August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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4. Das Wachstum der Prostitution. Uneheliche Mütter

Die Zahl der Prostituierten läßt sich schwer schätzen, genau gar nicht angeben. Die Polizei kann annähernd die Zahl derjenigen feststellen, deren hauptsächlichster Erwerb die Prostitution ist, sie vermag dies aber nicht von der viel größeren Zahl jener, die sie als teilweisen Erwerb benutzen. Immerhin sind die annähernd bekannten Zahlen erschreckend hoch. Nach von Öttingen wurde schon Ende der sechziger Jahre die Zahl der Prostituierten in London auf 80.000 geschätzt. In Paris belief sich die Zahl der eingeschriebenen Prostituierten am 1. Januar 1906 auf 6.196, aber von diesen entzieht sich mehr als ein Drittel der polizeiärztlichen Kontrolle.

In ganz Paris gab es 1892 zirka 60 Bordelle mit 600 bis 700 Prostituierten, im Jahre 1900 42. Diese Zahl ist beständig in der Abnahme begriffen (im Jahre 1852 gab es 217 Bordelle). Dagegen ist die Zahl der heimlichen Prostituierten viel größer geworden. Auf Grund einer Untersuchung, die im Jahre 1889 der Munizipalrat von Paris veranstaltete, ist die Zahl der Frauen, die sich prostituieren, auf die enorme Ziffer von 120.000 angegeben. Der Polizeipräfekt von Paris, Léfrine, schätzt die Zahl der eingeschriebenen auf 6.000 durchschnittlich und bis 70.000 heimliche Prostituierte. Im Laufe der Jahre 1871 bis 1903 hat die Polizei 725.000 Dirnen sistiert und 150.000 wurden ins Gefängnis gesteckt. Im Jahre 1906 betrug die Zahl der Sistierten nicht weniger als 56.196 Dr. Sicard de Plauzoles, La fonction sexuelle. S. 67. Paris 1908. .

In Berlin betrug die Zahl der bei der Polizei eingeschriebenen Prostituierten: 1886 3.006, 1890 4.039, 1893 4.663, 1897 5.098, 1899 4.544, 1905 3.287.

Im Jahre 1890 waren sechs Ärzte angestellt, die täglich jeder zwei Stunden Untersuchungen vorzunehmen hatten. Seitdem wurde die Zahl der Ärzte auf zwölf vermehrt, auch ist seit einigen Jahren gegen den Widerspruch vieler männlicher Ärzte für diese Untersuchungen ein weiblicher Arzt angestellt worden. Die polizeilich eingeschriebenen Prostituierten bilden auch in Berlin nur einen sehr kleinen Bruchteil der Prostituierten, die von sachkundiger Seite auf mindestens 50.000 geschätzt werden. (Andere, wie Lesser, rechnen 24.000 bis 25.000 und Raumer 30.000.) Es gab im Jahre 1890 allein in Berliner Schanklokalen 2.022 Kellnerinnen, die fast sämtlich sich der Prostitution ergaben. Auch zeigt die von Jahr zu Jahr gestiegene Zahl der wegen Übertretung der sittenpolizeilichen Vorschriften sistierten Dirnen, daß die Prostitution in Berlin stetig im Wachsen ist. Die Zahl dieser Sistierten betrug im Jahre 1881 10.878, 1890 16.605, 1896 26.703, 1897 22.915. Von den im Jahre 1897 sistierten Dirnen wurden 17.018 dem Amtsrichter zur Aburteilung vorgeführt – es kamen demnach auf jeden Gerichtstag zirka 57.

Wie groß ist die Zahl der Prostituierten in ganz Deutschland? Manche behaupten, daß diese Zahl auf ungefähr 200.000 sich belaufen dürfte. Ströhmberg schätzt die Zahl der öffentlichen und geheimen Prostituierten Deutschlands auf 92.200 oder zwischen 75.000 und 100.000. Kamillo K. Schneider machte im Jahre 1908 den Versuch, die Zahl der eingeschriebenen Prostituierten genau zu ermitteln. Seine Tabelle umfaßt für das Jahr 1905 79 Städte. »Da große Orte, in denen eine bedeutendere Zahl Mädchen noch zu erwarten wäre, nicht fehlen, so glaube er, würde mit 15.000 die Gesamtzahl ziemlich genau angegeben sein. Das ergibt im Durchschnitt bei einer Einwohnerzahl von rund 60.600.000 eine Eingeschriebene auf 4.040 Einwohner.« In Berlin kommt eine Prostituierte auf 608, in Breslau 514, Hannover 529, Kiel 527, Danzig 487, Köln 369, Braunschweig 363 Einwohner. Die Zahl der kontrollierten Prostituierten geht konstant zurück Kamillo Karl Schneider, Die Prostituierte und die Gesellschaft. Eine soziologisch-ethische Studie. S. 40 bis 41, 188 bis 189. Leipzig 1908. . Nach verschiedenen Rechnungen verhält sich die Zahl der offiziellen Prostituierten zur Zahl der heimlichen wie 1 zu 5 bis 10. Man hat es also mit einer großen Armee zu tun, welche die Prostitution als Lebensunterhalt betrachtet, und dementsprechend ist die Zahl der Opfer, die Krankheit und Tod erfordert Auf 1.000 Mitglieder der Berliner Gewerkskrankenkasse kamen Erkrankungen an

  Gonorrhöe Weicher Schanker Syphilis
männl. weibl. männl. weibl. männl. weibl.
1892 – 1895 34,6 9,8 8,8 1,5 10,2 7,7
1896 – 1900 42,4 8,4 11,9 1,6 12,1 4,5
1901 – 1902 45,8 9,7 13,0 2,0 15,9 7,0
.

Daß die Überzahl der Prostituierten ihre Lebensweise herzlich satt hat, ja dieselbe sie anekelt, ist eine Erfahrung, die alle Sachverständigen zugeben. Doch einmal der Prostitution verfallen, bietet sich für die wenigsten Gelegenheit, sich aus derselben zu retten. Der Hamburger Zweigverein der britischen, kontinentalen und allgemeinen Förderation veranstaltete 1899 eine Enquete unter den Prostituierten. Obgleich nur wenige die gestellten Fragen beantworteten, sind diese doch sehr charakteristisch. Auf die Frage: Würden Sie dieses Gewerbe beibehalten, wenn Sie sich anders ernähren könnten? antwortete eine: Was soll man anfangen, wenn einen die Menschen alle verachten? Eine andere antwortete: Ich habe vom Krankenhaus aus um Hilfe gebeten. Eine dritte: Mein Freund hat mich dadurch ausgelöst, daß er meine Schulden bezahlte. Unter der Schuldsklaverei der Bordellwirte leiden alle. Eine teilt mit, daß sie ihrer Wirtin 700 Mark schulde. Kleider, Wäsche, Putzgegenstände, alles liefere der Wirt zu horrenden Preisen, ebenso wird ihnen Essen und Trinken zu den höchsten Preisen angerechnet. Außerdem haben sie noch einen bestimmten Satz pro Tag für Wohnung an den Wirt abzugeben. Diese Miete beläuft sich auf 6, 8, 10 Mark und mehr für den Tag; eine schreibt, sie haben ihrem Louis täglich 20 bis 25 Mark zu bezahlen. Ohne daß die Schulden bezahlt werden, entläßt sie kein Wirt; auch werden in den Aussagen allerlei Streiflichter auf das Verhalten der Polizei geworfen, die mehr auf Seite der Wirte als der hilflosen Mädchen steht. Kurz, wir haben hier mitten in der christlichen Zivilisation eine Sklaverei schlimmster Art. Und um ihre Standesinteressen besser wahren zu können, gründeten sogar die Bordellwirte ein Fachorgan, das einen internationalen Charakter trägt.

Die Zahl der Prostituierten wächst in dem Maße, wie die Zahl der Frauen wächst, die in den verschiedensten Industrie- und Gewerbezweigen als Arbeiterinnen beschäftigt und oft mit Löhnen abgefunden werden, die zum Sterben zu hoch, zum Leben zu niedrig sind. Die Prostitution wird gefördert durch die in der bürgerlichen Welt zur Notwendigkeit gewordenen industriellen Krisen, die Not und Elend in Hunderttausende von Familien tragen. Nach einem Briefe des Oberkonstablers Bolton an einen Fabrikinspektor vom 31. Oktober 1865 hatte sich während der englischen Baumwollkrise, hervorgerufen durch den nordamerikanischen Sklavenbefreiungskrieg, die Zahl der jungen Prostituierten mehr als in den letzten 25 Jahren vermehrt Karl Marx, Das Kapital. 2. Auflage, 1. Band, S. 480. . Aber nicht nur fallen die Arbeiterinnen der Prostitution zum Opfer, diese findet auch in den »höheren Berufen« ihr Rekrutierungsgebiet. Lombroso und Ferrero zitieren Macé A.a.O., S. 458. , der von Paris sagt, »daß das Gouvernantenzeugnis höheren oder niederen Grades weniger eine Anweisung auf Brot, als auf Selbstmord, Diebstahl und Prostitution ist«.

Parent-Duchatelet hat seinerzeit eine Statistik aufgestellt, nach der unter 5.183 Prostituierten sich 1.441 befanden, die aus Mangel und Elend sich prostituierten, 1.255 waren eltern- und mittellos, 86 prostituierten sich, um arme Eltern, Geschwister oder Kinder zu ernähren, 1.425 waren von ihren Liebhabern verlassene Konkubinen, 404 waren von Offizieren und Soldaten verführte und nach Paris verschleppte Mädchen, 289 waren durch den Hausherrn verführte und entlassene Dienstmädchen, 280 übersiedelten nach Paris, um dort einen Broterwerb zu finden.

Mrs. Butler, die so eifrige Vorkämpferin für die Ärmsten und Elendesten ihres Geschlechts, sagt: »Zufällige Umstände, der Tod eines Vaters, einer Mutter, Arbeitslosigkeit, unzulänglicher Lohn, Elend, trügerische Versprechungen, Verführung, gestellte Netze haben sie ins Verderben geführt.« Sehr lehrreich sind die Mitteilungen, die Karl Schneidt in einer Broschüre »Das Kellnerinnenelend in Berlin« Berlin 1893, Moderner Verlag. über die Ursachen macht, die jene der Prostitution so häufig in die Arme führen. Auffallend sei die große Zahl der Dienstmädchen, die Kellnerinnen und das heiße fast immer Prostituierte würden. In den Antworten, die Schneidt auf seine Fragebogen an die Kellnerinnen empfing, heißt es zum Beispiel: »Weil ich von meinem Herrn ein Kind bekam und verdienen mußte.« Andere geben an: »Weil mir mein Buch verdorben wurde«, wieder andere: »Weil mit Hemdennähen und dergleichen zu wenig verdient wird«, oder: »Weil ich als Arbeiterin, aus der Fabrik entlassen, keine Arbeit mehr bekam«, oder: »Weil der Vater gestorben und noch vier kleine Geschwister da waren.« Daß besonders Dienstmädchen, nachdem sie der Verführung ihrer Dienstherren zum Opfer fielen, ein großes Kontingent zu den Prostituierten stellen, ist bekannt. Über die auffällig große Zahl der Verführungen von Dienstmädchen durch ihre Dienstherren oder deren Söhne äußert sich sehr anklagend Dr. Max Taube in einer Schrift Dr. med. Max Taube, Der Schutz der unehelichen Kinder. Leipzig 1893, Veit & Komp. . Aber auch die höheren Klassen liefern ihr Kontingent zur Prostitution, nur ist es nicht die Not, sondern Verführung und Neigung zu einem leichtfertigen Leben, zu Putz und Vergnügungen. Darüber heißt es in einer Schrift »Die gefallenen Mädchen und die Sittenpolizei« Berlin 1889, Wilh. Ißleib (Gustav Schuhr). :

Starr vor Schreck, vor Entsetzen, hört so mancher brave Bürger, so mancher Pastor, Lehrer, hochgestellte Beamte und hochgestellte Militär unter anderem, daß seine Tochter heimlich sich der Prostitution ergeben hat, und wäre es statthaft, alle diese Töchter namhaft zu machen, es müßte dann entweder eine soziale Revolution vor sich gehen, oder die Begriffe von Ehre und Tugend im Volke würden schweren Schaden leiden

Es sind namentlich die feineren Prostituierten, die Hautevolee unter ihnen, die sich aus diesen Kreisen rekrutieren. Auch ein großer Teil der Schauspielerinnen, deren Garderobekosten zu ihrem Gehalt im krassesten Mißverhältnis stehen In seiner Schrift »Kapital und Presse«, Berlin 1891 konstatiert Dr. F. Mehring, daß eine nicht unbefähigte Schauspielerin an einem sehr bekannten Theater mit 100 Mark monatlicher Gage angestellt war, daß aber ihre Ausgaben allein für Garderobe in einem Monat sich auf 1.000 Mark beliefen. Das Defizit deckte ein »Freund«. , ist auf eine solche schmutzige Erwerbsquelle angewiesen. Das gleiche gilt von zahlreichen Mädchen, die sich als Verkäuferinnen und dergleichen vermieten. Es gibt auch Unternehmer in Menge, die ehrlos genug sind, mit dem Hinweis auf die Unterstützung durch »Freunde« die Niedrigkeit des Lohnes zu rechtfertigen.

Näherinnen, Schneiderinnen, Modistinnen, Fabrikarbeiterinnen, in der Kopfzahl von Hunderttausenden, befinden sich in ähnlicher Lage. Arbeitgeber und ihre Beamte, Kaufleute, Gutsbesitzer usw. betrachten es häufig als eine Art Privilegium, weibliche Arbeiter und Bedienstete ihren Lüsten dienstbar zu sehen. Unsere frommen Konservativen lieben es, die Verhältnisse auf dem Lande in sittlicher Beziehung als eine Art Idylle gegenüber den Großstädten und Industriebezirken auszuspielen. Wer die Verhältnisse kennt, weiß, daß sie das nicht sind. Das bestätigt auch ein Vortrag, den ein Rittergutsbesitzer im Herbst 1889 hielt, über den sächsische Blätter also berichteten:

»Grimma. Der Rittergutsbesitzer Dr. v. Wächter auf Röcknitz hat kürzlich in einer Diözesanversammlung, welche hierselbst stattfand, einen Vortrag gehalten über die geschlechtliche Unsittlichkeit in unseren Landgemeinden und dabei die hiesigen Verhältnisse nicht gerade rosig geschildert. Mit großer Offenheit erkannte der Vortragende bei dieser Gelegenheit an, daß vielfach auch die Arbeitgeber, selbst die verheirateten, mit ihrem weiblichen Gesinde in sehr intimen Beziehungen stehen, deren Folgen dann entweder durch Zahlung an Geld beglichen oder durch ein Verbrechen dem Auge der Welt entzogen würden. Leider dürfe man es sich nicht verhehlen, daß die Unsittlichkeit in den Landgemeinden nicht allein durch Mädchen, die als Ammen in der Stadt das Gift in sich aufgenommen haben, und durch Burschen, die es beim Militärdienst kennengelernt, großgezogen wurde, sondern daß leider auch durch die gebildeten Kreise, durch Verwalter auf den Rittergütern und durch Offiziere bei Gelegenheit der Truppenübungen die Sittenlosigkeit auch auf das Land hinausgetragen werde. Wie Herr Dr. v. Wächter mitteilte, soll es tatsächlich hier auf dem Lande nur wenig Mädchen geben, die 17 Jahre alt werden, ohne gefallen zu sein.« Der offenherzige Vortragende hat seine Wahrheitsliebe mit einem gesellschaftlichen Boykott beantwortet bekommen, den die sich beleidigt fühlende Offizierswelt über ihn verhängte. Ähnlich erging es dem Pastor Wagner in Pritzerbe in der Mark, der in seiner Schrift »Die Sittlichkeit auf dem Lande« den Herren Großgrundbesitzern unangenehme Wahrheiten sagte Auf Anregung des Pastors Wagner wurde auf der Konferenz der Sittlichkeitsvereine vom 20. September 1894 eine Enquete beschlossen. Die Resultate sind veröffentlicht in einem zweibändigen Werk: Die geschlechtlich-sittlichen Verhältnisse der evangelischen Landbewohner im Deutschen Reiche. 1895 bis 1896. .


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