Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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3. Kapitel

Der Mann aus dem Westen.

So vergingen zwei, drei Monate mit ewigen Geldnöten und harten Versuchungen, sich eines neuen Hutes halber zu verkaufen, bis eines Sonntags abends ein sonderbarer Zufall in Gestalt des wohlhabenden Sägemüllers John Patrick O'Flanagan dem Leben der kleinen Lola eine merkwürdige Wendung gab.

John Patrick O'Flanagan war ein Irländer, der als junger Bursch nach Amerika ausgewandert war, sich zuerst jahrelang als Holzfäller im Westen herumgetrieben hatte, bis er durch zähen Fleiß, Schlauheit und eine tüchtige Portion Skrupellosigkeit zu eigenen Waldungen, erheblichem Wohlstand und einem schönen Haus in St. Paul gekommen war. Er war unbeweibt geblieben, einerseits weil er keine Zeit gehabt hatte, sich um Frauen zu kümmern, anderseits aber weil er eine instinktive Furcht hatte, sich unter das Joch einer amerikanischen Frau zu begeben, die, wie er überzeugt war, der Teufel erfunden hatte, um die Männer zu kujonieren.

Und nun war John Patrick nach vielen Jahren zum erstenmal nach dem Osten gekommen, hatte in Philadelphia große Verträge abgeschlossen und war dann nach New York gefahren, um mit den Direktoren der Erie-Eisenbahn wegen Lieferung von Eisenbahnschwellen für zehntausend Kilometer Strecke abzuschließen.

Eines Sonntags unmittelbar nach dem Neujahrstag schlenderte der Mann aus Minnesota durch die Straßen und langweilte sich, wie sich ein Fremder nur im amerikanischen Osten langweilen kann. Die Kneipen geschlossen, die Theater und Varietés desgleichen, die Straßen wie ausgestorben, da der biedere New Yorker der Ansicht ist, ein anständiger Mensch habe am Sonntag zu Hause zu sitzen und zu beten.

Es war neun Uhr abends und John Patrick beschloß eben, innerlich einen derben irisch-wildwestlichen Fluch ausstoßend, das Hotel Netherland aufzusuchen, in dem er wohnte, als ihm an der Ecke der vierzehnten Straße und des Irving Place so etwas wie Musik in die Ohren tönte. Neugierig folgte er diesem Klang und kam so vor das deutsche Theater, vor dem Plakate in Englisch und Deutsch ankündigten, daß als »Sacred-Concert« mit Gesangseinlagen der »Rabenvater« gegeben werde. Es war damals nämlich ein Privilegium des deutschen Theaters, mit Rücksicht auf die Lebensgewohnheiten der Deutschen auch am Sonntag zu spielen, nur mußte ein frommes Mäntelchen umgenommen werden und jede Vorstellung den Charakter eines »Kirchenkonzertes« haben. Das heißt, es durften keine Kostümstücke gegeben werden und zwischen den Akten wurden allerlei höchst unheilige Lieder und Couplets gesungen, so daß die Polizei, wenn sie die Augen zudrückte und die Hände dafür offen hielt, wirklich an ein Kirchenkonzert glauben konnte.

John Patrick O'Flanagan sprach zwar außer »Sauerkraut« und »Frankfurter« kein Wort deutsch, aber dachte, deutscher Gesang sei immerhin besser als keiner, ging zur Kassa und verlangte den besten Sitz, worauf der Kassier, ein ehemaliger österreichischer Generalstabsoffizier, ihm mit großer Ehrfurcht den Platz in der Orchesterloge, ganz dicht neben der Bühne, verkaufte.

Der erste Akt war eben zu Ende und ein Herr in einem schlechtsitzenden Frack sang mit schmalziger Stimme eine endlose Arie, die den Mann aus dem Westen zu heftigem Gähnen veranlaßte. Nach dieser Nummer wurde er aber ganz lebendig. Die Bühne betrat in einem blaßblauen, nur wenig ausgeschnittenen Kleidchen bescheidenster Art ein junges, blondes Mädchen, das wie eine kleine Puppe aussah und mit unwahrscheinlich veilchenblauen Augen schüchtern in das Publikum sah. Flanagan hatte, wie die meisten großen und robusten Männer, eine besondere Vorliebe für das Zarte und Kindhafte und außerdem war er sofort überzeugt, noch nie in seinem Leben ein so liebliches Ding und so blaue Augen gesehen zu haben. Das Mädchen sang mit zarter, aber wohlklingender Stimme ein paar Wiener Lieder, das unvermeidliche »Weißt du Mutterl, was mir träumt hat« und »Muß ja net alles von Gold sein was glänzt«, und Flanagan, der natürlich nicht ein Wort verstand, setzte seine mächtigen Hände in Bewegung, klatschte wie toll, pfiff und trampelte dazu mit den Füßen, was in Amerika besonderen Enthusiasmus bedeutet, so daß die Sängerin einen erschreckten, großen Kinderblick auf ihn richtete und sich vor ihm nochmals besonders verbeugte.

Worauf O'Flanagan über und über rot wurde und ein so heftiges Herzklopfen verspürte, wie bisher nur einmal in seinem Leben, als er sich vor Jahren irgendwo in Wisconsin plötzlich allein zehn Rothäuten gegenübersah, die stürmisch nach seinem Skalp begehrten.

Die kleine Sängerin trat ab, O'Flanagan stellte mit Mühe und Not aus dem Programm fest, daß sie Lola Holub hieß, und als nach ihr eine imposante Germanin aus Berlin erschien, die sich während des Singens abwechselnd auf den vollen Busen und die mächtigen Schenkel schlug, ergriff er die Flucht.

Nach einer sehr unruhigen Nacht, in der ihm im Traume mehrfach die kleine deutsche Sängerin erschien, wickelte O'Flanagan seine Geschäfte erfolgreich ab, wobei er so zerstreut war, daß er die Direktoren noch mehr um die Ohren haute, als er eigentlich beabsichtigt hatte. Die übrigen Tagesstunden verbrachte er in nervöser Unruhe und abends war er eine viertel Stunde vor Beginn in der Orchesterloge des deutschen Theaters, wo irgend ein Lustspielschmarrn gegeben wurde. Er hatte Glück. Lola Holub war in dem Stück beschäftigt, sie gab einen der üblichen Backfische, die sich einbilden, daß der Leutnant die Kinder bringt, und hatte zwar nicht viel zu sprechen, war aber fast in jeder Szene auf der Bühne. Und unwillkürlich flog der Blick ihrer blauen Augen immer wieder zu dem großen Herrn in der Loge hin, der am Abend vorher seinem Beifall so laut Ausdruck gegeben.

O'Flanagan schwitzte vor Aufregung. Er wußte, daß er unbedingt noch heute diese Lola Holub kennen lernen mußte. Unbedingt und um jeden Preis. Und wenn John Patrick etwas wollte, so hatte er es noch immer durchgesetzt. Aber dieser Fall erschien ihm schwieriger als jeder bisherige. Wie lernt man eine Künstlerin kennen? Dieses Problem war ihm vollständig unbekannt. Plötzlich aber erinnerte er sich, einmal in einem Fünfcentroman gelesen zu haben, wie ein Graf einer Tänzerin seine Visitkarte mit einer Einladung zum Souper hinter die Bühne schickte. Also, er war kein Graf, aber dafür ein freier Amerikaner, der Geld hatte.

Sofort nach Schluß der Vorstellung begab er sich ins Foyer und erwischte einen langen, mageren Billeteur, den er ansprach. Dieser Theaterdiener war nun ein aus Wien durchgebrannter Hof- und Gerichtsadvokat namens Mansch und sofort im Bilde, als der Amerikaner ihm eine Fünfdollarnote in die Hand drückte und dabei etwas von Souper und Miß Lola Holub sprach. Er versicherte Flanagan in einem unmöglichen Englisch, daß die junge Dame höchst ehrbar sei, worüber Flanagan sehr erfreut war, er aber trotzdem sein Äußerstes tun werde.

Und Flanagan war wieder vom Glück begünstigt. Lola Holub hatte nämlich Hunger, den ausgewachsenen, gesunden Hunger eines jungen Mädchens, das um sieben Uhr in der Pension einen Schlangenfraß mit Unwillen verzehrt hatte und jetzt kein Geld besaß. Nicht einmal elende fünf Cents, für die es sich irgendwo eine Tasse Kaffee hätte kaufen können. Als ihr nun der ehrenwerte Doktor Mansch die Einladung zum Souper überbrachte, lief ihr das Wasser in ihrem kleinen Mäulchen zusammen, und vage Vorstellungen von einem Beefsteak oder gar Hummer benebelten ihre Sinne. Da zudem Frau Pietsch, die komische Alte, ihr in tiefem Baß zuredete: »Kleine, sein Sie nicht dumm, von einem Souper hat noch niemand ein Kind bekommen«, gab Lola sich einen Ruck, sagte sich: »Ach was, es ist wirklich nichts dabei, er sieht doch recht gutmütig aus« und nahm an.

Der Abend verlief sehr merkwürdig. Die beiden saßen in einer behaglichen Ecke des deutschen Restaurants Lüchow, Lola aß Hummer und Steak und eine beinahe echte Sachertorte, und Flanagan wischte sich ununterbrochen den Schweiß von der Stirne und schüttelte ein Krügel Pschorr nach dem anderen in sich hinein. Darin bestand aber auch die ganze Unterhaltung, da sie nicht englisch und er nicht deutsch sprach. Erst gegen Mitternacht trat als belebendes Moment die Tatsache hinzu, daß O'Flanagan ein Händchen Lolas streichelte, wobei ihm seltsam rührselig zu Mute wurde und ihr ein Tränchen in die Augen trat, weil seit Mutters Tod niemand so sanft und zart ihre Hand gestreichelt hatte. Die Kollegen – na ja, die griffen anders zu, gemein, brutal und gierig, um sie, wenn sie abwehrte, eine dumme, zimperliche Gans zu nennen.

Schließlich geleitete der Riese die kleine Lola bis zu ihrem Haus und verabschiedete sich von ihr, indem er zehnmal mit gepreßter Stimme »Au revoir« sagte.

Am nächsten Tag aber da geschah etwas, was Lola als echt amerikanisch empfand. Sie bekam in aller Herrgottsfrüh einen riesigen Korb mit roten Rosen und einen Brief, in dem ein Scheck auf 1000 Dollar lag. Der Brief lautete nach der Übersetzung durch die Pensionsinhaberin, die von Lola zu Hilfe gerufen werden mußte, folgendermaßen:

»Mein liebes Fräulein Holub! Ich bin gesund, fünfunddreißig Jahre alt, habe ein schönes Heim in St. Paul und eine Menge Geld. Sie gefallen mir sehr gut, und ich möchte Sie heiraten. Wenn Sie auch wollen, so bitte ich Sie, von der Bühne fortzugehen und Englisch zu lernen. In drei Monaten, zu Ostern, werde ich wieder in New York sein und Sie fragen. Heute muß ich zurück nach St. Paul. Also auf Wiedersehen im April.

Ihr Sie sehr verehrender John Patrick O'Flanagan.

P.S. Ich werde versuchen, auch Deutsch zu lernen. Aber ich glaube, es wird nicht gehen.«

Lola, voll Angst vor der Zukunft, im Bewußtsein, durchaus kein großes Bühnentalent zu sein, mit Schrecken an das Ende der Theatersaison denkend, überlegte nicht lange. Ging von der Bühne ab, nahm eine Lehrerin und verbrachte die ganzen Tage damit, sich mit Vokabeln und einer Aussprache vertraut zu machen, die ihr überaus unsympathisch waren.

Am Ostersonntag erschien tatsächlich John O'Flanagan in New York, machte ihr seinen Besuch im Salonrock, fand ihr Englisch drollig und entzückend, durfte sie küssen und am Dienstag im Rathaus heiraten.

So war aus einem Wiener Kind plötzlich Mrs. Lola O'Flanagan geworden.


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