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Blanche Gammond.

– 1687. –

Blanche Gammond gehörte einer protestantischen Familie Südfrankreichs an, die, als nach der Zurücknahme des Ediktes von Nantes die Verfolgung gegen die Reformirten losbrach, den Entschluß faßte, aus dem Königreiche zu entfliehen. Doch die Stadt Saint Paul, die sie bewohnten, war umzingelt und Dragoner durchstreiften und durchforschten die ganze Umgebung, um Protestanten zu entdecken und zu ergreifen. Blanche gelang es, die Stadt zu verlassen, sie irrte eine Zeit lang allein, dann mit ihren Eltern vereint, umher. Viel durch Wälder, seltener durch bewohnte Gegenden wandernd, allen Unbilden der Witterung ausgesetzt, durchstreiften sie einen großen Teil der Dauphiné, oft trennten sie sich auch, um so leichter den Verfolgungen der Dragoner zu entgehen. Unsere arme Heldin wollte eben mit ihrem Bruder und ihrer Mutter die Grenze überschreiten, als sie bei einer kleinen Provinzialstadt festgenommen wurden. Der Bruder entkam den Reitern, aber Mutter und Tochter wurden von den Soldaten in ihrem Verstecke entdeckt, brutal mißhandelt, nach Grenoble geführt und in ein tiefes Verließ gebracht. Blanche Gammond war damals einundzwanzig Jahre alt. Lange hatte sie die grausamsten Qualen zu leiden: Beschimpfung, erbarmungslose Schläge, Hunger, schwere Krankheit, alles ertrug sie mutig mit der Ergebung einer Märtyrerin. Einen Fluchtversuch, der für sie sehr traurige Folgen hatte, erzählt sie folgendermaßen:

Man hatte uns gesagt, uns bereit zu halten, denn wir würden in drei Tagen nach Amerika geschickt werden. »Wenn ihr dann auf dem Meere seid«, wurde uns gedroht, »läßt man euch auf ein schmales Brett treten und wirft euch so hinein, damit die Rasse der Hugenotten ausstirbt und man euch los ist.« Ich erwiderte: »Mir ist wenig daran gelegen, ob die Fische meinen Körper fressen oder die Würmer der Erde. Das ist dasselbe.«

Als man uns allein gelassen hatte, sagte Susanne de Montélimart, eine Mitgefangene: »Wir sollten durch das Fenster zu entfliehen und die Eisen auszubrechen suchen.« Ich antwortete: »Da ist es so tief und wir sind so hoch oben, daß wir uns beim Hinabspringen töten oder zu Krüppel werden könnten, und dann werden wir wieder eingefangen und noch mehr gemißhandelt. Mir ist der Tod willkommen und möchte ich lieber nach Amerika gehen. Gott wird uns von allen erlösen, auch von La Rapine.« – La Rapine oder d'Herapine, der vorher wegen Diebstahls verurteilt gewesen war, war Direktor des Hospitals von Valence geworden. Er war beauftragt, alle nur erdenklichen Mittel anzuwenden, um die Protestanten zu bekehren, und er entledigte sich seiner Aufgabe mit der Schamlosigkeit und Grausamkeit eines erbarmungslosen Schurken.

Susanne erwiderte: »Wenn man mich schon so behandelt hätte, wie Dich, würde ich längst tot sein ... Aber schließlich ehe man uns verhungern läßt oder nach Amerika bringt, sollten wir vielleicht durch das Fenster hindurch zu entkommen suchen und jedenfalls die Mittel nicht verachten, die Gott uns zur Hilfe sendet. Was mich angeht, so bin ich dafür, daß wir entfliehen.« Man zerschnitt endlich ein Betttuch in Streifen und knüpfte und nähte sie zusammen. Um die Länge, die man brauchte, in Erfahrung zu bringen, wurde ein Stein an einem Faden hinabgelassen. Das Fenster war durch ein Vorlegeschloß zugehalten und mußte vorher gewaltsam geöffnet werden. Da wir uns im vierten Stockwerke befanden, so erwiesen sich die leinenen Bänder zu kurz und man mußte, um bis an den Boden zu reichen, noch zwei Betttücher zerschneiden; dann wurde der Leinwandstreifen an den Dachbalken befestigt ... Als ich dabei zum Fenster hinaussah, rief ich erschreckt aus: »O weh! wir bringen uns ums Leben, mich schwindelt, wenn ich hinuntersehe, so tief ist es.« –

Als am Abend unsere Aufseherin eingeschlafen war, schlichen wir uns leise und mit bloßen Füßen an das Fenster, damit der unter uns schlafende Priester nicht aufwache. Die erste, die hinausstieg, war Susanne de Montélimart, Bertha Terrasson aus Dié folgte, dann kam ich und Anna Dumasse. Als ich aus dem Fenster gestiegen war und anfing, mich der Leine anzuvertrauen, versagten mir die Kräfte und ich hörte die Knochen meiner Arme knacken. Zudem hing plötzlich mein Rock an einem Nagel des Fensters fest, ich mußte mich mit einem Arme festhalten und mit dem andern den Rock losmachen. Doch plötzlich fühlte ich keine Kraft und keinen Mut mehr, ich rief: »Herr Jesus, empfange meinen Geist«, dann nahm ich wie im Fieber das Tuch zwischen die Zähne, griff krampfhaft mit beiden Händen um mich und ließ mich hinabfallen, vom vierten Stockwerke auf die Steine. »Gütiger Gott«, rief ich zusammenbrechend, »ich sterbe oder bin für mein ganzes Leben ein Krüppel.«

Meine vielgeliebten Gefährtinnen, die mich erwarteten, frugen entsetzt: »Wo hast Du Dir denn weh gethan?« »Überall ...; sicher aber habe ich den Schenkel gebrochen oder ausgerenkt. Seid so gut und verbindet ihn.« Mit Hülfe der Freundinnen schleppte ich mich dann etwa siebzig Schritt weiter, aber als wir an das Vorstadtthor kamen, fanden wir es noch geschlossen. Man half mir auf die Mauer klettern, aber oben sagte ich bestürzt: »Das ist ja ein neuer Abgrund, ich habe nicht mehr den Mut, da hinabzusteigen; laßt mich hier und geht allein weiter.« Sie geleiteten mich auf mein Bitten die Mauer wieder hinab und ließen mich liegen. Dann stiegen sie selbst wieder hinauf und mit vieler Mühe an der andern Seite der Mauer hinab und riefen mir noch von der andern Seite zu: »Wir müssen fort, wir bedauern Dich recht, recht sehr ... Möge Gott Dich vor unsern Feinden schützen! Wir wünschen Dir allen Segen und alles Gute und bitten Dich, uns auch Deinen Segen zu geben.« Ich antwortete: »Wer bin ich, um Euch meinen Segen zu geben! Ich werde aber Gott bitten, Euch auf allen Wegen zu begleiten. Ich beschwöre Euch, flieht nun so schnell wie möglich, denn ich bin nur eine Bürde und gewärtig, wieder gefangen gesetzt zu werden.«

Ich mußte mich mit einem Arme festhalten. (Blanche Gammond)

So blieb ich ganz allein am Wege liegen. Ich fühlte grausame und heftige Schmerzen, die mich fortwährend peinigten. Bei Tagesanbruch betete ich; dann war ich eine halbe Stunde lang ohne Besinnung. Niemand war in der Nähe, um mir mit einem Tropfen Wasser oder Essig beizustehen und mich zum Bewußtsein zu bringen. Sobald ich die Augen wieder aufschlug, rief ich: »Herr, verlaß mich nicht!« Bisweilen dachte ich daran, daß, wenn es Tag wird, man mich wieder ergreifen und ins Hospital zurückbringen würde. Ich flehte: »O Gott, wenn du mir eine Gnade gewähren willst, so beende heute meine Leiden, denn der Tod ist für mich besser wie das Leben. – Es ist genug der Qual! Nimm meine Seele zu Dir, o Ewiger!«

Es fing an hell zu werden. Ich fand nicht Kraft, mich in die Höhe zu heben, nur soviel, meinen Schleier vor das Gesicht zu ziehen, um nicht erkannt zu werden.

Ein Mann ging vorbei und sagte in herbem Tone zu mir: »Fräulein, Sie würden besser zu Hause wie hier sein.« »Mein Herr«, antwortete ich, »wenn Sie wüßten, wer ich bin, würden Sie nicht so zu mir sprechen.«

Einige Zeit darauf wurde das Thor geöffnet und die Vorübergehenden unterließen nicht, Bemerkungen darüber zu machen, mich so früh am Wege liegen zu sehen. –« Endlich bat Blanche eine Vorübergehende, ein Fräulein Marsilière zu ihr zu schicken, eine zur katholischen Religion übergetretene Protestantin, die sie kannte. Sie bat Gott, ihr in dieser eine gute Samariterin zu erwecken, die Mitleid mit ihr hätte. Aber Fräulein Marsilière hatte recht wenig von einer Samariterin.

»Sind Sie es, die mich verlangte?« sagte sie, als sie zu der armen Verwundeten kam. »Ja, liebe Freundin, retten Sie mir das Leben, bitte, helfen Sie mir, schleppen Sie mich hinter einen Busch, daß ich sterbe, ohne von jemand gesehen zu werden!« Aber sie erwiderte mir, ich wolle sie nur verderben und sie in Gefahren und Unglück bringen. »Ich gehe weg«, sagte sie, »denn wenn man mich sieht, würde man mich ins Gefängnis stecken.« Ich bat nochmals: »Wollen Sie mich denn wirklich hier am Wege liegen lassen? Seien Sie wenigstens so barmherzig, mir zu helfen, mich hinter diese Steine zu schleppen, damit die Vorübergehenden mich nicht mehr bemerken.«

Die Beschwörungen der armen Blanche konnten jedoch von der lieblosen Person, die sie zu ihrer Hilfe gerufen, nichts erlangen, weder ein gutes Wort, noch die geringste Unterstützung. Die Elende verließ sie, kam aber bald mit dem Vorsteher des Hospitals zurück, der, ohne sich um die Leiden der Unglücklichen zu kümmern, sie über ihre Flucht, ihre Mitschuldigen u. s. w. ausforschte. Endlich kamen zwei Wärter, die sie an den Schultern und Füßen packten, nach dem Hospital trugen und dort im Hofe niederlegten.

Wir können hier nicht die weiteren Qualen des armen Mädchens während der drei folgenden Monate beschreiben. Sie litt mit ihrer gewohnten Geduld und Standhaftigkeit; aber das Lesen ähnlicher abscheulicher Grausamkeiten könnte den geduldigsten Menschen wild machen.

Man übergab die Unglückliche schließlich ihren Eltern. Sie genaß gegen alle Erwartung und zog mit ihren Angehörigen nach der Schweiz.

(Berichte der Gesellschaft für die Geschichte des französischen Protestantismus 1867.)

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