Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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61. Kapitel

Melodram.

Ralph war in den letzten Tagen von schwerer innerer Unruhe erfüllt gewesen. Er begann sich hier in Wien immer unbehaglicher zu fühlen, empfand sein Dasein als inhaltslos und leer, sehnte sich nach tätigem Leben. Der gesunde Skeptizismus seines Großonkels trug viel dazu bei, daß er seine Mission für unerfüllbar hielt.

»Was willst du eigentlich, mein Junge?« hatte erst gestern der alte Herr Holub gesagt. »Dieses Landl hat nun seine Kredite, kann wieder fünf Monate fortwursteln, was immer du tätest, würde wenigstens von der Hälfte der Bevölkerung als Störung empfunden werden. Tu Gutes, streu Geld mit vollen Händen, richte Existenzen auf, wo du sie niedergebrochen siehst, aber lass' diesen Kampf um Wien, das nicht erobert werden will. Weder von dir noch von anderen. Du siehst es ja: Während sich Deutschland unter den Krallen Frankreichs windet, holen wir uns von dort Geld und gute Sittenzeugnisse. Quäl' dich nicht mit Wöllersdorf und Industrialisierungsprojekten, lebe dein eigenes Leben und nicht das eines Staates, der selbst noch gar nicht weiß, was ihm frommt und Not tut.«

Mehr noch als die Worte Holubs quälte und verwirrte Ralph die steigende Sehnsucht nach Hilde. Jetzt, wo er sich von allen den schillernden und blendenden Frauen losgelöst hatte, empfand er wie groß seine Liebe zu diesem Mädchen war, das ihm schöner, lieblicher, klüger und besser zu sein schien, als irgend ein anderes Weib auf der Welt.

Gestern abends war er nach der Kreuzgasse gegangen, um zu erfahren, ob Hilde schon wieder in Wien sei. Aber die Wohnung war versperrt und die Hausmeisterin konnte keine Auskunft geben, wußte nicht, wo sich Frau Wehningen mit ihrer Tochter aufhielt. Worauf Ralph seinen Unmut und seine Enttäuschung in einem Meer von Champagner bis drei Uhr morgens in Gesellschaft seiner Freunde betäubte.

Nun war Ralph eben vom Mittagessen nach Hause gekommen, ging mit langen Schritten im Zimmer auf und ab und begann mit dem Gedanken zu spielen, Wien und Europa demnächst zu verlassen.

Es war zwei Uhr, als Frau Lunzer klopfte und ihm mit diskretem Lächeln mitteilte, daß eine junge Dame ihn zu sprechen wünsche.

Verwundert ließ Ralph im Geiste die Frauen Revue passieren, die ihn in seiner Junggesellenwohnung aufsuchen konnten. Und recht unwillig rief er in das dunkle Vorzimmer hinaus, man möchte nähertreten.

Im nächsten Augenblick standen fassungslos zwei Menschen einander gegenüber, blickten sich in die Augen und fanden kein Wort. Bis Ralph sah, daß das blasse, schmale Mädchen schwankte und nach einem Stuhl griff, um nicht umzusinken. Worauf er mit einem Jubelschrei auf sie lossprang, sie an sich riß und das kalte, bleiche Gesicht mit Küssen bedeckte und wärmte.

Minuten, angefüllt mit »du« und »du« und mit geschluchzten Koseworten und sanften Küssen. Bis sich Hilde seinen Armen entzog und leise sagte:

»Wenn du mich jetzt noch willst, Ralph, jetzt, wo du selbst arm bist, dann kannst du mich haben. Als deine Geliebte oder als dein Weib, mir ist es ganz gleichgültig, nur bei dir will ich bleiben, nie mehr von dir lassen.«

Auf diese rührende und echt weibliche Erklärung aber, auf dieses Sich-los-lösen von mädchenhaftem Stolz, auf diese restlose Hingabe, entfuhr Ralph zunächst nur ein Wort und dieses Wort war nicht schön:

»Damned!«

Und er verdeutschte es mit »Verdammt!« und fügte kläglich hinzu:

»Nun habe ich dich schon wieder zum Narren gehalten, Hilde, und am Ende läufst du mir wieder davon! Ich bin nämlich gar nicht arm, sondern genau so reich wie damals, als du mich kennen lerntest. Aber trotzdem, du entwischt mir nicht mehr.«

Zog Hilde auf seinen Schoß und erzählte ihr, wie und warum er die Komödie gespielt.

Hilde aber störte dieser Reichtum nicht mehr, Hilde wußte und wollte nichts mehr, als ihren Ralph behalten. Und sie wehrte seinen Liebkosungen nicht, erwiderte seine Küsse und es war nicht Besonnenheit, die sie fort von seinen Knien trieb, sondern ein peinliches Geräusch. Hervorgerufen durch das heftige Knurren ihres Magens.

Errötend entwand sie sich ihm und sagte schüchtern:

»Ralph, ich habe furchtbaren Hunger!«

Und nun war er es, der zum Aufbruch drängte, nicht nur um Hilde satt zu machen, sondern weil auch sein amerikanisches Gehirn langsam wieder in Ordnung kam und ihm sagte, er möge die reife Frucht erst pflücken, wenn es offen und ehrlich geschehen durfte.


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