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16.

Auf der Treppe.

Dieses feste Zusammenhalten, dieser lebhafte Drang nach Wissen, nach Selbständigkeit waren ein unleugbarer Beweis dafür, daß die Schule ein großes Ziel verfolgte – mochten sich auch kritische und etwas spöttische Bemerkungen daran knüpfen.

Ein jeder war erstaunt, daß durch die Überlegenheit des Unterrichtsstoffes, der Experimente, der Methode die Kinder so gründliche und vor allem so liebgewordene Kenntnisse sich erwarben, und zwar in Dingen, welche alle begreifen konnten und die zu den notwendigsten Bedürfnissen des Lebens gehörten. Mit einem früher nie gekannten Eifer erzählten die Kinder zu Hause von dem, was sie gelernt und bettelten ihre Väter an, ihnen Apparate zu chemischen und physikalischen Experimenten, Mikroskope, historische Abbildungen zu kaufen, welche die Sitten aller Völker und Zeiten illustrierten.

Der große Eifer und der Reichtum an Apparaten machte die Unterrichtsstunden zu einer angenehmen Beschäftigung. Und nach dem Unterricht sprangen die Mädchen am Nachmittage froh und glücklich, ohne Bücher, ohne Schultasche den Hügel hinunter nach Haus, frei, völlig frei! ...

Aber die Glücklichsten waren Frau Rendalen und Karl Wangen. Wo Frau Rendalen mit ihrer unmusikalischen Stimme und ihrer Brille auf der Nase umherging, war es allen wohl zumute; sie verbreitete schon durch ihre Gegenwart gewissermaßen Wohlbehagen und Freude um sich her. Auf Karl Wangens Gesicht schwebte von früh morgens bis zum Abend ein ewiges Lächeln. Er strahlte förmlich, wenn nur jemand zur Schule hinaufblickte, und konnte wieder und wieder all die kleinen Begebenheiten der Schule erzählen oder sich erzählen lassen; ihm war alles bedeutungsvoll und amüsant.

Nur mit Thomas war nicht alles in Ordnung. Es fehlte ihm irgend etwas, aber was? Entweder rannte er in den Gartenwegen gegen Karl Wangen an, oder er lief pfeifend und mit den Händen in den Taschen so beharrlich auf und ab, daß einem, wenn man das eine Zeitlang ansah, ordentlich schwindlig wurde. Oder er spielte stundenlang Klavier oder arbeitete halbe Tage lang ohne Ruh und Rast; oder er las ein neues Buch und ließ sich durch nichts stören; oder er machte endlose Spaziergänge; oder las den Mädchen vor und amüsierte sich mit ihnen wie mit Kameraden, – oder er mochte sie und die Schule und alles, was dazu gehörte, nicht sehen. Dann mußte seine Mutter die Literaturstunde, Fräulein Hall Chemie und Physik und Nora den Gesang übernehmen – er wollte, er konnte nicht unterrichten. Dann kehrte er wieder zurück, froher, frischer als je, und arbeitete für zwei. Die Mutter schrieb das auf Rechnung all der Jahre, in denen er keine regelmäßige Beschäftigung gehabt hatte.

Hatten sie Gäste, so kam er gar nicht zum Vorschein; oder er kam, setzte sich in eine Ecke und blieb während der ganzen Zeit stumm. Oder er stand da herum und sagte: »Ja, ja; gewiß; versteht sich; natürlich« – und ging wieder fort.

Nun – man brachte das unter den Gesichtswinkel des Genialen; Thomas Rendalen hatte etwas Geniales an sich.

Ehe er nach Amerika ging, hatte er eine Geschichtslehrerin »entdeckt«; überhaupt war er sehr stark im »Entdecken«. Sie hieß Karen Lothe und gab Unterricht in Handarbeiten, Schreiben und Zeichnen. Thomas waren ihre Kenntnisse in verschiedenen Fächern aufgefallen, und er fand bald, daß das junge Mädchen einen nicht geringen Schatz kunsthistorischen Wissens besaß. »Eignen Sie sich auch gründliche Kenntnisse in der Kulturgeschichte an,« sagte er zu der jungen Karen. Diesen Rat zu erteilen, wurde er niemals müde. Hier bei uns zulande ist es mit kulturhistorischen Kenntnissen mehr als ärmlich bestellt, und doch haben bloß diese Kenntnisse Wert für eine Schule. Schon jetzt begann er die große Sammlung kulturhistorischer Zeichnungen anzulegen, welche die Schule sich nach und nach erwarb, und hierdurch fesselte er ihr Interesse. Er hielt es fortwährend lebendig, indem er ihr von seinen Reisen aus weitere Zeichnungen, sowie Bücher und guten Rat sandte; und kaum war er nach Hause zurückgekehrt, so übernahm er den gesamten Geschichtsunterricht der Schule, um ihr zu zeigen, was er meinte. Die Entwicklung, den Zusammenhang suchte er in einer großen historischen Übersicht, die wieder durch kulturhistorische Zeichnungen und Karten verständlich und klargemacht wurde.

Sein Vortrag war einseitig; aber er hatte Kraft und Farbe; man bekam eine echt geschichtliche Vorstellung. Karen Lothe war ganz hingerissen. Das Neue an seiner Person, seine Ansichten, sein wunderbares pädagogisches Talent, die eindringliche Art dieses Talents, die einen glauben machte, niemand anders sei für ihn in der ganzen Welt vorhanden als derjenige, den er ansah, – der ausgesuchte Geschmack, mit dem er sich kleidete, das Gefällige seines ganzen Wesens – bis herab auf den kaum merklichen Duft einer feinen Essenz, – das begabte Mädchen hatte trotz ihres tiefen Gemüts und ihrer 26 Jahre niemals etwas erlebt, das auch nur von ferne diesem glich, da er sie Tag für Tag mit etwas Interessantem unterhalten konnte.

Die Mißverständnisse und Verfolgungen, welche er sich gefallen lassen mußte, steigerten ihre Gefühle für ihn zu wahrer Schwärmerei. Aber sie behelligte niemand damit.

Dann übernahm er die Schule als deren Leiter. Er kam und hörte sie unterrichten – wobei er dann eifrig sich beteiligte oder wieder fortging, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Bald ließ er sich längere Zeit gar nicht sehen, bald kam er Tag für Tag, nahm ihr ganze Stunden ab, oder ging stumm auf und ab, auf und ab. Kurz vor Weihnachten begab sich Karen Lothe zu Frau Rendalen und versicherte ihr, sie könne keinen Tag länger in der Schule bleiben.

Wenn sie nur seine Schritte im Korridor höre, fahre sie zusammen; in seiner Gegenwart könne sie nicht die einfachste Begebenheit erzählen, geschweige denn Unterricht erteilen.

– Aber warum denn nicht?

– Er zeige ihr die offenbarste Geringschätzung. – Und die Lehrerin begann zu schluchzen.

– Geringschätzung?

– Ja! Entweder falle er ihr beständig ins Wort und nehme ihr den Unterricht vollständig ab, – oder er würdige sie nicht einer Bemerkung, kehre ihr den Rücken, grüße nicht und lasse sich nicht sehen usw.

Frau Rendalen rief die Lehrerinnen zusammen und legte ihnen Fräulein Lothes Klage vor, überzeugt, daß hier ein ganz merkwürdiges Mißverständnis obwalte.

Aber die Lehrerin, welche Fräulein Lothes Zeichenunterricht übernommen hatte, versicherte, hätte sie nicht ihre Mutter zu versorgen, so hätte auch sie schon längst die Schule verlassen; sein beständiges Zurechtweisen in Gegenwart der Kinder war nicht zum Aushalten. Er war ein unerträglicher Tyrann. Er habe sie so nervös gemacht, daß sie schon zittere, wenn sie ihn nur gehen höre. Und auch sie begann zu weinen.

Die erschreckte Frau Rendalen wendete sich hastig an die anderen Lehrerinnen. Was war denn das? Die Sprachlehrerin, ihre ehemalige Schülerin und gute Freundin, welche mit ihrer Unterstützung sich im Auslande weiter ausgebildet hatte – sie mußte jetzt reden.

Ja, sie seien allerdings der Ansicht, daß ihr Sohn selbst keine Ahnung davon habe, daß er sie »zurechtwies« – ebensowenig davon, daß er verletze, wenn er in einer Weise in den Unterricht eingriff, daß die Kinder seine große Überlegenheit merkten –, aber jedenfalls war das oft kränkend. Er war so ungleichmäßig in seinem Wesen, sowohl den Lehrerinnen wie den Kindern gegenüber; er behandelte dieselben Dinge nicht in derselben Weise, sondern je nach seiner Stimmung. Ihre Meinung – und diese wurde von allen anderen Lehrerinnen geteilt – ging dahin, daß er zum Leiter einer Schule kaum geeignet sei. Sogar Fräulein Hall, die sonst über nichts zu klagen hatte, war dieser Ansicht.

Frau Rendalen bat sie, um Gottes willen die Sache wohl zu überlegen. Es könnte doch nicht ihre Absicht sein, die Schule zugrunde zu richten! Sie war sehr erregt und sagte, vorläufig übernehme sie die Leitung. Aber sie müßten es nicht bekannt werden lassen! Mit der ihr eigenen Heftigkeit und Energie griff sie sofort ein. Da wurden die anderen erschreckt; es gab rührende Auftritte; die eine rühmte ihren Sohn noch mehr als die andere; ja, wer das Vorhergehende nicht gehört, hätte meinen sollen, sie glühten alle vor eitel Begeisterung.

Alles wohlerwogen: einen ausgezeichneten Schulplan nach den besten Mustern der Gegenwart entwerfen und selbst ein hervorragender Lehrer sein – das ist etwas ganz anderes und weit mehr als ein tüchtiger Schulvorsteher sein. Darüber waren sie und Frau Rendalen bald einig; und damit trösteten sie einander, so gut es ging.

Aber für Thomas handelte es sich hier um sein Lebensziel; ging dieses ihm verloren, so blieb ihm nichts mehr.

Als Auguste ins Grab sank und er sich bewußt wurde, daß es für ihn nichts Verlockendes hatte, eine Familie zu gründen, war das Ziel, die Schule der Mutter zu übernehmen und sie zu dem zu machen, wovon sie geträumt, ohne es zu erreichen, gewissermaßen seine Verlobung, seine Ehe, die Begründung eines Familienverhältnisses gewesen. Und darauf war er stolz. Dies war die treibende Kraft in seiner ersten Jugend, bei seiner Arbeit, in seinem makellosen Leben. Dies war es, worauf Karl Wangens unerschütterliche Bewunderung beruhte, der geheime Text zu Frau Rendalens Gesprächen und Briefen.

Allein es kamen mancherlei Kämpfe, und seine unbändige Natur bestand sie nicht alle glücklich. Aber jedesmal ergriff ihn ein Schamgefühl wegen seines Ideals, das sich in einen Gegenstand des Schreckens – jenes tiefen Schreckens verwandelte, den seine Mutter empfand, als sie ihn unter dem Herzen trug. Mit starken Farben hatte sie ihn oft geschildert; aber was war dieser Schrecken gegen das, was er erlebte! Es war furchtbar. Das brachte ihn wieder zu einem vertraulichen Verhältnis mit seiner Mutter und veranlaßte ihn, unerschütterlich an dieser Vertraulichkeit festzuhalten. Zwischen Mutter und Sohn war es heiligster Ernst; sie hatten ein gemeinsames Lebensziel.

Vielleicht hätte er sie, das Lebensziel sowohl wie den Schrecken, gleichsam über den Haufen geworfen, hätten seine sinnlichen Liebesregungen sich auf eine einzige konzentriert, um dann von dieser einzigen festgehalten zu werden; denn er besaß eine wilde Energie, und es fehlte weiter nichts, als daß ein anderer fester Wille dem seinen sich vereinte. Aber die angeborene Unruhe seiner Natur ließ den einen Eindruck von dem andern sich bald wieder verwischen; der Schrecken konnte sich stets mit immer größerer Macht dazwischendrängen, – und so blieb schließlich die Furcht vor dem Ehestande die stärkste Empfindung. Doch das Lebensziel war gerettet.

Von dem Augenblick an, da er vollständig gesiegt hatte, entwickelte sich etwas fieberhaft Abstraktes in ihm. Der Keim dazu war stets vorhanden gewesen. Es erinnerte dies an seines Vaters Vorliebe für Bilder und Gleichnisse, an seinen Drang, die Dinge immer im großen zu nehmen.

Die Studien wurden forciert; niemals wurde erst ein Gegenstand für sich bewältigt, sondern mit einer Art Eifersucht der eine gleichsam innerhalb des anderen. Hätten die Prüfungsfächer seinen Neigungen nicht ganz besonders zugesagt, er würde nie ein Examen gemacht haben. Er war längst mit den Schulfächern fertig und hatte sich bereits auf vielen anderen Wissensgebieten getummelt, als er sein Examen ablegte. Er war immer dem, womit er gerade schulmäßig beschäftigt war, weit voraus; es ward zu einem Gliede in einem von ihm geschauten oder gedachten Ganzen.

Karl Wangen, der ihn studieren sah, konnte oft nicht begreifen, was er mit seinen Kenntnissen anfing. Ganz dasselbe Verhältnis im Umgange mit Menschen; oft schien er gar nicht zugegen zu sein und empfing doch ganz originale Eindrücke.

Nur solange als es bei den Lehrerinnen darauf ankam, seine historische Methode anzuwenden, interessierte er sich für sie in jeder Weise; damit war seine Teilnahme völlig erschöpft.

Aber seine eigene Arbeit? – Nachdem die jahrelange, rastlose Jagd nach dem besten Unterrichtsstoff und der besten Lehrmethode beendet war, – nachdem der Schulplan nach zahlreichen Änderungen und Verbesserungen praktisch zur Anwendung gekommen – und als namentlich der äußere Widerstand zu Boden geschlagen war – ja, was war da noch im Wege?

Alle um ihnen herum freuten sich seiner Tüchtigkeit, seiner Erfolge; namentlich die Freude seiner Mutter war überaus rührend. »So habe ich mir die Schule immer gedacht, mein lieber Sohn!« sagte sie fast Tag für Tag. Er war ihr dankbar für diese Anerkennung, sie war ihm Bedürfnis. Und dennoch – das Unterrichten, sein Haupttalent – es konnte ihm wohl ein Sporn sein, die schwierigsten Gegenstände klar und anschaulich darzustellen; es konnte ihm wohl Vergnügen machen, einen neuen Gedanken gegenüber älteren Personen zu verteidigen oder ihre Aufmerksamkeit auf eine die Gegenwart bewegende Frage zu richten. Alle Gegenstände, deren Lösung Schwierigkeiten bereitete, behandelte er mit hartnäckiger Geduld; aber damit war sie erschöpft.

Er fühlte seine Mängel. Da er sich sehr viel mit sich selbst beschäftigte, peinigten diese ihn im höchsten Grade. Er hatte Augenblicke, in welchen ihm die Schule geradezu verhaßt war.

Dann fühlte er sich von allem Lebensmut verlassen; es war so öde in ihm, so – liebeleer, hätte er gesagt, wären seine Mutter und sein Freund nicht gewesen; denn an beiden hing er mit inniger Liebe. Sehnsucht nach dem Weibe und der Familie war es nicht; wenigstens nicht zunächst; denn er fühlte sich zu keinem weiblichen Wesen besonders hingezogen ...

Lag hierin vielleicht das Unglück, – in dieser seiner Unfähigkeit, zu einem Weibe in ein inniges Verhältnis treten zu können? Ein Mann, der tagtäglich mit solchen Grübeleien umhergeht und dann eines Abends von seiner Mutter Tränen und Klagen heimgesucht wird, weil die Lehrerinnen ihn nicht länger als ihren Vorgesetzten dulden wollen, – ein solcher Mann fährt nicht auf wie von einem unerwarteten Schlage getroffen. Thomas blieb während ihrer Mitteilung ruhig an dem Piano sitzen, an welchem er gerade saß; von Zeit zu Zeit schlug er mit einem Finger auf eine Taste während ihrer langen, oft unterbrochenen Auseinandersetzung; er sah, wie verzweifelt seine Mutter war, und so maskierte er seine eigene Verzweiflung. Er fühlte es, er hatte jetzt nichts mehr in der Schule zu tun.

Gelassen bemerkte er, vielleicht könnte sie selbst vorläufig die Leitung übernehmen. Er klimperte dazu, als hätte das weiter nichts zu bedeuten. Sie erwiderte, das habe sie den Lehrerinnen bereits gesagt.

Er war leichenblaß. Sie beeilte sich hinzuzufügen, selbstverständlich könnte nur er allein die Ausführung seines Unterrichtsplanes überwachen. Sie bat ihn, sofort mit den Lehrerinnen zu sprechen. Er nahm ja mit niemand Rücksprache. Man mußte ihn deshalb völlig mißverstehen; er verletzte die Lehrerinnen, weil er ihnen kein Vertrauen zeigte, ja, es sogar manchmal an Rücksicht fehlen ließ. Mochte er sie denn nicht leiden?

Das war Thomas zu viel. Er warf sich über das Piano und brach unwillkürlich in Tränen aus; sprang dann auf, griff nach Hut und Überrock und eilte hinaus, trotz der Bitten seiner Mutter, doch zu bleiben und mit ihr zu sprechen wie in alten Tagen.

Aber das war ihm unmöglich. Denn auch in seinem Verhältnis zur Mutter lag etwas, das ihn schmerzte. Als er von seiner Weltreise heimkehrte, hatte sie ihn mit der größten Bewunderung empfangen; alles was er damals sagte und plante, war richtig; aber – nach seiner Programmrede waren ihr Zweifel gekommen. Und diese Zweifel waren mehr und mehr gewachsen, so daß sie jetzt allem, was er sagte, ein Fragezeichen hinzufügte. Bei der ersten Klage der Lehrerinnen nahm sie ihm die Schule ab!

Nicht daß er sie ihrer Zweifel wegen angeklagt hätte; er vermochte diesen Zustand nur nicht zu ertragen.

Seine Art, mit den Menschen umzugehen, mußte grundverkehrt sein, wenn man ihn in der Weise mißverstehen konnte. Vielleicht war dies der innerste Grund des ihn quälenden Gefühls der Unlust und Leere ...?

Diese Damen hatten ja alle für ihn geschwärmt. Die Lehrerinnen sowohl wie die oberste Klasse und – – War auch das eine Illusion, ein Selbstbetrug? Oder war es jetzt damit vorbei?

»Schwärmen« ... Was heißt das? Voll Verachtung wies er alle Schwärmerei von sich ... Und doch hatte er sich ihrer gefreut und sich dadurch in Illusionen wiegen lassen. Er hatte das Schwärmen für etwas Wirkliches gehalten.

Nein; wer haben will, muß auch geben. Wer Liebe heischt, muß selbst lieben können. Und das vermochte er nicht – wenigstens nicht so wie andere ...

Er unternahm eine lange Wanderung – ganz wie an jenem Frühlingsabend, als er seinen Vortrag gehalten. Er dachte daran zurück, mit welch frohem, vollem Herzen er aus Amerika heimgekehrt war; wie ihn einzig der Ehrgeiz erfüllt hatte, sich seinem Vaterland nützlich zu machen. Gab es etwas Herrlicheres für ein kleines Volk, als seine beste Kraft in der Erziehung seiner Kinder zu betätigen? Dafür alle Opfer zu bringen? Mögen doch die großen Völker die Früchte ihrer Arbeit für Armeen vergeuden! ...

Wie er an jenem Abend nach dem Vortrage in seinem Innersten verwundet und bangen Herzens plan- und ziellos umhergeschweift war – Karl war unablässig stumm neben ihm hergetrabt wie ein hochbeiniger Hund mit guten, treuen Augen –, so wanderte er auch jetzt wieder umher, nur daß es Winter war und er sich ganz allein befand; er hätte sich jetzt vor seinem Freunde geschämt.

Da und dort lagen einzelne Schneeflächen auf den Feldern (es war Tauwetter gewesen), und das nahm sich im Mondschein geradezu gespensterhaft aus. Im Walde unter den Tannen lag der Schnee noch fest und zum Teil auch auf den Wegen, so daß das Gehen sehr beschwerlich war.

Er war an Leib und Seele völlig ermattet, als er nach Hause zurückkehrte. In der Nähe des neuen Kirchhofs, auf dem sein Vater und sein Großvater ruhten und der an der einen Seite von den schwarzen Meereswellen bespült wurde, hatte er ein Gefühl, als müßte er Ruhe suchen in den Wogen oder in der Friedhofserde, oder in beiden – das ließ sich ja vereinen ...

Es war zwölf Uhr geworden. Wie in jener Nacht nach dem Vortrag wollte er nicht eher nach Hause, als bis er sicher sein konnte, daß die Mutter nicht mehr auf ihn wartete; in der Regel legte sie sich zwischen 9 und 10 Uhr zur Ruhe. Aber als er die Allee hinaufging, bemerkte er sowohl in ihrem wie in Karls Zimmer Licht. Wäre er nicht völlig ermattet gewesen, er würde wieder umgekehrt sein ...

Mit dem Licht in der Hand kam ihm die Mutter im Korridor entgegen: »Mein Gott, Thomas, wie du mich erschreckt hast!« sagte sie leise.

Was meinte sie damit? Er sah sie an. Die Ärmste, sie war, schien es ihm, wenigstens zehn Jahre älter geworden; so verweint und bekümmert und abgehärmt sah sie aus. »Laß uns doch, lieber Thomas,« begann sie – »Nein, nein, Mutter,« fiel er ihr ins Wort und machte eine abwehrende Bewegung mit der Hand, »ich bin ganz erschöpft.« – Und ohne »Gute Nacht« zu sagen und ohne sich umzusehen, suchte er sein Zimmer auf. Sie vernahm seine Schritte in dem Gang; sie hörte ihn die Tür öffnen und wieder schließen – und den Schlüssel im Schloß umdrehen! Oh, das war ihr ein entsetzliches Geräusch, dieses Knarren des Schlüssels ... Und warum schloß er sich ein? Es war ihr, als hätte er eine Scheidewand zwischen sich und ihr aufgerichtet ...

Während er die Lampe anzündete, hörte er Karl kommen, und im nächsten Augenblick gewahrte er des Freundes kummervolles, bleiches Gesicht in der Türöffnung. Er hätte sich ihm an die Brust werfen und laut weinen mögen. Alles, was er gewaltsam zurückgehalten, als er seine Mutter erblickte, wollte auch jetzt wieder hervor. Karls unerschütterliches Vertrauen war ihm die kräftigste Stütze, die er außer sich hatte.

»Nein, lieber Karl, nicht heut abend; ich bin müde, entsetzlich müde.«

Langsam, lautlos zog Karl seine langen Beine wieder zurück und drückte die Tür leise ins Schloß.

Thomas begab sich sofort zu Bett, schlief augenblicklich ein und erwachte erst nach acht Uhr.

Das war ein langer, gesunder Schlaf gewesen, und all die peinigenden Gefühle vom vorhergehenden Tage hatten ihn verlassen. Er sprang auf und kleidete sich hastig an. Nein, dachte er, wenn ich noch so gesund schlafen kann, steht es noch nicht verzweifelt mit mir; vielleicht gibt es doch noch irgendeine Lebensaufgabe für mich ... Er beschloß, auf einige Tage zu verreisen. Er wollte alles gewissenhaft erwägen und allein sein, während er mit sich zu Rate ging.

Das war der ganze Bescheid, den seine Mutter erhielt, als sie, während er sein Frühstück einnahm, zu ihm kam. Er bat sie, Karl zu grüßen, und reiste sofort ab.

Das war ihr nicht unangenehm. Sie wußte, wie schnell seine Stimmungen wechselten, wie rasch dem Gedanken die Tat folgte. Vielleicht, dachte sie, kehrt er völlig verwandelt von seiner Reise zurück.

Ihre Hoffnung ging nicht in Erfüllung. Er war fast ganz der Alte geblieben; nur merkte sie, daß er auf die Lehrerinnen erbittert war. Traf er mit ihnen zusammen, so peinigte er sie mit eleganter Höflichkeit; er war geradezu grausam gegen sie. Er übernahm wieder seine früheren Unterrichtsstunden, mit Ausnahme des Gesangsunterrichts, den er Nora übertrug, welche also jetzt zugleich Lehrerin und Schülerin war. Er versicherte, sie besitze ein ausgezeichnetes pädagogisches Talent.

Vielleicht, dachte Karl, kann er sich wieder für die Schule interessieren, wenn andere Lehrerinnen angestellt werden! Er teilte diesen Gedanken Frau Rendalen mit. Sie möchte die Sache vorsichtig untersuchen und ihrem Sohne zunächst von dem Observatorium sprechen, das man im Turm einzurichten begonnen; wegen Geldmangels hatte man die Arbeiten vorläufig einstellen müssen. Im nächsten Sommer, meinte sie, würden genügende Mittel vorhanden sein.

»Gott weiß, wo ich dann bin!« rief er aus und eilte davon.

Wenn ich die Lehrerinnen veranlaßte, ihn um Verzeihung zu bitten, dachte sie ... Und an dem Tage vor Weihnachten versammelte sie diese um sich und teilte ihnen mit, verschiedene Äußerungen ihres Sohnes deuteten darauf hin, daß er abreisen wolle.

Vor Schreck waren sie eine Weile ganz sprachlos. Endlich nahm Fräulein Lothe das Wort. So hatte sie es nicht gemeint; – sie hatte nur gemeint, – sie hatte gar nichts gemeint, sondern war nur schrecklich nervös gewesen. Sie glaube, er sei nicht mit ihr zufrieden. Die Lehrerin für Zeichnen und Handarbeit, eine lange blonde Dame mit gutem Kopf wurde ganz hitzig. Diese Spencersche Zeichenmethode, die Rendalen eingeführt, war einem im Anfang ein wahres Kreuz. Aber trotzdem hätte sie sich nicht beklagen sollen, nicht im mindesten. Und sie begann zu weinen.

Sämtliche Lehrerinnen beteuerten ihre Dankbarkeit; er war ja so außerordentlich tüchtig in allen Fächern. Aber er behandelte sie so von oben herab – wie ein Nichts.

Frau Rendalen riß sich die Brille ab, putzte sie und setzte sie wieder auf – riß sie wieder ab, putzte sie und schob sie von neuem auf die Nase.

Nein, da mußte Fräulein Hall denn doch sagen, woran es lag. Es kam daher, weil er alle und alles so ungleichmäßig behandelte.

Das machte die Lehrerinnen unsicher und verletzte das Gerechtigkeitsgefühl der Kinder. Sie möchte so gern mit Rendalen sprechen, sagte die kleine Amerikanerin; aber er mache sich geradezu unzugänglich. – Heute war auch sie nervös.

Das warf Frau Rendalens Plan völlig über den Haufen. Sie wußte nicht, was sie darauf antworten sollte. Vorläufig jedoch wurden alle weiteren Verhandlungen abgebrochen. Auf der Freitreppe nämlich stimmte ein großer Chor jubelnder Mädchenstimmen einen Gesang an, und alle eilten an die Fenster.

Es war Nora mit ihren Schülerinnen. In den letzten Tagen hatte sie verschiedene Chorgesänge mit ihnen eingeübt, und diese Singübungen endeten jedesmal da draußen auf der Treppe, – einer von Noras vielen Einfällen. Mit diesem ihren Einfall hatte sie besonderes Glück gehabt; denn nicht bloß die kleinen Schülerinnen, welche noch nicht mitsangen, warteten in der Nähe der Treppe auf den großen Augenblick, sondern auch erwachsene Leute blieben in der Allee stehen. Sobald die Mädchen um die Ecke gestürmt kamen und die Treppe hinaneilten, sammelte sich eine immer größer werdende Menschenmenge in der Allee. Kein Wunder daher, daß auch Frau Rendalen und die Lehrerinnen jetzt an die Fenster eilten. Die Mädchen hatten sich amphitheatralisch auf den Treppenstufen aufgestellt; die Kleinen, welche nicht mitsangen, hatten sich rechts und links von ihnen geordnet. Ganz unten stand Nora mit dem zurückgeworfenen hellblonden Haar unter der Kapuze, welche stets im Nacken lag. Sie hatte sich Rendalens Art des Taktschlagens angeeignet – das einzige, was dieser unruhige Mensch mit Ruhe machte; er bewegte nur das rechte Handgelenk und gab mit der linken Hand das Zeichen. Nora hielt die rechte Hand ganz so wie er vor die Brust.

Herrlich und kräftig tönte der Gesang über die Stadt hinunter. Vielleicht trug auch die Aussicht, welche die Phantasie in Klänge und Farben umsetzte, das Ihre dazu bei.

Da lag die Stadt unter ihnen mit dem Hafen zwischen den beiden Landzungen. Und in der Bucht all die emsigen Fabrikwerkstätten und die großen Holzlager. Zur Linken der Berg mit seinem Häusergewimmel; und dann in weiterer Ferne die Inseln und das Meer. Das Wetter an der Küste ist voller Unruhe: gewöhnlich, wenn die jungen Mädchen da auf der Treppe standen und sangen, jagten hastige Wolken vorüber oder es breiteten sich gebrochene Lichtstrahlen über die Landschaft; oder wenn es am Lande hell und friedlich war, so grollte und drohte das Meer. Vielleicht erklärte es sich daher, daß die Mädchen mit Vorliebe schwermütige Lieder wählten.

Für die Lehrerinnen wie für die Schülerinnen war das Singen auf der Treppe vom ersten Tage an der Glanzpunkt der Schule. Die älteren Mädchen, namentlich die Mitglieder des Vereins, hatten dann eine Empfindung, als schlössen sie sich fester aneinander. Was zwei oder mehrere im guten Gemeinsames haben, erfährt stets eine Kräftigung, wenn gesungen wird; alles ideale Streben steht in natürlicher Verwandtschaft mit harmonisch geordneten Tönen.

Aber derjenige, den dieser Gesang am tiefsten ergriff, hielt sich hinter einem geschlossenen Fenster verborgen; um keinen Preis mochte er gesehen sein. Er selbst sah Nora in ihrem hellen Mantel; sah das zurückgeworfene Köpfchen und die Taktbewegungen. Aber er blieb in seinem Versteck.

Der an die Stadt gerichtete Gesang lieh gleichsam alledem Ausdruck, was er auf Erden erstrebt. Wie unglücklich ihn jetzt diese Mädchenstimmen machten! Aber hatte er denn nicht in der Tat vieles erreicht? – trotz hartnäckigem Widerstand?

Nicht jeder konnte auf solche Erfolge zurückblicken ... und dennoch – hier stand er an seiner Grenze. Aber was war es eigentlich, das ihn so unglücklich machte? ... Er dachte an seine Mutter und an sein Verhältnis zu ihr, an sein Verhältnis zu seiner Umgebung ...

Da stürmte die ganze Schar in jubelnden Gruppen die Allee hinunter, zuletzt der Generalstab. Thora hatte den anderen irgend etwas zu erzählen oder einen Vorschlag zu machen. Sie gingen langsam und blieben von Zeit zu Zeit stehen ... Ja, das war es, darauf kam es an: ein Wesen zu haben, mit dem er alles, Freud' und Leid teilen konnte! ...


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