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Der Abbé Graf von Bucquoy.

– 1700-1702. –

Der Graf von Bucquoy war zuerst Offizier, dann nacheinander Karthäuser, Trappist und Jesuit. Im Anfange ein überspannter Frömmler, ward er später ein sehr nüchtern und kühl denkender Mann. Wenn man von dem, was er über sich selbst erzählt, schließen kann, so war er ein thätiger, unruhiger Geist, ein Verbreiter fortschrittlicher Ideen und ein Feind des Despotismus. Unter Ludwig XIV. wurde er als verdächtig, im Einverständnis mit den Salzschmugglern zu stehen, und weil er in einem Wirtshause anstößige Reden geführt hatte, festgenommen. Während man ihn nach Paris brachte, suchte er zu entfliehen, ohne daß es ihm gelang, und was er über diesen ersten Fluchtversuch erzählt, beweist, daß er damals in dieser Art Unternehmen weniger geschickt war, wie er es nachher wurde.

Man brachte ihn nach Fort l'Evêque in Paris, und von dem ersten Tage seiner Gefangennahme an dachte er nur an Mittel, seine Freiheit wieder zu erlangen. Über seine Abenteuer erzählt er selbst in indirekter Redeweise:

Er erinnerte sich, daß ein Gefreiter vom Garde du corps sich aus diesem Gefängnis durch ein nach dem vallée de Misère (Thal des Elends) gehendes Bodenfenster hätte befreien können, daß er aber durch den Schreck, den ihm die Tiefe einflößte, davon abgehalten wurde. Er entschloß sich zu versuchen, was der arme Gefreite nicht gewagt. Zunächst suchte er sich zu orientieren und die Geheimnisse dieses schrecklichen Aufenthaltes kennen zu lernen. Er fand bald, daß der fragliche Boden der Vorraum seiner kleinen Zelle und gleichzeitig die Gerätekammer des Hauses war. Um vor dem Unternehmen seiner Sache sicher zu sein, stellte er sich eines Tages krank und bat den Kerkermeister, ihn den Kopf zur Dachluke hinausstecken zu lassen, um frische Luft zu schöpfen und sich zu erholen. Er sah, daß das Fenster wirklich nach dem Quai vallée de Misère hinausging.

Als man ihn wieder in sein mit Vorlegeschlössern verwahrtes Zimmer eingeschlossen hatte, dachte er nur noch an die Mittel, um sein Vorhaben auszuführen. Alles hing nur davon ab, aus dem Zimmer zu kommen und sich allein auf diesem Dachboden zu befinden.

Er hätte die sehr starke Thür aufbrechen müssen, und zu diesem Zwecke hatte er keine genügenden Werkzeuge, auch war zu befürchten, daß das Geräusch seine Absichten verraten würde. So fand er nach reiflicher Überlegung kein besseres Mittel, als die Thür durchzubrennen. Zu diesem Zwecke bat er am nächsten Tage den Hausmeister, ihm zu gestatten, seine Küche selbst zu besorgen; er verlangte Eier und Holz und Kohlen, um sie zu kochen, und bezahlte reichlich, um bei diesem Einfaltspinsel leichter seinen Zweck zu erreichen. Da er das Gewünschte auch erhielt, wartete er am Abend, bis er glaubte, daß jedermann zu Bett sei, dann legte er glühende Kohlen unten an die Thür, blies sie an und brachte es wirklich sehr bald dahin, daß sie Feuer fing und endlich langsam brannte. Als er glaubte, daß das Feuer ein ordentliches, brauchbares Loch gebrannt habe, löschte er es mit dem wohlweislich aufgespeicherten Wasser aus, da er natürlich keinen größeren Brand verursachen wollte. Er hatte aber nun den schrecklichen Rauch zu bekämpfen, an dem er beinah erstickt wäre. Aber auch dieses Hindernis überwand er, und nachdem er durch die Öffnung in der Thür hindurch gekrochen war, befand er sich in der so heiß ersehnten Bodenkammer, von der aus er hoffte, sich bald ganz frei zu sehen. Der Erfolg entsprach seiner Erwartung. Wenngleich er kein Tau hatte, um durch das Fenster hinab zu steigen, so entdeckte er das Geheimnis, eins schnell anzufertigen. Er schnitt eine Anzahl der herumliegenden Matratzenbezüge in Streifen, band sie fest zusammen und befestigte das Ende an den Fuß eines Bettes, das er wiederum quer vor die Dachluke schob. Dann wagte er, an den spitzen Eisen vorbei, mit denen alle Fenster der fünf oder sechs Stockwerke verziert sind, den gefährlichen Abstieg, und kam endlich auch just bei Tagesanbruch auf dem Quai mit zerrissenen Kleidern an. Einige Geschäftsleute, die ihre Läden öffneten, sahen ihn noch absteigen, thaten aber, als bemerkten sie ihn nicht, dagegen brachte ihn eine Bande Gassenjungen, die ihm mit Geschrei und Lärm folgte, beinah in Gefahr, wenn sie nicht ein starker Platzregen glücklicherweise auseinander gejagt hätte. Er suchte dabei die Jungen durch Kreuz- und Querwege von seiner Fährte abzubringen und trat endlich in der Nähe des Temple unter dem Vorwand, zu frühstücken, in ein Wirtshaus, damit, wenn ihm doch irgend jemand gefolgt sein sollte, jede Spur aufhöre. Aber er hörte über seine schlechte Kleidung Bemerkungen machen und glaubte, daß seine Entweichung schon bekannt sei, – er bezahlte schnell den Wirt und ging hinaus, ohne zu wissen, wohin er sich wenden sollte. Er flüchtete sich schließlich zu Verwandten eines seiner Diener, erfand eine Geschichte, um der Frau die Unordnung seiner Toilette zu erklären, gab ihr Geld und ließ sich zu essen holen. Am Abend entfernte er sich wieder, da er die Schwatzhaftigkeit der Frau befürchtete und fand bald ein sicheres Asyl.

Nachdem er neun Monate zugebracht, aus seinen Verstecken zu seiner Rechtfertigung Bittschriften an den König zu richten, hielt er es für das Beste, aus dem Lande zu gehen; aber er wählte seine Zeit schlecht, wurde in La Fère festgenommen und wieder gefangen gesetzt. Zwei Mal versuchte er daraus wieder zu entweichen, und wenig fehlte, daß es ihm beim zweiten Male geglückt wäre. Er hatte nur noch eine Mauer zu übersteigen und einen Graben zu durchschwimmen, wurde aber entdeckt und wieder festgenommen. Schließlich brachte man ihn nach Paris zurück, wo er in die Bastille eingesperrt wurde.

Sicherlich hatte er dort keinen Anlaß, Hoffnungen auf eine Entweichung zu hegen, dort konnte man sagen, es heiße das Unmögliche versuchen. Dennoch war es von seinem Eintritt in das Gefängnis an sein erster und einziger Gedanke. Er blickte sich sofort nach allen Seiten um und erwog schon, welches der geeignetste der vielen Pläne sei, die ihm auf der Stelle einfielen. In der That gelang es ihm später auch, trotz aller sich darbietenden Schwierigkeiten, aus der Bastille zu entfliehen. Aus dem ihn anbringenden Wagen herausgestiegen, betrachtete er genau die Zugbrücke und die Contrescarpe, aber man ließ ihm dazu nicht lange Zeit, sondern führte ihn schnellstens nach dem Turme »Bretignière.« Nach einigem Aufenthalt in den Sälen im Erdgeschoß brachte man ihn in einen gemeinsamen Raum mit anderen Gefangenen. Denen schlug er schon nach einigen Tagen vor, gemeinschaftlich zu entweichen, wurde aber von einem Geistlichen denunziert. Darauf brachte man ihn in eine Zelle, aus der er bald wieder herauskam, weil er sich krank stellte, oder, wie er selbst sagt, weil er that wie jemand, der sterben will. Man hielt ihn für paralytisch und brachte ihn nacheinander in drei verschiedene Räume. So gelang es ihm, die meisten der Türme kennen zu lernen und seinen Fluchtplan zu studieren. Zuletzt wurde er in dem Turme »Le Bertaudière« mit einem deutschen Baron zusammengesperrt. Dieser war lutherisch, und er nahm sich vor, ihn zum Religionswechsel zu bewegen, wie auch ihn für seine Fluchtpläne zu benützen. Schon hatten sie angefangen, ein altes vermauertes Fenster wieder aufzubrechen, als sie von einem nebenan befindlichen Gefangenen angezeigt wurden. Dem Abbé gelang es, sich beim Kommandanten zu entschuldigen und alles auf den Angeber abzuwälzen, aber man brachte ihn nach einem anderen Turme, dem der »Freiheit.« Den Deutschen ließ man indeß bei ihm, um die begonnene Konversion nicht zu verhindern.

Sie begannen nun ihre Vorbereitungen, um in den Graben des Thores von St.-Antoine hinabsteigen zu können. Sie durchbrachen die Mauer mit Eisenstücken, Kupferplatten, Nägeln, Messerklingen, die der Abbé in den nacheinander von ihm bewohnten Räumen abgerissen oder sonst angesammelt hatte. Die Eisenstücke schliff man an den Wasserkrügen scharf, und da das Gemach einen Kamin hatte, so bediente man sich auch des Feuers, um diese mangelhaften Hilfsmittel zu vervollkommnen. Man sammelte die Weidengeflechte, worin die Weinflaschen gehüllt waren, die die Gefangenen abends und morgens erhielten, und der Abbé sagte dem Schließer, daß diese Weiden ihm zum Feueranzünden dienten. Um den angesammelten Haufen zu verbergen, hatte er in einer Ecke des Zimmers die Fliesen ausgehoben, die zur Ausfüllung benutzte Erde weggenommen und so ein Versteck ausgehöhlt, wo er wie in einem Magazine all seine Fluchtwerkzeuge versteckte. Er verbarg darin auch die Leinenstreifen, die er von Zeit zu Zeit von seinen Betttüchern und aus Handtüchern, die er bei Seite brachte, schnitt. Er zerzupfte all das alte Linnen, drehte es von neuem zusammen und machte daraus mit den Weidenruten einen Strick, der wohl geeignet schien, ihn bei Gelegenheit zu halten. Die Arbeit schritt voran, und die Gefangenen waren dem lange ersehnten Augenblick sehr nahe, als eines Tages plötzlich der Boden des Zimmers einbrach und der Abbé und sein Kamerad in das Zimmer eines Jesuiten fallen ließ, der etwas geistesgestört war und den dieses Abenteuer ganz und gar verrückt machte. Man besserte zwar die Decke aus und brachte den Abbé wieder in denselben Raum, aber nur, um ihn bald darauf zu seiner großen Verzweiflung wieder herauszunehmen; und so sah er die Hoffnung und Frucht langer Arbeit in einem Augenblick verloren.

Es gelang ihm dabei aber, den deutschen Baron loszuwerden, der nichts mehr versuchen wollte und hinderlicher statt nützlicher wurde. Da dieser Deutsche, in der Hoffnung, seine Freiheit um diesen Preis zu erlangen, schließlich den Protestantismus abgeschworen hatte, so galt der Abbé als geschickter Bekehrer und erlangte es leicht, daß man ihn in das gleiche Zimmer mit einem gewissen Grandville brachte, ebenfalls einem Protestanten, aber was ihm wichtiger war, ein Mann, der von den Gefangenen als guter Genosse betrachtet wurde und sehr geneigt war, alles zu wagen, um zu entfliehen. Man gab ihnen noch zwei andere Gefangene bei, mit denen der Abbé bald die Flucht vereinbart hatte. Nachdem er sie die feierlichsten Eide hatte schwören lassen, teilte er ihnen mit, daß er eine kleine Feile besitze, die man nie bei ihm gefunden habe, so oft man ihn auch durchsucht hätte. Er schlug vor, die Eisenstäbe zu durchfeilen und mit Stricken durch das Fenster hinabzusteigen. Er hatte einige von denen aufbewahren können, die er mit dem deutschen Gefangenen gedreht hatte. Man drehte dazu neue und jeder legte Hand ans Werk, um die Arbeit schnell zu fördern. Indeß ging es ihnen beinah wie den Arbeitern am Turm zu Babel, nicht wegen der Verschiedenheit der Sprachen, sondern wegen der verschiedenen Meinungen über die Art zu fliehen. Endlich kam man überein, zuerst in den Graben hinabzusteigen, womit wohl angefangen werden mußte, und einmal dort, könnte jeder hingehen, wohin er wolle. –

Nachdem man sich über den Tag oder richtiger die Nacht zur Flucht geeinigt hatte, wartete man ab, bis man glaubte, daß alles schliefe und hob dann die Eisenstäbe des Gitters aus. Damit man in den unteren Räumen nicht Körper in der Luft hängen sah, trug man Sorge, ein großes Tuch hinabzulassen, welches eine Wolke vor den Fenstern bildete und hinderte, daß man den Abstieg entdeckte. Da man irgend etwas hinausstecken mußte, um den Strick zu befestigen, so hatte der schlaue Abbé, um die Wachen an den Anblick zu gewöhnen, einige Tage vorher schon eine Art Zifferblatt an einem Stock hinausgesteckt, welches drei bis vier Fuß außerhalb des Fensters vorstand. Nachdem alle diese Vorbereitungen getroffen und man den Strick mit aus verbranntem Stroh gewonnenen Ruß und geschmolzenen Fett schwarz gemacht hatte, damit man ihn weniger bemerke, erbat der Abbé von seinen Kameraden die Erlaubnis, zuerst hinabzusteigen. Er versprach, sie im Graben zu erwarten, um da die Hilfsmittel in Empfang zu nehmen, deren jeder sich nach seiner Weise bedienen sollte. Er sollte sie auch durch ein Zeichen benachrichtigen, wenn die Schildwache den Rücken gewandt hatte, um diesen Augenblick zum Abstieg zu benutzen. Dies wurde durch eine am Fenster befestigte Schnur erreicht, die, je nachdem man daran zog, ja oder nein angab. Nachdem so alles geordnet war, stieg der Abbé hinab, blieb aber über zwei Stunden im Graben ohne Nachricht von seinen Kameraden. Er konnte an der Schnur ziehen, wie er wollte, niemand antwortete. Er glaubte, daß neuer Streit diese Herren veranlaßt habe, den Fluchtplan aufzugeben. Endlich sah er die verschiedenen Hilfsmittel herabgleiten, und dann kamen auch seine beiden Kameraden an; der dritte hatte nicht durch die Öffnung kommen können. Von ihnen erfuhr er, daß diese so wesentliche Schwierigkeit sie so lange zurückgehalten hatte, und daß endlich der arme Grandville, denn dieser war der Unglückliche, die Großmut gehabt habe, sie zu ermahnen, ihn zu verlassen, denn es sei besser, wenn nur einer zu Grunde gehe. Nach diesem traurigen Berichte ermahnte der Abbé die andern, nur seinem Plane zu folgen, konnte sie aber nicht dazu bestimmen und war genötigt, allein weiter zu handeln. Seine Maßnahmen waren so richtig, daß die Sache besser glückte, als er sich gedacht hatte. Er legte seine Strickleiter an und befestigte sie an der Brustwehr, um in dem Augenblicke, wo sich die Schildwache von ihm entfernte, über den Graben zu steigen. Er kletterte über die Contrescarpe, dann noch über einen Graben und kam in eine Wasserrinne, von der aus er in die Straße St. Antoine sprang, just an der Stelle, wo die Fleischstände sind. Ein Haken an einem Verkaufsstand hätte ihm dabei beinahe den Arm aufgerissen. Ehe er aus der Rinne stieg, wo er sich verborgen gehabt, hätte er gern gewußt, was aus seinen Kameraden geworden sei. Er hatte schreien hören, als ob man jemand an der Kehle packe und darauf einen Schuß aufblitzen sehen, so daß er überzeugt war, sie hätten, wie er ihnen geraten, die Schildwache angegriffen, nur daß es ihnen dabei an Kraft und Entschlossenheit gefehlt, so daß man sie entdeckt und auf sie geschossen habe. Da er nie wieder von den armen Leuten etwas hörte, so hat er Grund, seine Annahme, daß sie bei dieser Gelegenheit umgekommen sind, für richtig zu halten. Er hütete sich, ein ähnliches Loos in seiner Rinne abzuwarten und stieg, wie erzählt, in die Straße von St. Antoine hinab. Von da ging er nach der Rue Tournelles und lief kreuz und quer, aus Angst, daß man ihm folgen könne. So kam er fast durch ganz Paris endlich zum Thore »de la Conférence«. Hier fand er bereits verständigte Freunde, die ihn verbargen und Mittel gaben, ins Ausland zu entkommen. Er hütete sich, diesmal in Paris zu bleiben, wie er nach seiner Flucht aus For l'Evêque gethan, denn er hatte zu teuer dafür bezahlen müssen. Er fand es geratener, sich nach der Schweiz in Sicherheit zu bringen, wohin er sich über Burgund begab.

(Äußerst seltsame Ereignisse, oder die Geschichte des Herrn Abbé Grafen von Bucquoi, besonders seine Flucht aus For l'Evêque und der Bastille – 1719.)

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