August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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In Belgien, in dem der Ultramontanismus weite Volkskreise noch fast unbeschränkt beherrscht, sieht ein Teil der katholischen Geistlichkeit in der Gewährung des Stimmrechtes an die Frauen eine wirksame Waffe gegen die Sozialdemokratie, weshalb sie dasselbe fordert. Auch in Deutschland haben einzelne konservative Abgeordnete, so oft im Reichstag die Sozialdemokratie die Forderung der Gewährung des Frauenstimmrechtes stellte, sich mit der Motivierung dafür erklärt, daß sie in demselben eine Waffe gegen die Sozialdemokratie erblicken. Ohne Zweifel haben diese Ansichten bei der noch vorhandenen politischen Unwissenheit der Frauen und bei der Macht, die namentlich die Geistlichkeit auf sie ausübt, etwas für sich. Aber das ist kein Grund, ihnen das Stimmrecht zu verweigern. Es gibt gegenwärtig auch noch Millionen Arbeiter, die wider ihr Klasseninteresse Vertreter bürgerlicher und kirchlicher Parteien wählen und damit ihre politische Unmündigkeit beweisen, ohne daß man aus diesem Grunde ihnen das Stimmrecht nehmen will. Die Stimmrechtsvorenthaltung oder der Stimmrechtsraub wird nicht praktiziert, weil man die Unwissenheit der Massen – einschließlich der Frauen – fürchtet, denn was diese sind, das haben die herrschenden Klassen aus ihnen gemacht, sondern weil man fürchtet, sie möchten allmählich klug werden und gingen dann ihre eigenen Wege.

Einstweilen war man in einzelnen deutschen Staaten noch so rückständig, daß man den Frauen nicht einmal das politische Vereinsrecht gestattete. In Preußen, Bayern, Braunschweig und einer Reihe anderer deutscher Staaten durften sie keine politischen Vereine bilden, in Preußen durften sie nicht einmal an Festlichkeiten politischer Vereine teilnehmen, wie das Oberverwaltungsgericht noch 1901 ausdrücklich entschied. Der Rektor der Berliner Universität beging sogar im Herbst 1901 die für unmöglich gehaltene Gemackloskigkeit, zu verbieten, daß eine Frau im sozialwissenschaftlichen Studentenverein einen Vortrag hielt. Auch verbot in demselben Jahre die Braunschweiger Polizei Frauen die Teilnahme an den Verhandlungen des evangelisch-sozialen Kongresses. Daß der preußische Minister des Innern sich im Jahre 1902 gnädigst bereit erklärte, Frauen das Recht des Zuhörens in Versammlungen politischer Vereine zu gewähren, vorausgesetzt, daß sie, ähnlich wie die jüdischen Frauen in der Synagoge, in einem besonderen Abteil des Saales Platz nehmen, charakterisiert die Kleinlichkeit unserer öffentlichen Zustände. Noch im Februar 1904 konnte Posadowsky im Reichstag feierlich erklären: »Von der Politik sollen die Frauen die Hand weglassen.« Der bisherige Zustand wurde selbst den bürgerlichen Parteien unbequem. Hat doch die proletarische Frauenbewegung die Hindernisse des Vereinsrechtes am besten überwunden. Und da brachte endlich das neue Reichsvereinsgesetz vom 19. April 1908 – es ist die einzige Verbesserung, die als wesentlich bezeichnet werden kann – die Herstellung der Gleichberechtigung der Frauen im Vereins- und Versammlungsleben.

Mit dem aktiven muß natürlich das passive Wahlrecht verbunden sein. »Eine Frau auf der Tribüne des Reichstags, das müßte sich schön machen«, hören wir rufen. Tatsächlich stehen sie schon in anderen Staaten auf den Parlamentstribünen, auch haben wir uns längst gewöhnt, Frauen bei ihren Kongressen und in Versammlungen aller Art auf der Tribüne zu sehen. In Nordamerika erscheinen sie auch auf der Kanzel und auf der Geschworenenbank, warum also nicht auch auf der Tribüne des Reichstags? Die erste Frau, die in den Reichstag kommt, weiß zu imponieren. Als die ersten Arbeiter in denselben traten, glaubte man auch über sie witzeln zu können und behauptete, die Arbeiter würden bald einsehen, welche Torheit sie begingen, solche Leute zu wählen. Aber ihre Vertreter wußten sich schnell Respekt zu verschaffen, und jetzt fürchtet, man, daß es ihrer zu viele werden möchten. Frivole Witzlinge wenden ein: »Aber stellt euch eine schwangere Frau auf der Tribüne des Reichstags vor, wie unästhetisch!« Dieselben Herren finden es aber in der Ordnung, daß schwangere Frauen bei den unästhetischsten Beschäftigungen Verwendung finden, bei welchen Frauenwürde, Anstand und Gesundheit untergraben werden. Der Mann ist ein elender Wicht, der über eine schwangere Frau zu witzeln vermag. Der bloße Gedanke, daß einst seine eigene Mutter so ausgesehen, bevor sie in die Welt ihn setzte, müßte ihm die Schamröte auf die Wangen treiben, und der andere Gedanke, daß er, der rohe Spötter selbst, von einem ähnlichen Zustand seiner Frau die Gewährung seiner höchsten Wünsche erwartet, sollte ihn beschämt zum Verstummen bringen »Die Hälfte der weiblichen Abgeordneten Finnlands sind Mütter respektive Ehefrauen.... Von den verehelichten sozialdemokratischen Volksvertreterinnen wurden drei während der bisherigen Landtagstätigkeit Mütter, und zwar ohne andere störende Folgen, als daß dieselben den Sitzungen einige Wochen fernblieben. Ihre Schwangerschaft während der parlamentarischen Tätigkeit wurde allgemein als etwas Natürliches aufgefaßt, war also weder etwas Wunderbares noch Aufsehenerregendes. Man könnte viel eher davon sprechen, daß dieser Umstand auf die Versammlung erzieherisch gewirkt hat. Was nun die parlamentarische Arbeit der Frauen im engeren Sinne anlangt, so sei betont, daß auch sie seitens ihrer Parteien in die Spezialkommissionen gewählt wurden. Und dies ist der Beweis dafür, daß die Parteien von der Arbeitsfähigkeit der Frauen überzeugt waren. In der Kommission für die Arbeiterangelegenheiten, wo die Gesetze für den Arbeiterschutz, Arbeiterversicherung und das neue Gewerbegesetz ausgearbeitet wurden, befanden sich neben zwölf Männern auch vier Frauen, und drei Frauen waren zu Stellvertreterinnen gewählt worden. In die Kommission für Gesetze wie auch in die für die Verfassung waren je zwei Frauen als ordentliche Glieder und je eine als Stellvertreterin gewählt worden. Und die Frauen haben in den Ausschüssen ihre Plätze redlich behauptet.« Fräulein H. Pärssinen, Mitglied des Landtags von Finnland, Das Frauenstimmrecht und die Beteiligung der Frauen an den parlamentarischen Arbeiten in Finnland. »Dokumente des Fortschritts« 1909, Juli, S. 542 bis 548. .

Eine Frau, die Kinder gebiert, leistet dem Gemeinwesen mindestens denselben Dienst wie ein Mann, der gegen einen eroberungssüchtigen Feind Land und Herd mit seinem Leben verteidigt; sie gebiert und erzieht auch den späteren Mann, dessen Leben leider nur zu oft auf dem sogenannten »Felde der Ehre« verblutet. Außerdem: Das Leben der Frau steht in jedem Mutterschaftsfalle auf dem Spiele; alle unsere Mütter haben bei unserer Geburt dem Tode ins Angesicht geblickt, und viele von ihnen sind dem Akt erlegen. »Übertrifft doch zum Beispiel in Preußen die Zahl der im Kindbett gestorbenen Frauen – darunter befinden sich die Opfer des Kindbettfiebers – die Verluste an Typhus ganz erheblich. Es starben an Typhus 1905 und 1906 je 0,73 und 0,62, im Kindbett aber 2,13 und 1,97 auf 10.000 lebende Frauen berechnet. Wie würden sich die Verhältnisse gestaltet haben – bemerkt mit Recht Professor Herff –, wenn Männer in gleicher Zahl diesen Leiden ausgesetzt wären? Würde nicht alles in Bewegung gesetzt werden?« Professor Dr. Otto v. Herff, Im Kampfe gegen das Kindbettfieber. S. 266. Leipzig 1908. Die Zahl der Frauen, die infolge von Geburten sterben oder siechen, ist weit größer als die Zahl der Männer, die auf dem Schlachtfeld fallen oder verwundet werden. Vom Jahre 1816 bis 1876 fielen in Preußen nicht weniger als 321.791 Frauen allein dem Kindbettfieber zum Opfer – durchschnittlich pro Jahr 5.363. In England betrug die Zahl der Frauen, die im Kindbett gestorben sind, vom Jahre 1847 bis 1901 213.533, und es sterben, trotz aller hygienischen Maßnahmen, nicht weniger als 4.000 jährlich W. Williams, Deaths in Childbed. S. 6 bis 7. London 1904. .

Das ist eine weit größere Zahl, als innerhalb derselben Zeit in den verschiedenen Kriegen Männer getötet wurden oder an ihren Wunden starben. Und zu dieser enorm großen Zahl am Kindbettfieber gestorbener Frauen kommt die weit größere Zahl derjenigen, die infolge eines Wochenbetts dauernd siechen oder frühzeitig sterben »Auf jede Frau, welche heute im Kindbett stirbt, müssen wir fünfzehn bis zwanzig rechnen, welche mehr oder weniger schwer infiziert werden und Störungen der Unterleibsorgane und der allgemeinen Gesundheit davontragen, an denen sie häufig ihr ganzes Leben kränkeln.« Frau Dr. med. H. B. Adams, Das Frauenbuch. 1. Band, S. 363. Stuttgart 1894, Süddeutsches Verlagsinstitut. . Auch aus diesem Grunde hat die Frau Anspruch auf volle Gleichberechtigung mit dem Manne. Dies muß namentlich denen gesagt werden, die die Vaterlandsverteidigungspflicht des Mannes als ein bevorzugtes Moment gegen die Frau geltend machen. Zudem leisten die meisten Männer, infolge unserer militärischen Einrichtungen, diese Pflicht nicht einmal, sie steht für die Mehrzahl nur auf dem Papier.

Alle diese oberflächlichen Einwendungen gegen eine öffentliche Tätigkeit der Frau wären undenkbar, wäre das Verhältnis der beiden Geschlechter ein natürliches und bestände nicht ein künstlich großgezogener Antagonismus zwischen den Geschlechtern. Trennt man doch beide schon von Jugend an im gesellschaftlichen Verkehr und in der Erziehung. Insbesondere ist es der dem Christentum geschuldete Antagonismus, der beständig die Geschlechter auseinander und eins über das andere in Unwissenheit erhält, was freieren geselligen Verkehr, gegenseitiges Vertrauen und gegenseitige Ergänzung der Charaktereigenschaften verhindert Verweigerten doch im Jahre des Heils 1902 die Gemeindevertreter von Neuß a. Rhein einen Zuschuß zu einer öffentlichen Badeanstalt, weil es die Sittlichkeit nicht fördern könne, wenn Knaben, nur mit einem Badehöschen bekleidet, ihre nackten Körper gegenseitig sähen! .

Eine der ersten und wichtigsten Aufgaben einer vernünftig organisierten Gesellschaft muß sein, diesen unheilvollen Zwiespalt aufzuheben und die Natur in ihre Rechte einzusetzen. Die Unnatur beginnt schon in der Schule. Einmal Trennung der Geschlechter, dann verkehrten oder keinen Unterricht in dem, was den Menschen als Geschlechtswesen betrifft. Zwar wird in jeder leidlich guten Schule heute Naturgeschichte gelehrt: das Kind erfährt, daß die Vögel Eier legen und sie ausbrüten; es erfährt auch, wann die Paarungszeit beginnt, daß Männchen und Weibchen dazu notwendig sind, daß beide den Nestbau, das Brütegeschäft und die Pflege der Jungen übernehmen. Es erfährt ferner, daß die Säugetiere lebendige Junge gebären; es hört von der Brunstzeit und dem Kampfe der Männchen um die Weibchen während derselben; es erfährt auch die gewöhnliche Zahl der Jungen, vielleicht auch die Trächtigkeitszeit der Weibchen. Aber über die Entstehung und Entwicklung seines eigenen Geschlechts bleibt es im dunkeln, das wird in geheimnisvollen Schleier gehüllt. Wenn alsdann das Kind seine natürliche Wißbegierde durch Fragen an die Eltern, namentlich an die Mutter – an den Lehrer wagt es sich nicht – zu befriedigen sucht, werden die albernsten Märchen ihm aufgebunden, die es nicht zufriedenstellen können und eine um so üblere Wirkung erzielen, wenn es eines Tages dennoch die Natur seines Ursprungs erfährt. Es wird wenig Kinder geben, die bis zum zwölften Jahre diese nicht erfahren haben. Dazu kommt, daß in jeder kleinen Stadt, und insbesondere auf dem Lande, die Kinder schon von frühester Jugend an die Paarung des Federviehs, die Begattung der Haustiere aus nächster, unmittelbarster Nähe auf dem Hofe, der Straße, beim Austreiben des Viehs usw. beobachten. Sie hören, daß die Befriedigung der Brunst, ebenso wie der Akt der Geburt, bei den verschiedenen Haustieren seitens der Eltern, des Gesindes und der älteren Geschwister mit der ungeniertesten Gründlichkeit zum Gegenstand wichtiger Diskussionen gemacht wird. Das alles erweckt Zweifel bei dem Kinde über die elterliche Darstellung seines eigenen Eintritts in das Leben. Schließlich kommt doch der Tag der Erkenntnis, aber in anderer Weise, als er bei natürlicher und vernünftiger Erziehung gekommen wäre. Das Geheimnis des Kindes trägt zur Entfremdung zwischen Kind und Eltern, namentlich zwischen Kind und Mutter bei. Man erreicht das Gegenteil von dem, was man in Unvernunft und Kurzsichtigkeit erreichen wollte. Wer an seine eigene Kindheit denkt und an die seiner Jugendgenossen, weiß, was häufig die Folgen sind.

Eine amerikanische Frau Womanhood, Its Sanctities and Fidelities by Isabella Becher-Hooker, Boston, Lee and Shepard, Publishers. New York 1874, Lee, Shepard and Dillingham. teilt in einer Schrift unter anderem mit, daß sie, um die fortgesetzten Fragen ihres achtjährigen Sohnes nach seiner Herkunft zu befriedigen, und weil sie Märchen ihm nicht habe aufbinden wollen, ihm seinen wahren Ursprung entdeckte. Das Kind habe ihr mit größter Aufmerksamkeit zugehört und habe von jenem Tage, an dem es erfahren, welche Sorgen und Schmerzen es seiner Mutter bereitete, mit einer bis dahin ungekannten Zärtlichkeit und Hochachtung an ihr gehangen, und habe diese auch auf andere Frauen übertragen. Die Verfasserin geht von der richtigen Anschauung aus, daß nur durch natürliche Erziehung eine wesentliche Besserung, namentlich eine größere Achtung und Selbstbeherrschung des männlichen Geschlechts gegen das weibliche zu erwarten sei. Wer vorurteilsfrei denkt, wird zu keinem anderen Schlusse kommen. –

Von welchem Punkte man immer bei der Kritik unserer Zustände ausgeht, man kommt schließlich stets wieder darauf zurück: eine gründliche Umgestaltung unserer sozialen Zustände und durch sie eine gründliche Umgestaltung in der Stellung der Geschlechter ist notwendig. Die Frau muß, um rascher zum Ziele zu kommen, sich nach Bundesgenossen umsehen, die ihr naturgemäß in der Proletarierbewegung begegnen. Das klassenbewußte Proletariat hat schon seit geraumer Zeit den Sturm auf die Festung, den Klassenstaat, der auch die Herrschaft des einen über das andere Geschlecht aufrechterhält, begonnen. Die Festung muß mit Laufgräben von allen Seiten umgeben und durch Geschütze jeden Kalibers zur Übergabe gezwungen werden. Die belagernde Armee findet ihre Offiziere und die geeigneten Waffen auf allen Seiten. Die Sozialwissenschaft und die Naturwissenschaften, die Geschichtsforschung, die Pädagogik, die Hygiene und Statistik liefern der Bewegung Munition und Waffen. Die Philosophie bleibt nicht zurück und kündigt, in Mainländers »Philosophie der Erlösung«, die baldige Verwirklichung des »Idealstaats« an.

Die Eroberung des Klassenstaats und seine Umgestaltung wird erleichtert durch die Spaltung in den Reihen seiner Verteidiger, die, bei aller Interessengemeinschaft gegen den gemeinsamen Feind, im Kampfe um die Beute sich gegenseitig bekämpfen. Das Interesse der einen Schicht steht dem Interesse der anderen gegenüber. Was ferner uns nützt, ist die täglich wachsende Meuterei in den Reihen der Feinde, deren Kämpfer zu einem großen Teil Bein von unserem Bein, Fleisch von unserem Fleisch sind, die aber aus Mißverstand und irregeleitet bisher gegen uns und sich selbst kämpften, aber immer mehr zur Einsicht gelangen und sich uns anschließen. Ferner hilft uns die Desertion der ehrlichen, zur Einsicht gekommenen Männer aus den Reihen der bisher feindlichen Denker, die ihr höheres Wissen, ihre bessere Einsicht anspornt, sich über ihr niederes Klasseninteresse zu erheben und, indem sie ihrem idealen Drange nach Gerechtigkeit folgen, sich den nach Befreiung lechzenden Massen anschließen. Vielen ist das Stadium der Zersetzung, in dem Staat und Gesellschaft sich bereits befinden, noch nicht zum Bewußtsein gekommen, und so ist auch diese Darlegung notwendig.


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