August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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Siebenundzwanzigstes Kapitel
Freie Entwicklung der Persönlichkeit

1. Die Sorglosigkeit der Existenz

Der Mensch soll sich vollständig ausbilden können, das soll der Zweck menschlicher Vergesellschaftung sein, er darf also auch nicht an die Scholle gebunden bleiben, auf die ihn der Zufall der Geburt setzte. Menschen und Welt soll man nicht nur aus Büchern und Zeitungen kennenlernen, dazu gehört auch persönliche Anschauung und praktisches Studium. Die künftige Gesellschaft muß also allen ermöglichen, was bereits vielen in der heutigen möglich ist, wenn auch in den meisten Fällen der Zwang der Not den Antrieb verursacht. Das Bedürfnis nach Veränderung in allen Lebensbeziehungen ist der menschlichen Natur tief eingeprägt. Dieses entspringt dem Triebe zur Vervollkommnung, der jedem lebenden Wesen immanent ist. Die Pflanze, die im dunklen Raume steht, streckt und reckt sich, als habe sie Bewußtsein, nach dem Lichte, das durch irgendeine Luke fällt. So der Mensch. Ein Trieb, der dem Menschen eingeboren ist, muß in vernünftiger Weise befriedigt werden. Dem Triebe nach Veränderung steht der Zustand der neuen Gesellschaft nicht entgegen, sie macht vielmehr erst allen die Befriedigung dieses Triebes möglich. Ihre aufs höchste entwickelten Verkehrsbeziehungen erleichtern dieses, die internationalen Beziehungen fordern es heraus. Es werden künftig weit mehr Menschen für die verschiedensten Zwecke die Welt durchreisen, als dies bisher der Fall war.

Die Gesellschaft bedarf ferner reichlicher Vorräte an Lebensbedürfnissen aller Art, um allen Ansprüchen zu genügen. Die Gesellschaft reguliert dementsprechend ihre Arbeitszeit nach Bedürfnis; sie macht sie bald länger, bald kürzer, wie ihre Ansprüche und die Natur der Jahreszeit dies wünschenswert erscheinen lassen. Sie wird sich in der einen Jahreszeit hauptsächlich auf landwirtschaftliche, in der anderen mehr auf industrielle und kunstgewerbliche Produktion werfen; sie dirigiert die Arbeitskräfte, wie es das Bedürfnis erfordert: sie kann durch Kombinierung zahlreiche Arbeitskräfte mit den vollkommensten technischen Einrichtungen Unternehmungen spielend ausführen, die heute unmöglich scheinen.

Wie die Gesellschaft für ihre Jugend die Sorge übernimmt, so auch für ihre Alten, Kranken und Invaliden. Wer durch irgendeinen Umstand arbeitsunfähig geworden ist, für diesen tritt die Gesamtheit ein. Es handelt sich hierbei nicht um einen Akt der Wohltätigkeit, sondern der Pflicht, nicht um Gnadenbrocken, sondern um eine von jeder möglichen Rücksicht getragene Verpflegung und Hilfe, die demjenigen zuteil werden muß, der in den Jahren der Kraft und der Leistungsfähigkeit gegen die Gesamtheit seine Pflichten erfüllte. Der Lebensabend wird dem Alter mit allem verschönt, was die Gesellschaft ihm bieten kann. Trägt doch jeder sich mit der Hoffnung, einst selbst zu genießen, was er dem Alter gewährt. Jetzt stört nicht die Alten der Gedanke, daß andere ihren Tod erwarten, um zu erben. Auch die Befürchtung ist verschwunden, daß sie, wenn alt und hilflos geworden, wie eine ausgepreßte Zitrone beiseite geworfen werden. Sie sind weder auf die Mildtätigkeit und Unterstützung ihrer Kinder, noch auf die Bettelpfennige der Gemeinde angewiesen »Der Mensch, welcher sein Leben lang rechtlich und in angestrengter Tätigkeit bis zum Greisenalter verbracht hatte, soll in seinem Alter weder von der Gnade seiner Kinder, noch der bürgerlichen Gesellschaft leben. Ein unabhängiges, sorgenfreies und müheloses Alter ist der naturgemäßeste Lohn für die unausgesetzten Anstrengungen in den Tagen der Kraft und Gesundheit.« v. Thünen, Der isolierte Staat. Aber wie sieht's in der bürgerlichen Gesellschaft aus?. Millionen sehen mit Grauen der Zeit entgegen, wo sie, alt geworden, aufs Pflaster geworfen werden. Und unser Industriesystem macht die Menschen frühzeitig alt. Die vielberühmte Alters- und Invalidenversorgung im Deutschen Reiche gewährt nur einen sehr dürftigen Ersatz, das geben selbst ihre eifrigsten Verteidiger zu. Ihre Hilfeleistungen sind noch viel unzulänglicher als die Pensionen, welche die Gemeinwesen der großen Mehrzahl der pensionierten Beamten gewähren. . In welcher Lage die meisten Eltern sich befinden, die auf die Unterstützung ihrer Kinder im Alter angewiesen sind, ist eine zu bekannte Tatsache. Und wie demoralisierend wirkt in der Regel auf die Kinder, und in noch höherem Grade auf die Verwandten, die Hoffnung, erben zu können. Welche niedrigen Leidenschaften werden geweckt und wie viel Verbrechen werden gerade hierdurch hervorgerufen. Mord, Unterschlagung, Erbschleicherei, Meineid, Erpressung.

Der moralische und physische Zustand der Gesellschaft, ihre Arbeits-, Wohn-, Nahrungs-, Kleidungsweise, ihr geselliges Leben, alles wird dazu beitragen, Unglücksfälle, Erkrankungen und Siechtum möglichst zu verhüten. Der natürliche Tod, das Absterben der Lebenskräfte, wird dann mehr und mehr zur Regel werden. Die Überzeugung, daß der Himmel auf Erden ist und gestorben sein zu Ende sein heißt, wird die Menschen veranlassen, vernünftig zu leben. Am meisten genießt, wer lang genießt. Langes Leben weiß gerade die Geistlichkeit, welche die Menschen auf das »Jenseits« vorbereitet, am besten zu schätzen. Die Sorglosigkeit ihrer Existenz ermöglicht ihr, das höchste Durchschnittslebensalter zu erreichen.


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