzwischen werde sie Thora bei einer achtbaren Familie unterzubringen suchen.

Trotz der späten Jahreszeit war ihnen die Reise nach Stockholm sehr gut bekommen. Thora erholte sich zusehends mit jedem Tage.

Thomas war in der besten Laune; wer ihn nicht kannte, hätte glauben können, er betrachte Thoras Unglück als das größte Glück.

Aber er sowohl wie alle anderen Freunde Thoras erfuhren eine große Enttäuschung, als in der Stadt sich das Gerücht verbreitete, Nils Fürst sei verlobt! Und mit wem? Mit Thoras treuer Freundin – Milla Engel! ...

Das Gerücht wurde von Anton Dösen, Fürsts bestem Freunde verbreitet. Er stellte es nur als eine Vermutung hin, aber er glaubte seiner Sache ganz sicher zu sein. Die Familien verhielten sich beide diplomatisch.

Welche Gesichter machten Millas Freundinnen und die Mitglieder des Vereins, so oft sie sich in diesen Tagen begegneten! Namentlich Tinka Hansen, wenn sie feierlich das Protokoll aufschlug und auf Millas Namen stieß; einen feierlichen Eid wollte sie darauf ablegen, daß alle bei der »absoluten Unsittlichkeit« an Nils Fürst gedacht hatte. Und damals sei Milla eine der strengsten gewesen. Das war ja auch selbstverständlich nach dem Vermächtnis ihrer Mutter ... Nein, eine solche Verlobung war unmöglich! So schlecht konnte man nicht von Milla denken; das wäre ja gegen Lebende wie gegen Tote gleich treulos.

Millas verschiedene Pariser Briefe an Nora wurden jetzt wieder gelesen. Sie wohnte gemeinsam mit einer amerikanischen Dame bei einer französischen Familie, die herbe Schicksalsschläge erlitten, aber vornehme Freunde und Verwandte hatte. Sie bewegte sich in aristokratischer Luft; sie hatte Gelegenheit, alles »Aristokratische und Feine« zu bewundern; alles, was damals in Paris Mode war oder durch Schönheit und Talent sich hervortat, lernte sie kennen; und sie wußte die Gelegenheit zu benutzen. »Du kennst ja mein schwärmerisches Temperament,« schrieb sie an Nora.

Sie hatte als treues Mitglied des Vereins begonnen. Aber fast unmerklich vollzog sich der Umschlag. Gemälde, Romane und Theatervorstellungen entzückten sie. Das äußere Leben übte einen besonderen Reiz auf sie – wenn sie es auch nur in gewisser Entfernung beobachten konnte ... Die Eindrücke, die sie empfing, kamen nicht immer aus erster Hand; man glaubte gleichsam die Stimmen ihrer amerikanischen Freundinnen zu vernehmen. Aber just darum hatte man ihren Berichten nicht die verdiente Aufmerksamkeit geschenkt.

Milla schrieb, was sie als Mädchen in der Schule alles geplant und sich eingebildet, sei nicht immer mit dem wirklichen Leben verträglich; ihr Vater habe recht gehabt. In jedem Briefe erzählte sie das eine oder andere, was diesen Satz beweisen sollte – es hatte nicht im entferntesten einen schlüpfrigen Anstrich; im Gegenteil, sie schrieb mit einer Feinheit, die man geradezu Kunst nennen konnte. Man dürfe sich keine Illusionen machen, dann werde man auch nicht so gleich unglücklich.

Nora hatte ihr geantwortet, wie sie fühlte und dachte.

Alle diese Bemerkungen Millas erhielten jetzt eine neue Bedeutung. Sollte ihre neue Anschauungsweise mehr sein als ein zufälliger Schlagschatten des vorüberrauschenden Lebens? Sollte es wirklich eine wohlüberlegte Einleitung sein zu der Verlobung mit Nils Fürst? Unmöglich! So schlecht konnte Nora nicht von ihrer Freundin denken.

Sie hatte Thora das feierliche Versprechen gegeben, Milla nichts zu sagen. Jetzt glaubte sie sich ihres Wortes entbunden und schrieb, wie es ihr ums Herz war. Auch Tinka schrieb, empört wie sie war über das große Verbrechen, das an Thora begangen war. Unverblümt sprach sie von dem Gerücht, daß mit einem solchen Menschen Thoras beste Freundin sich verlobt habe – sie, deren Namen im Protokoll stand! – –

Ganze fünf Tage gingen hin, ehe wieder ein Brief von Frau Rendalen kam, und dann erhielten sie eine kurze trockene Nachricht. Fürst nämlich war noch nicht nach Stockholm zurückgekehrt. Gleich darauf kam ein langer rührender Brief von Thora; aber dann vergingen wieder mehrere Tage, ohne daß eine neue Nachricht einlief.

Zehn Tage waren nun bereits verflossen, seitdem Nora und Tinka an Milla geschrieben. Hätte sie sofort geantwortet, so mußten sie schon einen Brief von ihr in Händen haben; und nach einer solchen Mitteilung und einer solchen Beschuldigung hätte sie doch sofort antworten müssen ...

Sie wurden alle im höchsten Grade unruhig, namentlich als eine der Freundinnen äußerte: als sie gehört, Milla und Fürst reisten zusammen, habe sie sich gleich gedacht, das gebe ein sehr passendes Paar.

Natürlich war es Anna Rogne, die diese Bemerkung machte. Warum hatte sie denn früher nichts gesagt? Weil die anderen das mit Mißtrauen aufgefaßt hätten, meinte sie.

Endlich eines Vormittags, gerade als der Unterricht beendet war, fand Nora ein versiegeltes Kuvert auf ihrem Tische. Es ahnte ihr Schlimmes, weil Thomas Rendalen ihr den Brief nicht sofort gebracht hatte. Den andern hatte sie versprochen, den Brief nicht eher zu lesen, als bis alle zugegen seien; aber derartige Gelübde kann man ja unmöglich halten.

Frau Rendalen hatte eine große Unterredung mit Nils Fürst gehabt. Er hatte Frau Rendalen mit höflicher Ruhe angehört, als wäre er auf alles wohl vorbereitet gewesen, und als er endlich sich erklären mußte, hatte er bloß gesagt, das sei eine heikle Sache; man könne verschiedener Ansicht sein über die Person, um die es sich handle. In seinen Augen war Thora Holm ein ungewöhnlich sinnlich veranlagtes Mädchen, welches in der Nähe eines Mannes sich nicht zu beherrschen wußte. Die Frage, ob er wisse, welche Macht er auf sie ausgeübt, hatte er mit ja beantwortet. Doch wirke seine Macht nur auf eine gewisse Art von Frauen, und zu diesen gehörte auch Thora.

Er hatte durchaus nicht irgendwelche größern Verpflichtungen sie zu heiraten, als er all die anderen, mit denen er in Verbindung gestanden, heiraten müßte. Für das Kind würde er sorgen und auch für sie selbst – das heißt eine angemessene Reihe von Jahren.

Frau Rendalen drohte damit, daß sie seinen Vorgesetzten alles erzählen würde – ja, sogar keinen Anstand nehmen werde, zum König zu gehen, wenn es sein müsse.

»Haben Sie die Freundlichkeit! Es ist ja bekannt, daß mein Arm nicht so weit reicht als der Ihrige, gnädige Frau.«

Sie bemerkte ihm, daß dies einen erbitterten Kampf geben werde. Er aber entgegnete ihr, daß er sehr wohl wisse, wie er geführt werden müsse. Er lasse sich nicht von Intriganten aus seiner Karriere drängen. Die Dame, um die es sich hier handle, war einfach dazu bestimmt, eine femme entretenue der feinern Gesellschaft zu werden; ihn zwingen wollen, sie zu seiner Frau zu machen, sei geradezu empörend.

Aber er wußte, was es hier galt – er sollte sich für die Schule opfern; allein dazu war er ganz und gar nicht bereit. Er wußte, was für Vorträge in der Schule gehalten worden; auch war ihm nicht unbekannt, welche Lektüre den Schülerinnen gestattet gewesen; das alles war durchaus geeignet, sinnliche Naturen zu reizen. Darum müsse die Schule auch die Folgen tragen; diese würden wohl auch sonst noch zutage treten.

Frau Rendalen erhielt den bestimmten Eindruck, daß etwas geschehen sei, daß er schon vorher sich wohl instruiert und mit andern beraten habe.

Das Gespräch hatte sie so angegriffen, daß sie krank wurde; das war zugleich der Grund, daß sie nicht eher geschrieben. Ferner meldete sie, daß sie am nächsten Tage die Rückreise antreten würde. Es gebrach ihr an Mut, hier an fremdem Ort weitere Schritte zu unternehmen. Wenn sie Fürst richtig verstanden hatte, so wünschte er gerade einen offenen Kampf.

Er nahm bereits eine Stellung ein, daß man sich vor ihm hüten mußte.

Sie machte kein Hehl daraus, daß diese Angelegenheit die Schule in Gefahr bringen und auch für Thora und ihre unschuldigen Freundinnen schlimme Folgen haben könnte. Thora war ganz außer sich. Es bangte beiden vor dem Abschied.

Der Brief schloß mit einer Klage darüber, daß diese Kämpfe mit der Schule niemals ein Ende nehmen wollten.

Spät am selben Abend – Fräulein Hall, Tinka und Anna Rogne hatten alle den Brief gelesen und saßen bei Nora im Wohnzimmer – kam ein Telegramm. Man glaubte, es sei von Frau Rendalen, und Nora stand sofort auf, um es Thomas zu schicken, als Tinka ausrief: »Es ist ja nicht an Thomas, sondern an dich selbst gerichtet!«

»An mich?« fragte Nora und kehrte wieder um. Richtig, die Depesche war von Milla. Sie lautete:

»Abscheulich; Gerücht unwahr!«

Vierzehn Tage waren verflossen, seitdem Nora und Tinka geschrieben hatten. Zehn Tage also war Milla im Besitz ihrer Briefe gewesen, und dann schickte sie – ein Telegramm! Was hatte das zu bedeuten?

Während die anderen die Depesche bald wieder über den Nachrichten vergaßen, welche Frau Rendalen geschickt, saß Anna Rogne grübelnd da mit Millas Telegramm in der Hand.

Sie fragten sich, ob auch sie jetzt mit in den Skandal hineingezogen werden sollten. Vielleicht war der »Krieg« schon erklärt. Nils Fürst hatte an einen Freund in der Stadt geschrieben und seine Auffassung der Sache auseinandergesetzt. Was war jetzt zu erwarten! Vielleicht durfte fortan keine von ihnen sich mehr auf der Straße zeigen!

Da gab Anna Rogne ihren Betrachtungen eine andere Richtung. Sollten sie diese Depesche nicht Thomas Rendalen mitteilen? – Ja natürlich – und es geschah sofort. Alle glaubten, Thomas würde sogleich zu ihnen hereinkommen; aber sie warteten vergebens – nach einer Weile hörten sie ihn auf dem Piano spielen.

»Ja, wenn nicht einmal Herr Rendalen der Depesche irgendwelche Bedeutung beilegt, so darf ich wohl sagen, wie es zugegangen ist,« bemerkte Anna Rogne förmlich.

Der Zusammenhang, meinte sie, sei der, daß Milla und Fürst wirklich verlobt seien. Aber auf Noras Brief habe sie sofort Nils Fürst Mitteilung gemacht. Eben darum sei er in jeder Beziehung vorbereitet gewesen, als Frau Rendalen nach Stockholm gekommen war; eben darum wünschte er einen öffentlichen Krieg; sonst war die Sache für ihn verloren. Und unterliegen durfte er nicht; die Verheiratung mit der reichsten Erbin an der ganzen Küste war für seine Karriere eine unerläßliche Vorbedingung.

Eben weil Milla mit ihm verlobt gewesen, hatte sie nicht schreiben können. Sie hatte sich so lange bedacht – sich vielleicht auch geprüft –, bis sie den Ausweg gefunden hatte ihnen zu telegraphieren.

Anna Rogne schloß mit den Worten: »Meiner Ansicht nach befindet sich in diesem Augenblick Leutnant Fürst in Paris – oder doch auf dem Wege nach Paris.«

Seltsam: Annas Verhältnis zu Milla wurde für die letztere verhängnisvoll. Dieses Verhältnis übte seinen Einfluß – zunächst auf diejenigen, mit denen sie täglich verkehrte, und später auch auf Frau Rendalen. Nils Fürst befand sich richtig auf dem Wege nach Paris; aber hätten Millas Freundinnen Frau Rendalens Brief ihr sofort zugeschickt, sie hätte ihn kaum empfangen. Und hätten sie Thora gebeten, Milla zu schreiben, – er hätte sich ihr sicherlich nicht nahen dürfen, weder persönlich noch mit einem Brief. Selbst jetzt durfte er das nicht einmal. Dazu bedurfte es einer kräftigen Unterstützung von seiten ihres Vaters. All das hatte er vorausgesehen und danach seine Maßregeln getroffen.


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