Hugo Bettauer
Der Kampf um Wien
Hugo Bettauer

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50. Kapitel

Ein Abenteuer.

An einem Nachmittag, da die Sonne so warm schien und der Himmel so tiefblau war, daß man sich in eine südliche Stadt versetzt glaubte, ging Ralph zu Fuß bis zum Praterstern und betrat von dort aus zum erstenmal den Prater, von dem seine Mutter ihm viel erzählt hatte.

Er war enttäuscht. Die große Allee machte den Eindruck restloser Verwahrlosung, jetzt, mitten im Winter, war sie so staubig, daß sich die Schuhe weiß färbten, von den wenigen Bänken fehlten Holzstücke, und eine graue, öde Verlassenheit lag über dem Ganzen. Wo waren die vielen Reiter, von denen seine Mutter ihm erzählt, wo die Equipagen mit edlen Trabern bespannt? Möglich, daß die Jahreszeit die Wiener nicht nach dem Prater lockte und sich in wenigen Monaten das Bild wesentlich anders gestalten würde. Aber in anderen Großstädten waren solche Gärten das ganze Jahr hindurch belebt, im New Yorker Central-Park, im Londoner Hyde-Park, im Bois de Boulogne würde man um diese Stunde das lebhafte Treiben der eleganten Welt sehen.

Wien schien doch nur mehr eine gefallene Größe zu sein, wirklich eine sterbende Schönheit. Das Bettlerkleid war unverkennbar.

Tief in Gedanken versunken, von Einsamkeit umgeben, ging Ralph mit raschen Schritten bis zum Lusthaus und zurück durch die Auen. Dabei verirrte er sich gründlich, geriet in Moräste, sah Rehe an sich vorbeieilen, bekam einen Begriff von der gewaltigen Ausdehnung dieses Praters. Schließlich, es war 7 Uhr geworden und ganz finster, kam er zu den städtischen Lagerhäusern und von dort in jenen Teil des Praters, der Volksprater genannt wird.

Ralph war müde und hungrig geworden, und als er in unmittelbarer Nähe des Lustspieltheaters ein Kaffeehaus fand, betrat er es und ließ sich Eier, Butter, Schinken und Kaffee geben.

Gesättigt und ausgeruht betrachtete Ralph seine Umgebung. Männer an den Kartentischen, jeder eine unheimliche Verbrecherphysiognomie, flackernde Augen, brutale Stiernacken, große wuchtige Ohren. An einem anderen Tisch ein paar junge Burschen, unter ihnen ein hübscher Kerl mit grellroter Krawatte, karrierten Hosen, frechen, verschlampten Augen. Ein anderer einäugig, einen Zug unsagbarer Gemeinheit um den breiten Mund und noch einer, der kaum den Kinderjahren entwachsen schien. Dieser Junge schien geschminkt zu sein, hatte künstlich gekräuselte blonde Locken und fiel durch seine weibischen Bewegungen auf. Seine blauen Augen begegneten dem Blick des Amerikaners, der junge Bursch begann süßlich zu lächeln, kokettierte wie ein Weib. Und Ralph wußte nun, daß er mitten unter Zuhältern, Perversen, Desperados, Abschaum der Großstadt saß.

Ein paar Dirnen betraten das Kaffeehaus, gingen auf die Männer zu, tuschelten mit ihnen. Die eine, ein zartes, hübsches Geschöpf, das immer hustete, gab dem Mann mit den karrierten Hosen Geld, er verlangte scheinbar mehr, es kam zu einem heftigen Wortwechsel, aus dem heraus Ralph nur die Schlußworte verstand:

»Wenn du heute net hunderttausend ablieferst, kriegst so viel Flaschen, als auf dein schiachen G'sicht Platz ham.«

Und dabei schüttelte er das Mädchen am Arm, das hilflos und verängstigt wie ein verprügelter Hund dreinblickte.

Die Mädchen gingen, andere kamen, neue Zuhälter betraten das Lokal, immer mehr geschminkte Burschen mit grellen Krawatten. Nach und nach schien Ralph einige Aufmerksamkeit zu erregen. Mit Kennermienen wurde seine Kleidung taxiert, und als er auf die Uhr sah, hörte er, wie ein Mann am Nebentisch bewundernd zu seinen Gefährten sagte:

»Der hat a Uhr aus Platin! Die kriegst net unter zwanzig Millionerln Ka!«

Der Garderobier, ein älterer Mann mit spitzem Vogelgesicht, kam auf Ralph zu:

»Die Dame dort in der Ecke glaubt den Herrn zu kennen und läßt fragen, ob sie sich zu Ihnen setzen darf?«

Ralph verneinte lächelnd.

»Ich kenne die Dame nicht und habe auch gar nicht das Bedürfnis, sie kennen zu lernen.«

Der Garderobier nickte lebhaft.

»Recht haben Sie, Herr! Was soll so ein eleganter, junger Mann mit einer anfangen, die auf die Straße geht? Aber wenn der Herr sich wirklich gut unterhalten will – ganz in der Nähe wohnt ein Maler – zu dem kommen abends die schönsten Modelle von Wien. Ganz junge darunter, bis zu zwölf Jahren. Und Filme werden vorgeführt, lauter Pariser Sachen, hoch pikant. Nur für feine Herren natürlich. Regiebeitrag und was der Herr eben verzehrt. Eine ausgesprochene Sache für Lebemänner.«

Ralph wollte die Gelegenheit, einen Blick in die Wiener Unterwelt zu tun, nicht vorübergehen lassen, schob dem Garderobier einen Fünfzigtausendkronenschein zu, worauf er eine Adresse in der Stuwerstraße erhielt. Und gleichzeitig einen Zettel mit einem unleserlichen Wort, das ihm Einlaß verschaffen sollte. Eine vierstöckige Zinskaserne mit zerschundener Barockfassade aus Mörtel, unbenutzbaren Balkons, einem engen, dunklen Korridor, der nach der schmutzigen Steintreppe führte. Und in jedem Stockwerk sechs Wohnungen, aus denen schrille Stimmen, Gekeif, Gestank drang.

Im dritten Stockwerk war mit Reisnägeln an einer Türe eine Visitkarte befestigt.

Josef Sochatschewer, akademischer Maler.

Ralph setzte die Glocke in Bewegung, worauf sich die Türspalte öffnete. Erst als Ralph den Zettel hineingeschoben, wurde die Tür von einem dürren Männchen im Samtkittel ganz geöffnet. In singendem Tonfall, mit unverkennbar polnischer Betonung erfolgte die Begrüßung.

»Ich bitte serrr, mein Herr, folgen Sie mir in den Salon, es sind schon einige Herren anwähsend.«

Tatsächlich standen in dem sogenannten Salon einem mittelgroßen Zimmer mit zerfetzter Ledergarnitur, etliche Herren umher, die einander verlegen musterten. Fast durchwegs ältere Leute, die ein großes, lasterhaftes Abenteuer erhofften.

Die Frau des Herrn Sochatschewer, ein mächtiges, üppiges Weib in einem zerschlissenen Seidenkleid, aus dessen Rissen das Fett hervorzuquellen drohte, betrat das Zimmer, brüllte den Gästen ein »Guten Abend« zu und verkündete, daß nur Champagner zu haben sei. Worauf die Lebemänner resigniert und ein wenig erschrocken nickten und bestellten.

Das Zimmer hatte einen Erker und in diesem war eine Art Podium aufgestellt. Herr Sochatschewer eröffnete die »Vorstellung« mit den Worten:

»Verehrte Herren, einige meiner Modelle werden jetzt lebende Bilder stellen, nach berühmten klassischen Gemälden. Die lebenden Bilder sind von mir einstudiert, und ich bitte um einen Regiebeitrag in der Höhe von zehntausend Kronen.«

Die Lebemänner zogen die Brieftaschen, zahlten, gossen warmen ungarischen Schaumwein in zerbrochene Wassergläser, und herein hüpften ein paar häßliche, ausgemergelte Dirnen, um sich splitternackt auf das Podium zu stellen und unsagbar blöde Figuren zu bilden. Das dauerte eine Weile, bis Herr Sochatschewer wieder das Wort ergriff und erzählte, daß nunmehr ganz jugendliche Modelle erscheinen würden, wofür aber neuerdings zu bezahlen sei, und zwar diesmal zwanzigtausend Kronen.

Die älteren Jahrgänge unter den Lebemännern bekamen rote Köpfe und ihre Finger zitterten beim Bezahlen.

Tatsächlich kamen ein paar blutjunge Dinger entkleidet herein, arme dürftige Kinder mit allen Zeichen des frühen Lasters, des Wissens über die zukünftige Bestimmung in den Mienen. Kinderkörper, zu denen die altklugen Gesichter in grauenhaftem Widerspruch standen.

In Ralph kämpfte Empörung mit Mitleid. Am liebsten wäre er aufgesprungen, dem alten Kupplerpaar an die Gurgel gefahren und hätte die Kinder mitgenommen, um zu retten, was noch zu retten war.

Die Furcht, lächerlich zu erscheinen, pathetische Szenen herbeizuführen, besiegte den guten Willen.

Es folgte gegen abermalige Bezahlung die Vorführung eines Filmstückes von unappetitlicher, abscheulicher und geschmackloser Obszönität und dann – dann durfte man sich mit den Modellen unterhalten, wenn man wollte.

Ralph wollte nicht. Entsetzt floh er die Wohnung des Herrn Sochatschewer, sein Bedarf an Orgien war für Lebenszeiten gedeckt.

Unten angelangt, verfehlte er wieder den Weg, lief straßaus und straßein, bis er nochmals zu dem sympathischen Kaffeehaus kam. Der Garderobier stand mit einigen Kerlen draußen vor der Tür, erkannte Ralph und drückte seine Verwunderung darüber aus, daß dieser so bald fortgegangen sei. Ohne zu antworten ging Ralph rasch weiter, um irgendwo auf ein Autotaxi zu stoßen.

Plötzlich, es war stockdunkel um ihn her, fühlte er sich von rückwärts umklammert, Hände legten sich um seinen Hals, der Mund wurde von einer Faust zugepreßt, andere Hände knöpften seinen Rock auf, versuchten die Brieftasche zu finden.

Die Strolche hatten aber die Kraft des Überfallenen unterschätzt. Ralph bückte sich plötzlich, schnellte in die Höhe, warf sich um, schleuderte mit einem furchtbaren Fußtritt den einen Kerl fort, der wimmernd zusammenbrach, versetzte einem zweiten einen Faustschlag in den Magen, hätte sich auf einen dritten geworfen, wenn dieser nicht davongelaufen wäre.

Schwer atmend, aber lachend blieb Ralph stehen, tastete an seinem Körper entlang, um einen Wutschrei auszustoßen: Die Brieftasche war da, aber seine Uhr hatten die Kerle doch gestohlen!

Die kostbare Uhr aus Platin war ein Geburtstagsgeschenk seiner Mutter, ihm also so teuer, daß er sie um jeden Preis wieder haben mußte.

Die zwei Burschen, die er niedergeschlagen, waren indessen ebenfalls verschwunden, also war guter Rat teuer. Rasch entschlossen, eilte Ralph zu dem Kaffeehaus zurück, rief den Garderobier, der ihm nicht in die Augen sehen wollte, und sagte seelenruhig:

»Lieber Freund, ich bleibe jetzt hier bei Ihnen. Entweder Sie sorgen dafür, daß ich innerhalb einer Viertelstunde meine Uhr, die mir soeben von einem Ihrer Spießgesellen geraubt wurde, wieder habe, dann gebe ich Ihnen meinethalben eine halbe Million. Oder ich bekomme die Uhr nicht zurück, dann breche ich Ihnen hier an Ort und Stelle sämtliche Knochen im Leib und laß Sie außerdem einsperren. Also rasch, entscheiden Sie sich.«

Der Mann entschied sich, winkte einen Burschen herbei, flüsterte mit ihm, der Bursch eilte davon und bevor fünfzehn Minuten um waren, hatte Ralph seine Uhr und der Garderobier die halbe Million.


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