Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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13. Kapitel

Hilde.

»Grüß Gott, Herr Ralph!«

Mit diesen Worten wurde O'Flanagan an der Ecke der Mariahilferstraße und Neubaugasse, wo er schon etliche Minuten gewartet hatte, begrüßt, und er wollte über die Intimität dieser Ansprache sich sehr freuen, als er sich erinnerte, daß das Mädchen den Namen Ralph für seinen Familiennamen halten mußte.

Es war das erste Rendezvous, das ihm Hilde Wehningen gewährt hatte. Als er sie darum gebeten, hatte sie ruhig und selbstsicher gesagt:

»Gerne will ich mit Ihnen eine Plauderstunde verbringen. Mache Sie aber gleich darauf aufmerksam, daß ich, so frei und konventionslos ich mich fühle, doch weder auf einen sogenannten Freund noch auf einen Bräutigam reflektiere. Aufrichtig gesagt: Ich freue mich auf ein Wiedersehen, und es wird nur an Ihnen liegen, mir diese Freude nicht dadurch zu vergällen, daß Sie den Versuch machen, erotische Beziehungen anzubahnen.«

Und nun stand sie schlank, sehr einfach, aber geschmackvoll gekleidet vor ihm, schüttelte ihm kräftig die Hand und wäre dabei niedergefallen, weil ein seltsames Gemisch von Schnee, Regen, Tauwetter und leichtem Frost die Straßen in holperige Eisbahnen verwandelt hatte.

Sie nahm den angebotenen Arm, als aber Ralph einem Auto winken wollte – sein eigenes hatte er wohlweislich zu Hause gelassen – wehrte sie entschieden ab:

»Was fällt Ihnen ein? Neulich schon war es ein arger Leichtsinn von mir, das geduldet zu haben. Bitte, bei diesen unerhörten Preisen! Und dann, wir gehen einfach in irgend ein Kaffeehaus in nächster Nähe.«

Im Café Siller sah Ralph erst recht, wie schön Hilde Wehningen war. Von jener unregelmäßigen Schönheit, die sich schwer photographisch wiedergeben läßt, um so intensiver aber im Leben wirkt. Der Mund vielleicht um eine Nuance zu voll, die Nase aber von klassischer Form und in wohltätigem Gegensatz zu den typischen Wiener Naserln, die Stirn hoch und frei, die kleinen, tadellos geformten Ohren Zeugnis unverdorbener guter Rasse, und Augen von seltener Schönheit und Ausdrucksfähigkeit.

»So, nachdem Sie mich genügend gemustert haben, werde ich Sie ein wenig inquirieren. Wenn man mit jemand gut Freund werden soll, muß man doch wissen, was und wie, weil solche Äußerlichkeiten die unerläßliche Brücke zum gegenseitigen Verständnis bilden. Also sagen Sie mir, welchen Beruf Sie haben, was Sie hier in Wien tun und überhaupt erzählen Sie von sich.«

Ralph errötete und seine Augen flackerten unruhig. Er mußte weiter lügen, wollte um jeden Preis die menschlichen Beziehungen, die sich hier entspannen, nicht stören, indem er die ungeheuere Kluft, die ihn materiell von allen anderen schied, enthüllte.

»Wie ich heiße, wissen Sie ja, Fräulein Wehningen. Beruf? Momentan habe ich eigentlich keinen. Bin Kaufmann, Businessman, wie man bei uns sagt, und will mich ein wenig umsehen, bevor ich mich zu Taten entschließe.«

Dann erzählte er von seiner Mutter, von seinem Elternhaus und seiner halbwienerischen Abstammung.

»Und nun ist die Reihe an mir, mein Fräulein. Wollen Sie mich auch einen Blick in Ihr Leben tun lassen?«

Ein Schatten flog über Hildes Gesicht.

»Da ist nicht viel zu erzählen. Bin zwanzig Jahre alt, ein armes Mädel, das nach einer recht heiteren, sorglosen Kindheit plötzlich in die Zwangslage versetzt wurde, sich selbst und eine dem Leben hilflos gegenüberstehende Mutter zu erhalten. Was gar nicht so leicht ist, wie sich der Herr Amerikaner das vorstellen mag.«

Hildes Vater, Freiherr von Wehningen, war ein wohlhabender steirischer Gutsbesitzer gewesen, der die Torheit begangen, in den ersten Kriegsjahren sein Gut zu verkaufen, um in Wien von seiner ansehnlichen Rente mit Frau und Kind zu leben. Hauptsächlich, um damit einen Lieblingswunsch seiner Gattin, einer geborenen Gräfin Boos, zu erfüllen, die Sehnsucht nach dem großstädtischen und höfischen Leben hatte. Der Umsturz kam, mit ihm die fortschreitende Geldentwertung, das Vermögen wurde zuerst zaghaft, dann immer stürmischer angegriffen. Herr von Wehningen verstand es nicht, rechtzeitig die Flucht vor der Krone zu ergreifen, und vor anderthalb Jahren, gerade als Hilde mit Auszeichnung maturiert hatte, trug Herr Wehningen das letzte Schmuckstück seiner Gattin zum Händler. Kaufte für den Erlös mit ungenügender Deckung Aktien, zu denen ihm geraten worden war, wurde von dem Bankier, als eine unvermutet starke Baisse einsetzte, exekutiert und stand nun sozusagen als Bettler da. Am nächsten Tage wurde er im Badezimmer infolge einer Leuchtgasvergiftung tot aufgefunden. Ob Unfall oder Selbstmord blieb unentschieden.

Frau Wehningen brach unter diesem Schlag vollständig zusammen. Hilde aber ließ sich nicht unterkriegen, gab den Gedanken, Naturwissenschaft zu studieren auf, lernte rasch Buchhaltung und Schreibmaschine und nahm eine Stellung an.

»Heute bin ich die rechte Hand meiner Chefs, der Brüder Krause, und habe eine ganze Million Monatsgehalt. Klingt nach wer weiß was und ist furchtbar wenig.«

Ralph überlief ein gelinder Schauer.

»Ungefähr vierzehn Dollar«, murmelte er. »Merkwürdiges Land, das beim Ausgeben die Weltparität beinahe einhält und beim Bezahlen seiner werktätigen Kräfte sich mit dem sechsten Teil begnügt. Aber um Himmels willen, wie können Sie damit leben? Und sich so nett kleiden?«

»Garderobe habe ich noch von früher genug, und Mama lernt auf ihre alten Tage wenden, ausbessern und modernisieren. Und sonst – na ja, es geht auch schwer. Wir haben beide glücklicherweise keinen Bärenappetit und sonst muß eben auf alles verzichtet werden. Leider ganz besonders auf die Oper, was mir am meisten leid tut. Übrigens – das Schlimmste kommt wohl noch für mich. Meine Chefs betreiben eine Fabrik elektrotechnischer Artikel. Das Geschäft geht nicht, so tüchtig die beiden Herren auch sind. Zuerst waren wir zwanzig im Bureau, jetzt nur mehr zehn und ich fürchte, daß, wenn Weihnachten vorüber ist, die ganze Herrlichkeit ein Ende nehmen wird.«

»Und dann?« fragte Ralph erschreckt.

»Dann? Na, drei Monate Gehalt werde ich ja wohl bekommen und was weiter wird, weiß ich nicht. Schließlich, ich bin jung, kann was und im Notfall kriech ich irgendwo als Erzieherin unter.«

Ralph fühlte ein Würgen in der Kehle. Da saß er, der Nabob, war bezaubert von einem klugen, bildhaft schönen Mädchen, das sicher nicht immer satt zu essen hatte, bitterer Not gegenüberstand. Heiser und verlegen sagte er:

»Gnädiges Fräulein, bitte meine Worte nicht mißzuverstehen – aber ich verfüge gerade jetzt über Summen, die ich nicht brauche – wenn ich Ihnen irgendwie dienen –«

Hildes Gesicht versteinte. Jähe Röte wich Marmorblässe.

»Herr Ralph, wenn Sie nicht wollen, daß dieses unser Beisammensein auch das letzte gewesen ist, so dürfen Sie nicht einmal in Gedanken derartiges erwägen. Es hat sich zufällig so gemacht, daß ich mehr aus mir herausging als eigentlich statthaft ist. Lassen Sie mich das nicht bereuen!«

Verschämt stammelte Ralph eine Entschuldigung. Dachte innerlich aber: Wie dumm das ist, daß dieses schmutzige Geld, sein Besitz und Nichtbesitz, das Entscheidende, Peinlichste, Trennendste sein muß. Griff aber den Faden des Gesprächs wieder auf, ließ sich von der Fabrik der Brüder Krause erzählen, die vor einem Jahr noch ein junges zukunftsreiches Unternehmen gewesen und nun vor dem Zusammenbruch stand. Hilde gab in erster Linie dem Mangel an Betriebskapital ihrer Chefs Schuld, erzählte von den drückenden, wucherischen Bedingungen, die die Banken bei jedem Kreditansuchen stellten, und gab ihrer Überzeugung Ausdruck, daß das Unternehmen bei großzügiger Finanzierung nicht nur bestehen bleiben, sondern sich sehr erfolgreich entwickeln könnte.

Ralph verabredete mit Hilde eine neuerliche Zusammenkunft nach Bureauschluß, ließ es sich nicht nehmen, sie mit der Straßenbahn bis zu ihrem Hause in der Kreuzgasse zu begleiten, und beide wußten nicht, daß neben ihnen im Kaffeehaus hinter dem »Martin« versteckt und dann auch in der Straßenbahn ein Herr gesessen, der mit großer Aufmerksamkeit jedes Wort ihrer Unterhaltung angehört hatte.

Dieser Mann war Lazlo Bartos.


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