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25.

In beiden Lagern.

Nach Millas Brief verschwand Nora aus dem Zimmer; ja, es war ihr sogar mehrere Tage nicht möglich, ihre Beschäftigung wieder aufzunehmen; sie war wie gelähmt.

Erst Thora in ihrer Weise und jetzt Milla ... das war ihr zu viel, ihr, die in ihrem gemeinsamen Leben die ratende Stellung eingenommen. In der letzten Zeit hatte sie viel Spott hinnehmen müssen, und nicht am wenigsten von ihrem Vater, namentlich als sich herausstellte, daß ihre Eigenschaft als Vorsitzende ihr nur Hohn und Ärger einbrachte. Sie hatte sich dagegen zu wehren gesucht; aber nach Millas Brief gab sie den Kampf auf.

Auch früher schon hatte sie manchmal eine Empfindung gehabt, als ob ihr Leben doch zu oberflächlich und äußerlich sei. Aber nach dieser Erfahrung! Wieder und wieder dachte sie zurück an all die Stimmungen und Erlebnisse ihrer Freundinnen, seitdem sie hierher gekommen war; und überall fand sie auf der einen Seite hohes Streben, auf der anderen jämmerliche Feigheit, wenn es Ernst wurde – und nicht am wenigsten bei sich selbst. Leichtbegeistert und unsäglich flüchtig, die Köpfe voller Redensarten, Eitelkeit und Eifersucht ...

Sie wollte dem Verein nicht mehr präsidieren, ja womöglich nicht einmal mehr Mitglied sein. Welche nützlichen Zwecke hatte er denn? Und dann war auch gerade jetzt das Verhältnis zwischen ihren Eltern kein gutes. Nora klammerte sich an die Schule. Sie versteckte sich dort förmlich.

Es kam Weihnachten. Sie hatte frei und sollte nach Hause gehen, aber sie bat um die Erlaubnis bleiben zu dürfen. Sie war sehr viel allein. Tinka war ganz von ihrem Verlobten in Anspruch genommen, der für die Weihnachtszeit nach Hause gekommen war. Die Verlobung war jetzt öffentlich. Anna Rogne studierte mit Rendalen Philosophie und dünkte sich so gelehrt und glücklich, daß mit ihr nicht umzugehen war.

Oft wenn jemand hereinkam, saß Nora da und weinte. Sie hatte eine eigentümliche hastige Art, ihre Tränen zu entfernen: die Hand fuhr so schnell über die Augen, als jagte sie eine Fliege fort. Und dann lächelte sie dem Eintretenden freimütig entgegen, gleichviel wer es war; die Ursache ihrer Verstimmung konnte also nicht im Hause selbst gesucht werden.

Nora mißmutig? ... Alle wußten, daß das wohl vorkommen konnte, aber diesmal währte diese Stimmung sehr lange. Natürlich wurde sie mit Fragen bestürmt; aber dann ward Nora gleich so vornehm, daß niemand zweimal zu fragen wagte.

Endlich kam der lang erwartete Brief von Thora. Die Einleitung des Briefes erklärte sofort, was man wissen wollte. Die erregte, von zahlreichen Umschreibungen, Versicherungen, Einschaltungen unterbrochene Darstellung gab ein treues Bild von Thora. Es war bei Rendalen gerade eine Gesellschaft versammelt, und in dieser las Anna Rogne den Brief vor. Sie las etwas abgemessen, mit gleichmäßiger Betonung. Dadurch erhielten die vielen Einschiebsel ein eigentümlich lustiges Gepräge. Man lachte und war gerührt.

Während des Vorlesens hatte Rendalen Nora fortwährend angesehen. Er hatte kurz vorher gehört, daß sie dem Verein nicht mehr präsidieren wollte, und so mußte er die Zurückhaltung, die er sich auferlegt hatte, aufgeben.

Da die anderen ganz mit dem Brief beschäftigt waren, setzte Rendalen sich zu Nora und sprach sehr lange und sehr lebhaft mit ihr –, bis die eine und andere entdeckte, daß sie sehr oft mit der Hand über ihre großen Augen fuhr. Da ward es ganz still. Man begann die beiden anzusehen.

Frau Rendalen schlug vor, Musik zu machen und wandte sich zunächst an ihren Sohn. »Gern,« gab er zur Antwort, blieb aber gedankenvoll sitzen. Und als er dann von neuem gemahnt wurde, begann er, statt Musik zu machen, einen Vortrag zu halten über die Vererblichkeit. Auf einigen Umwegen kam er schließlich auf Thoras ererbte Schwäche. Es würde vielfach behauptet, die Kenntnis des wirklichen Lebens und der Umgang mit Menschen vermöchten in dieser Beziehung nichts zu ändern. Was beweise uns aber dagegen der soeben vorgelesene Brief? Vor allem, daß, wenn Fräulein Hall ihren Vortrag vier Monate früher gehalten, Thora gerettet worden wäre.

Es ergäbe sich für jeden daraus die Lehre: Helft euch einander mit eurem Wissen und mit furchtlosem Rat. Die Frau ist vielfach zur Absonderung verurteilt; der Mann sucht die Gesellschaft und kann sich eine genaue Kenntnis des Lebens aneignen.

Erst in der Gesellschaft lerne die Frau für ihre Sache kämpfen.

Die innere Entwicklung habe oft Krisen zu bestehen, und dadurch würde der Verkehr der Menschen vielfach erschwert.

Diese Bemerkungen hatten die Wirkung, daß die Frauen, welche in der Stadt die Sache der Schule führten, sich in der nächsten Zeit fester aneinander schlossen. Auch hatte von der Zeit an der Verein eine wirkliche Macht über die Schule. Jeder Mißton wurde gedämpft, ehe er die Lehrer erreichte. Schon früher hatten die Vereinsmitglieder sich über alle Klassen verteilt, um beizeiten die schwächeren Mitschülerinnen unterstützen zu können; dadurch hatte er einen großen Einfluß gewonnen.

Es war schon Mitternacht vorbei, als die Versammlung sich trennte.

Frau Rendalen hatte sich bereits auszukleiden begonnen, als sie zu ihrem Erstaunen hörte, daß ihr Sohn noch auszugehen beabsichtigte. Sie öffnete deshalb ein wenig die Tür und fragte, wohin er wolle.

»Oh, es ist eine so schöne, sternenhelle Nacht ...«

Frau Rendalen besaß nicht, was man poetischen Sinn nennt. Sie trat ans Fenster und blickte hinter die Gardine. Ja, es war eine sternenhelle Nacht. Eine Schulmutter hat an gar mancherlei zu denken, für die Sterne hat sie keine Zeit übrig ... Aber in welchem Tone er von den Sternen sprach ... Eigentlich war Thomas in der letzten Zeit nie so heiter gewesen, wie an diesem Abend; auch hatte er niemals so lange unter den Schülerinnen ausgehalten ...

»Frau Rendalen!«

»Mein Gott, wer ist da noch?«

»Ich bin es!«

»Aber liebe Nora, hast du dich noch nicht zur Ruhe gelegt? ... Ich schließe gleich auf ... Was seh ich, du bist noch in vollem Staat?«

»Ja, es war eine so schöne, sternenhelle Nacht ...«

»Thomas ist noch ausgegangen.«

»Das hört' ich ... Ach Gott, Frau Rendalen!«

»Was ist dir, mein Kind? ... Du mußt entschuldigen, ich begebe mich ins Bett ... Nun ...?«

»Ich bin so glücklich.«

»Wirklich? ... Das freut mich; denn du bist längere Zeit ganz unglücklich gewesen.«

»Frau Rendalen, geht es wohl an, daß ich Ihrem Sohn für seine heutige Belehrung danke?«

»Ob das angeht –? Was meinst du damit, mein liebes Kind?«

»Ich hatte keine Ruhe, eh' ich dies geschrieben.«

»Geschrieben? Obgleich ihr in demselben Haus wohnt?«

»Ich wollte es ihm noch heute abend schicken.«

»Heute nacht, meinst du! Warte doch lieber bis morgen, Nora ... und dann kannst du es ihm sagen ... Du weißt, Thomas ist oft etwas eigentümlich.«

»Aber nicht wahr, heute abend ist er guter Laune?«

»Du willst ihm also absolut einen Brief ins Zimmer legen?«

»Nein, nicht ich! Denken Sie, wenn Pastor Wangen oder Herr Rendalen selbst hereinkäme ...!«

»Du wünschtest, also, daß ich selbst ...?«

»Liebe Frau Rendalen!«

»Gib mir mal die Brille ... laß mal sehen!«

»Hier, hier ist der Brief!«

Und Frau Rendalen las:

»Herr Rendalen, ich kann nicht schlafen, eh' ich Ihnen für heute abend gedankt; es ist mir Bedürfnis, Ihnen mitzuteilen, wie sehr es mich dazu drängt. Aber ich fand keine Gelegenheit, Ihnen mündlich zu danken, und so muß ich diesen Weg einschlagen. Haben Sie Dank!

Ergebenst

Nora Tue

Frau Rendalen richtete sich im Bett auf.

»Ich will ihm den Brief auf den Tisch neben das Licht legen ... Hast du ein Kuvert? ... Gut ... und schon mit der Adresse versehen?«

»Ja...«

»So, nun reiche mir die Pantoffeln! ... Das war schön von dir, Nora... Ja, heute abend war er in guter Stimmung ...«

Und Frau Rendalen verließ das Zimmer.

Als sie sich wieder ins Bett legte, fragte sie:

»Aber Nora, nun sage mir mal aufrichtig, warum hast du ihm nicht gleich gedankt?«

Statt jeder Antwort schmiegte Nora ihr Köpfchen an Frau Rendalens ehrwürdiges Haupt, gab ihr einen Kuß und lief fort. In der Tür wandte sie sich um:

»Soll ich das Licht auslöschen?«

»Nein; gute Nacht, mein Kind.«

*

Der Winter ging zu Ende, man begann zu hoffen, daß es auch mit dem Kriege bald ein Ende nehmen würde.

Aber wenn die Gemüter erregt sind, hofft man in der Regel vergebens. Der politische Streit raste gerade jetzt am ärgsten; die sogenannte Volkspartei hatte ein eigenes Blatt gegründet; man war der Ansicht, daß der »Zuschauer« auf dem Gipfel seiner Nichtsnutzigkeit angekommen sei. Zwischen dieser Zeitung und dem neuen Blatt – dem »Freimütigen« – entbrannte sofort der heftigste Krieg, so daß die Gemüter immer mehr erhitzt wurden.

An Rendalens Geburtstag kam der Verein auf den unglückseligen Gedanken, auf dem Turm eine große Flaggenstange anzubringen, und an dem großen Tage wehte eine ungeheure norwegische Fahne hoch in den Lüften, und zwar ohne das Zeichen, welches als Sinnbild der Vereinigung Schwedens und Norwegens dient.

Ohne Zweifel dachten die Mädchen gar nicht an den alten Fahnenstreit.

Die Fahne ward als eine »Demonstration« aufgefaßt. Das hieß in der Schule Politik treiben. Rendalen ließ deshalb die Fahne nicht wieder aufhissen; er wollte einen neuen Streit vermeiden.

Aber das half ihm nichts; die bösen Geister waren einmal geweckt; und all die alten Anklagen tauchten wieder in den Spalten des »Zuschauers« auf. Im Klub trat plötzlich der Bürgermeister mit einem Geschenk von 5000 Kronen hervor für »eine neue Schule ohne Politik, ohne tendenziösen Unterricht und ohne eine Methode, welche wider die guten Sitten verstieß«. Der Geber wollte ungenannt bleiben.

Damit war der entscheidende Schritt getan.

Der Bürgermeister und seine Frau fügten je 1000 Kronen hinzu; auch war er es, der das vorige Mal die Errichtung einer neuen Schule in Vorschlag gebracht hatte; jetzt trat er öffentlich hervor. Das namenlose Geschenk war gerade so groß wie das Vermächtnis der Frau Engel ... War vielleicht Konsul Engel der Geber? ... Auf der Stelle wurden mehrere Beiträge gezeichnet; aber es waren nur kleine Summen.

Thomas suchte Mitglied des Klubs zu werden; gleichzeitig mit ihm mehrere seiner Freunde, namentlich Karl Wangen und Nils Hansen. Sie alle wurden in einer zahlreich besuchten Versammlung aufgenommen, Nils Hansen jedoch nur mit knapper Mehrheit. Und er hatte seine Aufnahme vorzugsweise dem Umstande zu danken, daß sich der Klub auf seinem Grund und Boden befand. Rendalens Aufnahme dagegen wurde ausgesetzt. Zwar bestimmten die Statuten, daß jedes Aufnahmegesuch in der nächstfolgenden Sitzung erledigt werden sollte; aber zum Glück befanden sich unter den Mitgliedern viele Juristen, so daß diese unzweideutige Bestimmung einer Auslegung unterzogen werden konnte, und da stellte sich denn sonnenklar heraus, daß die Worte »in der nächstfolgenden Sitzung« eigentlich bedeuteten: »in einer der nächstfolgenden Sitzungen«.

Die betreffende nächstfolgende Sitzung war sehr stark besucht. Der Bürgermeister eröffnete sie mit der überraschenden Erklärung, daß Herr Rendalen »im Interesse des Friedens« dem Verein fern gehalten werden müsse.

Nun waren aber eine Anzahl Mitglieder von ihren Frauen lediglich zu dem Zweck abgeschickt, um für Rendalen zu stimmen, und einer dieser klugen Weibermänner machte die schüchterne Bemerkung, daß durch den Antrag des Bürgermeisters der »Friede« bereits gestört sei. Hierüber ward der Bürgermeister so erbittert, daß er längere Zeit gar keine Worte fand, so daß der Advokat des Konsuls Engel, der erste Redner der Stadt, Bugge mit Namen, es angemessen fand, ihm zu Hilfe zu eilen. Ihm schlossen sich verschiedene andere Advokaten an und alle redeten mehr oder weniger von Frieden, Moral und Christentum – Dinge, das die sie alle nur vom Hörensagen kannten.

Karl Wangen fragte, was in aller Welt diese große Frage damit zu tun hätte, daß Rendalen Mitglied eines gesellschaftlichen Vereins werden wollen. Aber kaum hatte Karl Wangen sich erhoben, so zog der Bürgermeister eine lange Liste aus der Tasche und fragte, ob er Herrn Pastor Wangen einige Fragen vorlegen dürfte.

»Fragen Sie nur, ich werde antworten!«

»Erste Frage: Ist es wahr, daß Herr Rendalen gesagt hat, der Geschichtsunterricht könne nicht gut solchen Personen übertragen werden, welche glaubten, die Erde sei ursprünglich ein Paradies und die ersten Bewohner vollkommene Menschen gewesen?«

Atemloses Schweigen; und dann bemerkte Karl Wangen etwas zögernd:

»Ja, das ist wahr, aber –«

»Ich habe das Wort,« unterbrach ihn der Bürgermeister.

»Nein«, meinte einer der klugen Weibermänner, »Pastor Wangen hat das Wort. Sie haben ihn ja gefragt!«

Große Aufregung. Aber zum Glück befanden sich die wirklichen Männer in der Mehrheit.

»Zweite Frage: Ist es wahr, daß Herr Rendalen gesagt hat –?«

»Aber sehr verehrter Herr Bürgermeister,« rief ihm Nils Hansen zu, »will denn Herr Rendalen etwa in den Klub aufgenommen werden, um sich in der Religion examinieren zu lassen?«

Lautes Gelächter in der ganzen Versammlung, ohne jeden Parteiunterschied. Der Bürgermeister wartete, bis die Heiterkeit sich gelegt hatte. Als es wieder ruhig war, begann er von neuem:

»Zweite Frage: Ist es wahr – ?«

Neues Gelächter, noch ärger als zuvor.

Da packte der Bürgermeister seine Fragen zusammen und zog sich zurück.

Jetzt trat Karl Wangen auf. Sein Freund Rendalen sei der Ansicht, der Geschichtsunterricht müsse gewissenhaft alle Resultate der Wissenschaft berücksichtigen, also namentlich auch die Entwicklung des Christentums; aber das Menschenleben als etwas von Gott Geleitetes darstellen gehöre in die Kirchengeschichte.

»Ist er denn kein Christ?« fragte Rechtsanwalt Bugge.

»Diese Frage steht nicht auf der Tagesordnung!« rief Nils Hansen.

»Ist er denn kein Christ?« wiederholte Bugge.

»Nein, ein Christ ist er nicht,« antwortete Karl Wangen, rot wie ein Schulknabe.

»Der Dummkopf!« hörte man Nils Hansen halblaut sagen, und jetzt zog auch er sich zurück.

»Dann hat er uns hintergangen,« rief Bugge.

»Das hätte er gleich sagen sollen,« meinte ein zweiter. Jetzt riefen verschiedene durcheinander, und es entstand eine große Unruhe. All die klugen Weibermänner hielten erschreckt den Mund.

Da meldete sich ein angesehener Bürger zum Wort:

»Ja,« begann er, »ich kann es mir eigentlich erklären, daß Herr Rendalen kein Christ ist. Die Frau dem Manne gleichstellen – das widerstreitet dem Christentum.«

Da kehrte Pastor Wangen auf die Rednerbühne zurück, und jetzt sprach er mit vieler Wärme. Sein Freund Rendalen habe durchaus ehrlich gehandelt. So lange das Christentum das moralische Bewußtsein des Menschen trage, müsse jeder Schulvorsteher darauf achten, daß die Kinder vom Geiste des Christentums wahrhaft durchdrungen würden. Und nach diesem Grundsatz habe Rendalen gehandelt. Es sei nur zu bedauern, daß das Werkzeug so schwach wäre, denn das sei er, Karl Wangen, selbst. Er könne aber der Versammlung die Versicherung geben, daß er vollauf Gelegenheit habe, sein Können in jeder Beziehung zu betätigen.

Diese Worte machten einen guten Eindruck, und einen Augenblick ließ es sich an, als wäre die Sache damit abgetan. Aber der ruhige angesehene Bürger meldete sich wieder zum Wort. Ob Thomas Rendalen dies gesagt habe, als er vor zwei Jahren im Turnlokal die berühmte Rede gehalten? Hätte er damals gesagt: »Ich bin kein Christ!« so wäre aus der Schule nichts geworden.

Darauf wußte Karl Wangen in der Eile nichts zu antworten; diese Bemerkung schien ihm selbst ziemlich plausibel. Unmittelbar darauf fand die Abstimmung statt, und mit überwältigender Mehrheit wurde Rendalens Aufnahmegesuch abgelehnt.

»Nicht deshalb,« bemerkte Rechtsanwalt Bugge, »weil Herr Rendalen kein Christ ist, – denn wir sind tolerante Leute – sondern weil er nicht ehrlich gewesen.«

Sobald es Thomas möglich war, versammelte er seine Freunde und alle, welche sich für die Sache interessierten, im Turnsaal. Er war vollständig gefüllt. Es war dies ein Kampf, an welchem sich fast alle interessierten. Auch über die eigentliche Frage war man jetzt anders aufgeklärt als vor zwei Jahren. Thomas konnte frei von der Leber reden. Er begann mit der Erklärung, daß man sich hier an die Religion als den letzten Strohhalm geklammert habe. Das habe er längst erwartet. Er gab der Versammlung ein belustigendes Bild von der christlich-moralischen Gewissenhaftigkeit des Klubs inmitten seiner Tabakswolken und an den mit Punschgläsern besetzten Kartentischen – sowie ferner von den Männertugenden, welche darin beständen, hohe Ansprüche zu stellen an die Tugend der Frau; sie wäre nämlich ein Leckerbissen für die Männer selbst.

Eine Bestrebung, welche auf größere Gleichstellung von Mann und Frau gerichtet sei, könne man nimmermehr als eine christentumsfeindliche bezeichnen. Er selbst habe als Geschichtslehrer auf die Vorzüge des Christentums unaufhörlich hingewiesen. Wenn er dagegen in den Naturwissenschaften unterrichte, so könne er nicht umhin, hervorzuheben, daß verschiedene Ergebnisse der neueren Wissenschaft sich gegen die jüdische Tradition wendeten; selbst in der christlichsten Schule müsse ein ehrlicher Lehrer der Naturwissenschaft in diese Lage kommen. Aber die Hauptdogmen, der Glaube an Gott, an die Erlösung durch Christus blieben unberührt.

Der Unterweisung in den Lehren des Christentums sei in der Schule nicht die mindeste Schranke gesetzt; sie ruhe in den Händen eines Geistlichen, der von allen hochgeachtet werde. Er befände sich in seinem guten Recht, wenn er verlange, daß man seinen eigenen Glauben aus dem Spiele lasse.

Diesmal stieß die der Schule feindliche Strömung auf einen sehr kräftigen Gegenstrom. Und es war ein sehr gutes Zeichen, daß Fräulein Halls öffentliche Vorlesungen in der Schule auch fernerhin gut besucht waren.

Aber was würden Thomas und seine eifrigen Parteigänger gesagt haben, hätten sie gewußt, daß die ganze Bewegung vom Aufhissen der Fahne an von draußen geleitet wurde? Daß die besten Angriffe des »Zuschauers« nicht einmal in der Stadt selbst geschrieben wurden? Daß der Bürgermeister nur ein Werkzeug war in einer leichten, aber starken Hand? Daß die 5000 Kronen, welche auf seine – und seiner Gattin – Moral so ungemein kräftigend wirkten, gar nicht von dem Konsul Engel herrührten? Was würden der Bürgermeister, was der Advokat Bugge und seine Kollegen gesagt haben, hätten sie gewußt, daß der große Ungenannte, welcher ihrer Beredsamkeit eine so überzeugende Wärme verlieh, ein Schelm war, der genau berechnet hatte, daß diese Leute sich just so benehmen würden, wenn sie glaubten, Konsul Engel sei der Geber? Was würden alle diese achtungswerten Männer und Frauen, welche da für Moral und Christentum kämpften, gesagt haben, hätten sie gewußt, daß da in Stockholm ein Mann saß, welcher ihren Eifer und ihre Vorurteilslosigkeit sowohl wie anderer Leute Kriecherei und Verschlagenheit mit derselben Überlegenheit berechnete, mit welcher die Stärke der plumpen Naturkräfte für unsere Zwecke in Anschlag gebracht wird? Dennoch vermochte ein Abwesender die Widerstandsfähigkeit nicht vollkommen genau abzuwägen; wo Frauen mit im Spiele sind, ist es nicht immer gut, sich auf seine Berechnungen zu verlassen.

Es galt daher, eine Mine zu legen, um den Widerstand wenigstens teilweis zu brechen! Und das geschah ...

Das Gerücht von der Verlobung des Leutnants Fürst mit Milla Engel war gleichsam von der Bildfläche verschwunden. Jetzt lebte es wieder auf, und zwar mit der ganzen Erbitterung der Frauenpartei! Aus Rendalens Umgebung wurden höhnische beißende Worte über die Stadt geschleudert; sie trafen, und schmerzten beide Familien, die des Leutnants und die des Konsuls, aufs empfindlichste. Namentlich fühlte Konsul Engel sich dadurch auf das tiefste verletzt, daß Thomas gesagt haben sollte: »Dem Hochzeitszuge seiner Tochter müßten eigentlich seine sämtlichen Maitressen als Brautjungfern vorangehen.«

Konsul Engel ließ Herrn Rendalen mitteilen, bis jetzt habe er sich dem Streit ferngehalten. Aber wenn die Hochzeit zustande käme, so würden der neuen Schule am Hochzeitstage ein eigenes Haus und reichliche Geldmittel zur Verfügung gestellt.

Derjenige, welcher Thomas diese Botschaft überbrachte, erhielt sofort zur Antwort:

»Es ist sehr vorsichtig von dem Konsul, daß er ein ›wenn‹ hinzugefügt, denn in keiner Kirche dieser Stadt wird Milla Engel es wagen sich mit Nils Fürst trauen zu lassen.«

Das ging denn doch über alle Grenzen.

Jetzt war der Konsul genötigt zu handeln.

Milla war nämlich nicht mit Nils Fürst verlobt; das Gerücht beruhte auf Unwahrheit, es war nur ein Kniff gewesen. Bis jetzt hatte der Konsul sich nicht in die Sache gemischt. Er hatte sich damit begnügt, Ausschnitte aus dem »Zuschauer« und kleine Geschichtchen, Anekdoten usw. zu verschicken ... Auch hatte er andere veranlaßt zu schreiben; seine Tochter stand ja nicht mehr mit den Bewohnern des Guts in Briefwechsel. Aber jetzt schrieb er direkt an sie. Er war so glücklich, ihr einen Aufsatz aus einer lutherischen Wochenschrift senden zu können, worin ein sehr angesehener Geistlicher gerade die Behauptung prüfte: die Frau verlange vom Manne mit demselben Recht ein keusches Leben, wie der Mann von der Frau. Die streng logische Prüfung führte zu dem Ergebnis, daß diese Forderung unchristlich wäre.

»Da siehst Du,« schrieb der Vater, »daß Dir gar nichts im Wege steht. Du liebst ja Nils Fürst. Machst Du Deine Verehelichung noch von irgendeiner Bedingung abhängig, so nenne sie, mein Kind! Dein und mein Ansehen erfordert es, daß Du unsern Verhältnissen entsprechend in Deiner Vaterstadt getraut wirst.«

Und Milla nannte die Bedingung. Wenn der Seelsorger ihrer teuren Mutter, der alte Propst Green, welcher das Vermächtnis ihrer Mutter der Schule überbracht hatte, sie persönlich trauen wolle, so möge Papa den Hochzeitstag sofort bestimmen.

Also der alte Green, der angesehenste Mann der Stadt, sollte sich gewissermaßen für die Partie verwenden! Diese Bedingung konnte ja unmöglich erfüllt werden! Er schrieb Nils Fürst, jetzt habe er wenig Hoffnung.

Der Leutnant war anderer Meinung. Alle alten Leute hätten eine Schwäche für Kompromisse. Er instruierte seinen Schwager, und nachdem dieser mit dem Propst Rücksprache genommen, schrieb der Leutnant dem Konsul, die Aussichten seien besser als er glaube. Sofort begann der Konsul das Eisen zu schmieden. Allerdings wunderte es ihn ein wenig, daß der alte Herr bestimmt erklärte, dann müsse es auch mit den Angriffen auf die Schule ein Ende haben.

Ein eigentümliches Lächeln glitt über des Konsuls Gesicht, als er bedauernd bemerkte: So mächtig wäre sein Einfluß nicht. Der alte Geistliche setzte dem Lächeln ein Lächeln entgegen und meinte, mit dem Einfluß habe es keine Not. Und dabei blieb es ...

Es war an einem Freitagmorgen, als gedruckte Briefe zu den Freunden in der Stadt und den Nachbarstädten mit der Einladung auf die Post gegeben wurden, man möchte dem Konsul Engel die Ehre erweisen, bei der Trauung seiner Tochter mit Herrn Marineleutnant Nils Fürst zugegen zu sein.

Bereits in acht Tagen, am nächsten Montag, nachmittags gegen vier Uhr, sollte die Trauung in der Kreuzkirche stattfinden. Den Briefen, welche an die ältesten Freunde des Konsuls gerichtet waren, fügte er eigenhändig hinzu, daß der alte Seelsorger seiner Familie, der Freund seiner unvergeßlichen Gattin, der Propst Green dem jungen Paare die Ehre erweisen werde, es persönlich zu trauen.

An demselben Tage ging der Konsul um die Mittagszeit an der Landungsbrücke vorüber, just als die Geschäftsleute sich dorthin begaben oder von dort zurückkehrten. Allgemeines Grüßen mit strahlenden Gesichtern und großes Hutschwingen; und diejenigen, welche sich solche Vertraulichkeiten gestatten durften, drückten dem glücklichen Konsul lächelnd die Hand.

Es hatte die Leute empört, daß Thomas Rendalen vorschreiben wollte, wer sich verheiraten sollte oder nicht – just wie in alten Tagen Max Kurt.

Er, der mit Schulden beladene arme Teufel, dessen Schule ihm jeden Tag über dem Kopf zusammenstürzen konnte!

Die Nachricht von der Trauung segelte am Tage darauf mit dem Dampfschiff an der Nord- wie an der Südküste entlang, sprang an den Inseln ans Land und stahl sich hinauf in die entlegensten Gebirgsgegenden. Überall brachte sie Leben und Bewegung hervor. Die eine Partei jubelte, die andere war im höchsten Grade entrüstet. Aber auf welcher Seite die Frauen auch stehen mochten, alle erklärten, am Tage der Trauung würden sie in der Stadt sein.

Kurz darauf kam das Gerücht nachgehinkt, daß der, welcher die 5000 Kronen für die neue Schule hergegeben – das Geld zurückverlangt habe! Daß der Konsul Engel den »Spektakel« mit der Schule ernstlich getadelt habe! Ginge das Treiben so weiter, so sehe er sich veranlaßt, das Vermächtnis seiner seligen Gattin zu erneuern; ihr Andenken heische das von ihm.

War hier ein Kompromiß geschlossen worden? Sollte Milla als ein Engel des Friedens, des Christentums und der Moral heimkehren?

Lachen auf der einen, Entrüstung auf der anderen Seite. Einige, und darunter der Bürgermeister, wollten sich nicht fügen. Aber was mit der neuen Schule anfangen ohne Konsul Engel? Und zudem: alle Welt wollte endlich Ruhe haben, als man mit kaltem Blut die Vorteile dieser Ruhe erwog ... Die Tochter der Wohltäterin von Rendalens Schule verheiratet mit Nils Fürst ... Noch ein paar ähnliche Ehestiftungen – womöglich mit den hervorragendsten Zöglingen der Schule – und die gute alte Tugend und die Machtverteilung zwischen den Geschlechtern war wider alle Anfechtungen gesichert. Rendalen und der Verein und Fräulein Hall mochten dann machen, was sie wollten ... Von Thora war nicht mehr die Rede.

Am Montag sollte Milla getraut werden, um noch an demselben Abend die Hochzeitsreise anzutreten. Am Freitagabend wollte sie kommen. Sie gedachte sich nur drei Tage in der Stadt aufzuhalten ... Das deutete auf mancherlei hin, meinten ihre ehemaligen Freundinnen.

Keine von ihnen ging hinunter zum Hafen, um sie zu empfangen; aber das war auch nicht nötig; trotz des Regens war eine große Menschenmenge versammelt. Die Hochzeit, zu welcher sie heimkehrte, war, selbst wenn nichts vorausgegangen wäre, die merkwürdigste seit Menschengedenken. Der Bräutigam konnte, unterstützt von dem ungeheuren Vermögen seines Schwiegervaters, bei Hofe eine Karriere beginnen, die ihn zu den höchsten Stellungen im Lande führen mußte. Alle, welche ihn kannten, nannten ihn einen geborenen Staatsmann – was für diesen Stand gerade keine Schmeichelei war.

Die Braut war eine Schönheit, hatte zudem das Talent zu einer vollendeten Weltdame, auch blieb sie nur so kurze Zeit zu Hause, daß man sich die Gelegenheit sichern mußte, ihrer ansichtig zu werden.

Überall waren Flaggen aufgezogen; aber verschämt hingen sie wie abgeschabte Farbenklexe an den Stangen herab. Die schönen mit Grün bedeckten Anhöhen ringsum die Stadt waren fast ganz von Wolken verhüllt; die Häuser, die Gärten, der Hafen – alles war durch einen grauen Nebeldunst verschleiert. Die Dächer der Häuser waren nicht rotbraun, sondern schwarz; die Häuser selbst nicht weiß, sondern schmutzigaschfarben, nicht gelb, sondern rußig. Alle Farben waren gewissermaßen gedämpft, und die Häuser schienen dichter zusammenzukriechen und nahmen sich so wunderlich klein aus in den Augen derjenigen, die da von Paris kam und im Regenwetter auf dem Dampfschiff stand, während es zwischen den Holmen hindurchglitt. Nur das Hauptgebäude des Gutes und die Mauern an den Alleen nahmen sich groß aus in ihrem Kranz von Bäumen und Grün. Der gewaltige Turm stand da gleichsam auf der Lauer.

Als Milla ihm näher kam, gewahrte sie eine ungeheure weiße Flaggenstange darauf, aber ohne Flagge ... Verschlossen und breit und drohend lag da die Schule. Ihre Augen suchten eine andere Richtung, sie wandten sich nach der Kreuzkirche und ihrem schlanken Turm, unter dessen Schutz gewissermaßen Max Kurts fröhliche Seele zum Himmel emporgestiegen war. Daran jedoch dachte Milla nicht, aber unter diesem Turm sollte sie trotzdem – –

Mein Gott, was ist das! Die schwarze, bewegliche, große Masse da oben an der Landungsstelle? ... Ganz hinauf bis an die Häuser? Ein Wald von Regenschirmen ... Was hatte das zu bedeuten?

Aus all' den Erklärungen und Mitteilungen, die ihr geschickt waren, und noch mehr aus denen, die ihr nicht geschickt waren, hatte sie die Vorstellung gewonnen, daß, wenn auch nicht alles so sei, wie sie es wünschte, doch jedenfalls jetzt hier Frieden herrschte, und sie keinerlei Gefahr zu befürchten habe. Die Autorität des Propstes Green deckte sie, und sie selbst wollte sicherlich keinem Menschen zu nahe treten. Aber beim Anblick all dieser Menschen zuckte ihr eine Erinnerung daran durch den Kopf, wie die arme Frau Rendalen begrüßt wurde, als sie mit Thora zurückkehrte. Und Milla ward leichenblaß – ein namenloses Entsetzen packte sie. So sehr sie sich auch wehrte, sie begann am ganzen Leibe zu zittern; sie mußte sich festhalten, sich setzen. In wenigen Minuten empfand sie mehr, weit mehr, als da ihre Mutter starb; denn damals hatte sie eine Trösterin zur Seite, damals hielt sie die Hoffnung auf ein Wiedersehen aufrecht. Aber jetzt sah sie sich ganz allein in den Abgrund gestürzt. Unbarmherziges Lachen ringsum sie her; man griff nach ihren Händen, – wo konnte sie sich verstecken?

Ihr Vater war mit auf dem Schiffe, aber in diesem Augenblick unten, um das Reisegepäck zu sammeln. Er hörte das Schiff plätschernd eine Wendung machen, dann wieder und wieder ein donnerndes Hurra. Er eilte hinauf – da stürzte ihm seine Tochter entgegen und drückte ihn, am ganzen Körper heftig bebend, fest an sich.

»Aber Milla, sie rufen ja nur der Braut ein Hurra zu! Milla!«

»Halt' mich fest!« flüsterte sie, »ich muß mich erst fassen, das wußte ich nicht ... ich glaubte –« Und sie begann zu weinen.

Zum Glück war an der Landungsbrücke etwas nicht in Ordnung; es dauerte daher einige Zeit, ehe das Schiff in eine günstige Lage kam. Der Kapitän fluchte, die Mannschaft arbeitete und die Spannung legte sich, so daß sie, als sie an ihres Vaters Arm ans Land stieg, zwar bleich und ein wenig bebend, immerhin lächeln konnte in ihrem reizenden Reiseanzug und dem koketten Hut. Es kleidete sie so schön, daß sie geweint hatte!

Abermals ein donnerndes Hurra der Braut und dem Konsul Engel! Es waren fast nur Männer da, und keinen kannte sie näher ... ja doch, da waren auch Fürsts Schwestern und Frau Gröndal. Da kam auch Wingard, und dann gab's Blumen und Willkommsrufe, und dann wieder und wieder Hurrarufe – auf allen Seiten Jubel und Freude und Grüße und Blumen, immer neue Blumen!

Der Wagen vermochte sie fast nicht alle zu fassen! ... Vor vierzehn Monaten war sie mit Thora hinunter in den Hafen gefahren – jetzt hatte sie keine Zeit, sich dessen zu erinnern ... Aber dieser Empfang – es war über alle Beschreibung herrlich ...

*

In der folgenden Nacht, kurz nach zwei Uhr, fuhr ein Einspänner die Allee hinauf nach der Schule. In dem Wagen saß eine dichtverschleierte Dame mit einem Kinde in den Armen. Sie wurde erwartet. Denn Thomas kam sofort herunter, sie zu empfangen und hinaufzuführen. Auf der Treppe stand Frau Rendalen ... Es war ein erschütterndes Wiedersehen! ...


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