August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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5. Soziale Verhältnisse und Vermehrungsfähigkeit

Die andere Seite der Frage lautet: Vermehren sich die Menschen in beliebiger Zahl, und haben sie das Bedürfnis dazu?

Um die große Vermehrungsfähigkeit der Menschen zu beweisen, lieben es die Malthusianer, sich auf abnorme Fälle einzelner Familien und Völkerschaften zu stützen. Damit ist aber nichts bewiesen. Diesen Fällen gegenüber gibt es andere, in denen trotz günstiger Lebensbedingungen sich nach kurzer Zeit vollkommene Sterilität oder nur sehr geringe Vermehrungsfähigkeit herausstellte. Es ist überraschend, wie schnell oft gutsituierte Familien aussterben. Obgleich die Vereinigten Staaten wie kein anderes Land günstige Bedingungen für die Bevölkerungsvermehrung enthalten und alljährlich Hunderttausende im kräftigsten Lebensalter einwandere, verdoppelt sich ihre Bevölkerung erst in dreißig Jahren. Von der behaupteten zwölf- oder zwanzigjährigen Verdoppelungsperiode sind nirgends Beweise in größerem Maßstab vorhanden.

Wie schon durch die Zitate von Virchow und Marx angedeutet wurde, vermehrt sich die Bevölkerung dort am raschesten, wo sie am ärmsten ist, weil, wie Virchow mit Recht ausführt, neben dem Trunke der Geschlechtsgenuß ihr einziges Vergnügen ist. Als Gregor VII. der Geistlichkeit das Zölibat aufzwang, klagten, wie wir anführten, die niederen Geistlichen der Diözese Mainz, sie hätten nicht, wie die Prälaten, alle möglichen Genüsse, ihre einzige Freude sei das Weib. Mangel an vielseitigerer Beschäftigung ist vielleicht auch die Ursache, daß durchschnittlich die Ehen der Landgeistlichen mit Kindern so gesegnete sind. Unbestreitbar ist ferner, daß unsere ärmsten Distrikte in Deutschland, das schlesische Eulengebirge, die Lausitz, das Erz- und Fichtelgebirge, der Thüringer Wald, der Harz usw. die Sitze der dichtesten Bevölkerung sind, deren Hauptnahrung die Kartoffel bildet. Weiter steht fest, daß bei Schwindsüchtigen der Geschlechtstrieb besonders stark entwickelt ist und diese oft noch in einem Stadium der Kräfteabnahme Kinder zeugen, in welchem man es nicht mehr für möglich halten sollte.

Es ist ein Gesetz der Natur, das auch in den von Herbert Spencer und Laing zitierten Aussprüchen sich ausgedrückt findet, an Quantität zu ersetzen, was an Qualität verloren geht. Die höchststehenden und stärksten Tiere: Löwe, Elefant, Kamel usw., unsere Haustiere, wie Pferd, Esel, Kuh, bringen sehr wenige Junge zur Welt, wohingegen die niedriger organisierten Tiere im umgekehrten Verhältnis sich vermehren, zum Beispiel alle Insektenarten, die meisten Fische usw., die kleineren Säugetiere, wie Hasen, Ratten, Mäuse usw. Andererseits stellte Darwin fest, daß gewisse Tiere, sobald sie aus der Wildnis unter die Zucht des Menschen kommen und gezähmt werden, ihre Fruchtbarkeit einbüßen, zum Beispiel der Elefant. Damit ist erwiesen, daß veränderte Lebensbedingungen und daraus folgende veränderte Lebensweise das Entscheidende für die mehr oder weniger große Vermehrungsfähigkeit ist.

Nun sind es aber gerade die Darwinianer, welche die Übervölkerungsfurcht teilen, auf die sich unsere modernen Malthusianer als Autoritäten stützen. Unsere Darwinianer haben überall eine unglückliche Hand, sobald sie ihre Theorien auf den Menschen anwenden, weil sie hierbei roh empirisch verfahren und nicht berücksichtigen, daß zwar der Mensch das höchst organisierte Tier ist, aber im Gegensatz zu den Tieren die Naturgesetze erkennt und sie zweckbewußt zu lenken und zu benützen vermag.

Die Theorie vom Kampfe ums Dasein, die Lehre, daß die Keime für neue Existenzen in weit höherem Grade vorhanden sind, als auf Grund der vorhandenen Existenzmittel lebensfähig erhalten werden können, wäre auch für die Menschen zutreffend, wenn diese, statt ihr Gehirn anzustrengen und die Technik zu Hilfe zu nehmen, um Luft, Grund und Boden und Wasser zweckbewußt auszunutzen, wie Viehherden grasten oder wie Affen ungezügelt der Befriedigung ihres Geschlechtstriebs oblägen, also selbst zu Affen würden. Beiläufig bemerkt, liegt in der Tatsache, daß außer bei den Menschen nur noch bei den Affen der Geschlechtstrieb nicht an gewisse Zeiten gebunden ist, ein schlagender Beweis für die Verwandtschaft der beiden. Aber wenn sie nahe verwandt sind, so sind sie nicht gleich; man kann sie nicht auf eine Stufe stellen und mit gleichem Maße messen.

Daß unter den bisherigen Eigentums- und Produktionsverhältnissen der Kampf ums Dasein auch für den einzelnen Menschen bestand und besteht und viele die notwendigen Lebensbedingungen nicht finden, ist richtig. Aber nicht weil sie mangelten, fanden sie die Existenzmittel nicht, sondern weil sie durch die sozialen Verhältnisse, mitten im größten Überfluß, ihnen vorenthalten wurden. Und falsch ist ferner, daraus abzuleiten, daß, weil dies bisher so war, dieses unabänderlich sei und ewig so bleiben müsse. Hier ist der Punkt, wo die Darwinianer auf die schiefe Ebene geraten, sie studieren wohl Naturgeschichte und Anthropologie, aber keine Soziologie, sondern leisten gedankenlos unseren bürgerlichen Ideologen Heeresfolge. So kommen sie zu ihren Trugschlüssen.

Der Geschlechtstrieb ist bei dem Menschen perennierend, er ist sein stärkster Trieb, der Befriedigung verlangt, soll seine Gesundheit nicht leiden. Auch ist dieser Trieb in der Regel um so stärker, je gesunder und normaler entwickelt der Mensch ist, gleichwie ein guter Appetit und eine gute Verdauung einen gesunden Magen anzeigen und die Grundbedingungen für einen gesunden Körper sind. Aber Befriedigung des Geschlechtstriebs und Empfängnis sind nicht dasselbe. Über die Fruchtbarkeit des Menschengeschlechts sind die verschiedensten Theorien aufgestellt worden. Im ganzen tappen wir in diesen hochwichtigen Fragen noch im dunklen, und zwar hauptsächlich, weil viele Jahrhunderte lang die unsinnigste Scheu bestand, sich mit den Gesetzen der Entstehung und Entwicklung des Menschen zu beschäftigen, die Gesetze der Zeugung und Entwicklung gründlich zu studieren. Das wird erst allmählich anders und muß noch viel anders werden.

Von der einen Seite wird die Theorie aufgestellt, daß höhere geistige Entwicklung und starke geistige Beschäftigung, überhaupt höhere Nerventätigkeit, auf den Geschlechtstrieb reprimierend einwirke und die Zeugungsfähigkeit abschwäche. Von der anderen wird das bestritten. Man weist auf die Tatsache hin, daß die besser situierten Klassen durchschnittlich weniger Kinder besäßen und dies nicht bloß Präventivmaßregeln zuzuschreiben sei. Sicher wirkt stark anstrengende geistige Beschäftigung auf den Geschlechtstrieb reprimierend, aber daß diese Beschäftigung von der Mehrheit unserer besitzenden Klasse geübt wird, darf man bestreiten. Andererseits wirkt ein Übermaß physischer Anstrengung ebenfalls reprimierend. Aber jedes Übermaß von Anstrengung ist schädlich und aus diesem Grunde zu verwerfen.

Andere behaupten, die Lebensweise, insbesondere die Nahrung, bestimme, neben gewissen physischen Zuständen auf seiten der Frau, die Zeugungsfähigkeit und Empfänglichkeit. Entsprechende Nahrung beeinflusse, wie auch bei Tieren sich zeige, mehr als alles andere die Wirkung des Zeugungsaktes. Hier dürfte in der Tat die Entscheidung liegen. Welchen Einfluß die Art der Ernährung auf den Organismus gewisser Tiere ausübt, ist in überraschender Weise bei den Bienen konstatiert worden, die durch Darreichung einer besonderen Nahrung sich beliebig eine Königin züchten. Die Bienen sind also in der Kenntnis ihrer Geschlechtsentwicklung weiter als die Menschen. Vermutlich hat man ihnen nicht ein paar tausend Jahre lang gepredigt, daß es »unanständig« und »unsittlich« sei, sich um geschlechtliche Dinge zu bekümmern.

Bekannt ist ferner, daß Pflanzen, in gutem Boden und fett gedüngt, wohl üppig gedeihen, aber keinen Samen ergeben. Daß auch beim Menschen die Art der Nahrung auf die Zusammensetzung des männlichen Samens wie auf die Befruchtungsfähigkeit des weiblichen Eies einwirkt, kann kaum einem Zweifel unterliegen, und so dürfte wohl in hohem Grade von der Art der Ernährung die Vermehrungsfähigkeit der Bevölkerung abhängen. Andere Faktoren, die in ihrer Natur noch wenig bekannt sind, spielen ebenfalls eine Rolle.

In der Bevölkerungsfrage ist in Zukunft eins von ausschlaggebender Bedeutung. Das ist die höhere, freiere Stellung, die alsdann unsere Frauen ohne Ausnahme einnehmen. Intelligente und energische Frauen haben – von Ausnahmen abgesehen – in der Regel keine Neigung, einer größeren Anzahl Kinder, als einer »Schickung Gottes«, das Leben zu geben und die besten Lebensjahre im Schwangerschaftszustande oder mit dem Kinde an der Brust zu verbringen. Diese Abneigung gegen zahlreiche Kinder, welche sogar schon gegenwärtig die meisten Frauen hegen, durfte sich ungeachtet aller Vorsorge, die eine sozialistische Gesellschaft den Schwangeren und Müttern widmet, eher verstärken als vermindern und liegt hierin unseres Erachtens die große Wahrscheinlichkeit, daß in der sozialistischen Gesellschaft die Bevölkerungsvermehrung langsamer als in der bürgerlichen vor sich gehen wird.

Unsere Malthusianer haben wahrlich keinen Grund, sich wegen der Vermehrung der Menschheit in Zukunft die Köpfe zu zerbrechen. Bis jetzt sind Völker wohl durch Rückgang ihrer Kopfzahl zugrunde gegangen, aber niemals durch ihre Überzahl. Schließlich vollzieht sich die Regulierung der Volkszahl in einer naturgemäß lebenden Gesellschaft ohne schädliche Enthaltsamkeit und ohne widernatürlichen Präventivverkehr. Karl Marx wird auch hier für die Zukunft recht behalten; seine Auffassung, jede ökonomische Entwicklungsperiode habe ihr besonderes Bevölkerungsgesetz, wird sich auch unter der Herrschaft des Sozialismus bewahrheiten.

In einer Schrift »Die künstliche Beschränkung der Kinderzahl« vertritt H. Ferdy die Auffassung: Die Sozialdemokratie bezwecke durch ihre Opposition gegen den Malthusianismus ein Schelmenstück. Die rasche Volksvermehrung begünstige die Massenproletarisierung und diese fördere die Unzufriedenheit. Gelänge es, der Übervölkerung Herr zu werden, dann sei es mit der Ausbreitung der Sozialdemokratie zu Ende und ihr sozialdemokratischer Staat sei mit all seiner Herrlichkeit für immer begraben. Hier haben wir zu den vielen anderen ein neues Mittel, mit dem man die Sozialdemokratie tötet, den Malthusianismus Die großartige Unwissenheit des Sozialistentöters Ferdy in bezug auf die Sozialdemokratie geht am besten aus folgenden Sätzen hervor, die er sich Seite 40 seiner Schrift leistet: »Die Sozialdemokratie wird in ihren Forderungen weitergehen als die Neo-Malthusianer. Sie wird verlangen, daß der Minimallohn so bemessen werde, daß jeder Arbeiter die nach dem gesellschaftlichen Nahrungsstand mögliche Kinderzahl erzeugen kann.... Sobald einmal die letzten Konsequenzen der Sozialdemokratie gezogen und das Privateigentum aufgehoben wäre, da würde alsbald auch der Einfältigste sich sagen: Warum sollte ich wohl länger und härter arbeiten müssen, nur weil es meinem Nachbar beliebt, ein Dutzend neuer Mitglieder in die Gesellschaft hineinzustoßen?« Man sollte doch erst das Abc des Sozialismus kennen, ehe man sich anmaßt, über ihn zu schreiben, und noch dazu ungereimtes Zeug. .

Unter denjenigen, die an der Furcht vor Übervölkerung leiden, und deshalb Einschränkung der Eheschließungs- und der Niederlassungsfreiheit namentlich für die Arbeiter fordern, befindet sich auch Professor Dr. Adolf Wagner. Er klagt, die Arbeiter heirateten im Vergleich zur Mittelklasse zu früh. Er wie andere mit den gleichen Ansichten übersehen nur, daß die männlichen Angehörigen der Mittelklasse erst im höheren Alter zu einer Lebensstellung gelangen, die ihnen eine standesgemäße Ehe zu schließen ermöglicht. Für diese Entsagung halten sie sich aber bei der Prostitution schadlos. Erschwert man auch den Arbeitern die Ehe, so verweist man sie auf denselben Weg. Man klage dann aber auch nicht über die Konsequenzen und schreie nicht über »den Verfall von Sitte und Moral«. Auch empöre man sich nicht, wenn Männer und Frauen, da letztere die gleichen Triebe haben wie die Männer, in illegitimen Verbindungen leben, um ihren Naturtrieb zu befriedigen und Scharen unehelicher Kinder »als Gesäte« Stadt und Land bevölkern. Die Ansichten der Wagner und Genossen widersprechen aber auch den Interessen der Bourgeoisie und unserer wirtschaftlichen Entwicklung, die möglichst zahlreiche Hände nötig hat, um Arbeitskräfte zu besitzen, die sie auf dem Weltmarkt konkurrenzfähig machen. Mit kleinlichen, der kurzsichtigsten Philisterei und Rückwärtserei entsprungenen Vorschlägen heilt man nicht die Übel der Zeit. Keine Klasse, keine Staatsgewalt ist am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts mehr stark genug, die natürliche Entwicklung der Gesellschaft zurückhalten oder eindämmen zu können. Jeder Versuch endet mit einem Mißerfolg. Der Strom der Entwicklung ist so stark, daß er jedes Hindernis überrennt. Nicht rückwärts, sondern vorwärts heißt die Losung und ein Geprellter ist, wer noch an Hemmung glaubt.

Die Menschheit wird in der sozialistischen Gesellschaft, in der sie erst wirklich frei und auf ihre natürliche Basis gestellt ist, ihre Entwicklung mit Bewußtsein lenken. In allen bisherigen Epochen handelte sie in bezug auf Produktion und Verteilung wie auf Bevölkerungsvermehrung ohne Kenntnis ihrer Gesetze, also unbewußt; in der neuen Gesellschaft wird sie mit Kenntnis der Gesetze ihrer eigenen Entwicklung bewußt und planmäßig handeln.

Der Sozialismus ist die auf allen Gebieten menschlicher Tätigkeit angewandte Wissenschaft.


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