August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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Wie wenig die polizeiärztliche Kontrolle nützt, dafür liefert England ein schlagendes Beispiel. Vor Beginn der gesetzlichen Reglementierung im Jahre 1867 betrugen die Fälle von geschlechtlichen Infektionskrankheiten beim Militär laut Armeebericht 91 pro 1.000. Im Jahre 1886, also nach neunzehnjährigem Bestand der Reglementierung, 110 pro 1.000, aber im Jahre 1892, sechs Jahre nach Aufhebung der Reglementierung, nur 79 pro 1.000. In der Zivilbevölkerung betrugen in den Jahren 1879 bis 1882 – also während der Reglementierung – die Fälle von Syphilis 10 pro 1.000, in den Jahren 1885 bis 1889, also nach Aufhebung derselben, 8,1 pro 1.000.

Auf die der Untersuchung unterworfenen Prostituierten wirkte aber das Gesetz ganz anders als auf die Truppen: 1866 kamen auf je 1.000 Prostituierte 121 Erkrankungen, 1868, als das Gesetz zwei Jahre bestanden hatte, 202, sie sanken dann allmählich, sie überschritten aber 1874 immer noch um 16 Fälle die Zahl von 1866. Auch die Todesfälle bei den Prostituierten vermehrten sich unter der Herrschaft des Gesetzes erschreckend. 1865 betrugen diese auf 1.000 Prostituierte 9,8 dagegen im Jahre 1874 23. Als gegen Ende der sechziger Jahre die englische Regierung den Versuch machte, die Untersuchungsakte auf alle englischen Städte auszudehnen, erhob sich ein Sturm der Entrüstung in der englischen Frauenwelt. Sie betrachteten das Gesetz als eine Beleidigung für das ganze Geschlecht. Die Habeaskorpusakte, jenes Grundgesetz, hieß es, das den englischen Bürger vor den Übergriffen der Polizei schütze, solle für die Frauen aufgehoben sein; es solle jedem rohen, rachsüchtigen oder von anderen niederen Motiven getriebenen Polizeibeamten gestattet sein, die ehrbarste Frau anzugreifen, wenn er gegen sie den Verdacht habe, eine Prostituierte zu sein, wohingegen die Zügellosigkeit der Männer unbehelligt bleibe, ja durch das Gesetz geschützt und genährt würde.

Obgleich dieses Eintreten der englischen Frauen, unter der Führung der Josephine Butler, für den Auswurf ihres Geschlechts sie Mißdeutungen und herabwürdigenden Bemerkungen beschränkter Männer aussetzte, lehnten sie sich mit großer Energie gegen die Einführung desselben auf. In Zeitungsartikeln und Broschüren wurde das »Für« und »Wider« erörtert und seine Ausdehnung verhindert, dem 1886 die Aufhebung folgte Die zuverlässigsten Helfer der Frauen waren die englischen Arbeiter. »Wir beschlossen«, so schreibt Josephine Butler in ihrer berühmten Schrift »Zur Geschichte eines Kreuzzugs«, »die Nation anzurufen. Schon im Herbst 1869 hatten wir an jedes Parlamentsmitglied beider Häuser und an viele andere Führer weltlicher und kirchlicher Parteien persönlich geschrieben. Von all den Antworten, die wir auf diese Briefe erhielten, äußerten sich einige wenige völlig zustimmend.... Da uns von den Kreisen, auf deren Interesse an der Sache wir zunächst gehofft hatten, eine so geringe Ermutigung zuteil wurde, wandten wir uns an die Arbeiterbevölkerung des Landes. Hier kam man uns ganz anders entgegen. Ich bin mir wohl bewußt, daß die arbeitenden Klassen ihre Fehler haben und ebensowenig wie andere Volksschichten frei von Egoismus sind; aber die Überzeugung steht bei mir unerschütterlich fest, daß das Volk, sobald es im Namen der Gerechtigkeit angerufen wird, fast immer eine loyale und zuverlässige Gesinnung beweist.« Zitiert bei P. Kampffmeyer, a.a.O., S. 69. .

Die deutsche Polizei besitzt eine ähnliche Gewalt, und häufige in die Öffentlichkeit gedrungene Fälle aus Berlin, Leipzig, Köln, Hannover und vielen anderen Orten beweisen, daß Mißbrauch oder »Mißverständnisse« leicht sind bei Ausübung dieser Gewalt, aber man vernimmt bei uns wenig von einer energischen Opposition gegen solche Befugnisse »Im Jahre 1901 wurde in Wien eine Französin unter dem Gejohle der Menge von dem Polizeiagenten Neuhofer mißhandelt, in das Gefängnis zu Dirnen geworfen und gewaltsam ärztlich untersucht. Fünf Interpellationen provozierte dieser Fall im Reichsrat. Im Jahre 1902 wurden in Hamburg und Kiel Damen unter dem Verdacht der Prostitution verhaftet und zum Teil roh behandelt. Diese Fälle führten am 8. September zu einer riesigen Demonstrationsversammlung in Hamburg, die von Mitgliedern aller Parteien besucht war.« P. Kampffmeyer, a.a.O., S. 66. . Sogar im kleinbürgerlichen Norwegen wurden 1884 die Bordelle verboten und 1888 in der Hauptstadt Christiania die zwangsweise Eintragung der Prostituierten und die damit verbundene Untersuchung aufgehoben. Im Januar 1893 wurde die gleiche Verordnung für das ganze Land erlassen. Sehr richtig sagt Frau Guillaume-Schack mit Bezug auf die »Schutzmaßregeln« des Staates für die Männer: »Wozu lehren wir unsere Söhne Tugend und Sitte achten, wenn der Staat die Unsittlichkeit als ein notwendiges Übel erklärt? Wenn er dem jungen Manne, ehe er überhaupt noch zu geistiger Reife gelangt ist, die Frau von der Obrigkeit zur Ware gestempelt als ein Spielzeug seiner Leidenschaft zuführt?«

Mag ein geschlechtlich kranker Mann in seiner Zügellosigkeit noch so viele dieser armen Wesen anstecken, die meist aus bitterer Not oder durch Verführung dieses schmachvolle Handwerk treiben, der räudige Mann bleibt unbehelligt, aber wehe der kranken Prostituierten, die sich nicht sofort ärztlicher Behandlung unterworfen hat. Die Garnisons- und Universitätsstädte, Seestädte usw. mit ihrer Anhäufung kräftiger, gesunder Männer sind die Hauptherde der Prostitution und ihrer gefährlichen Krankheiten, die von hier in die entferntesten Winkel des Landes getragen werden und überall Verderben verbreiten. Wie moralisch qualifiziert ein großer Teil unserer Studierenden ist, darüber äußert sich das »Korrespondenzblatt zur Bekämpfung der öffentlichen Sittenlosigkeit« 15. August 1893. Berlin. also: »Im weitaus größten Teile der Studentenschaft sind heute die Anschauungen über sittliche Dinge erschreckend niedrig, ja geradezu verlumpt.« Und aus diesen Kreisen, die sich mit ihrem Deutschtum und »deutscher Sitte« brüsten, rekrutieren sich unsere Verwaltungsbeamten, unsere Staatsanwälte und Richter.

Wie schlimm die Zustände speziell unter der Studentenschaft geworden sein müssen, geht daraus hervor, daß im Herbst 1901 eine größere Anzahl Professoren und Ärzte, darunter die ersten Namen des Faches, sich in einem Aufruf an die deutsche Studentenschaft wandten, indem sie nachdrücklich auf die traurigen Folgen geschlechtlicher Ausschweifungen aufmerksam machten und auch vor dem Übermaß des Alkoholgenusses warnten, der in so vielen Fällen stimulierend auf geschlechtliche Ausschweifungen wirkt. Man begreift endlich, daß es mit dem Vertuschen nicht mehr geht, sondern daß man die Dinge beim rechten Namen nennen muß, um einigermaßen unabsehbarem Unheil zu steuern. Auch in anderen Klassen darf man sich diese Mahnungen zu Herzen nehmen.

»Du sollst für die Sünde heimgesucht werden an deinen Nachkommen bis ins dritte und vierte Glied.« Dieser Ausspruch der Bibel trifft den ausschweifenden geschlechtskranken Menschen in vollstem Sinne des Wortes, leider auch die unschuldige Ehefrau. »Die Schlaganfälle jugendlicher Männer und auch Frauen, Formen von Rückenmarksschwindsucht und Gehirnerweichung, Nervenleiden verschiedener Art, Sehstörungen, Knochenfraß und Darmentzündung, Sterilität und Siechtum beruhen vielfach auf nichts anderem, als veralteter, verkannter, aus naheliegenden Gründen mit Stillschweigen übergangener Syphilis.... Wie die Sache jetzt liegt, so führen Ignoranz und Leichtsinn dazu, aus blühenden Töchtern des Landes sieche, lebenswelke Geschöpfe zu machen, die unter der Last ihrer chronischen Beckenentzündungen für die vor- und außerehelichen Extravaganzen ihrer Gatten büßen müssen« Die gesundheitsschädliche Tragweite der Prostitution. Von Dr. Oskar Lassar. Berlin 1892, August Hirschwald. . Und Dr. A. Blaschko sagt u. a.: »Epidemien wie Cholera und Pocken, Diphtheritis und Typhus, deren vorhandene Wirkung in ihrer Plötzlichkeit sich einem jeden unmittelbar aufdrängt, sind, obwohl sie an Bösartigkeit der Syphilis kaum gleich, an Verbreitung sich mit ihr entfernt nicht vergleichen lassen, der Schrecken der Bevölkerung.... Der Syphilis hingegen steht die Gesellschaft mit, man möchte sagen erschreckender Gleichgültigkeit gegenüber« Die Behandlung der Geschlechtskrankheiten in Krankenkassen und Heilanstalten. Berlin 1890, Fischers Medizinische Buchhandlung. . Die Schuld liegt daran, daß es für »unanständig« gehalten wird, über solche Dinge öffentlich zu sprechen. Hat doch nicht einmal der deutsche Reichstag sich entschließen können, im Gesetz dafür zu sorgen, daß Geschlechtskranke gleich anderen Kranken durch die Krankenkassen behandelt werden müssen Diese Bestimmung des Krankenversicherungsgesetzes (§ 6a), welche die Gemeinden ermöglichte, zu beschließen, daß bei Erkrankungen durch geschlechtliche Ausschweifung das Krankengeld überhaupt nicht oder nur teilweise gewährt werde, ist durch die Novelle vom 25. Mai 1903 beseitigt worden, die mit dem 1. Januar 1904 in Kraft getreten ist. .

Das syphilitische Gift ist in seiner Wirkung das zäheste und am schwersten ausrottbare aller Gifte. Viele Jahre, nachdem eine Krankheit überstanden ist und der Genesene jede Spur vernichtet wähnt, zeigen sich häufig die Folgen bei der Frau in der Ehe oder bei den Neugeborenen, und ein Heer von Krankheiten bei Ehefrauen und Kindern verdankt ehemännlichen, beziehungsweise elterlichen Geschlechtskrankheiten seinen Ursprung. In einer Petition, die der Verein Jugendschutz im Herbst 1899 an den Reichstag richtete, wird angegeben, daß in Deutschland zirka 30.000 Kinder infolge von Ansteckung durch Gonorrhöe (Tripper) von Geburt erblindet seien und daß bei 50 Prozent der kinderlosen Ehefrauen dieselbe Ursache ihre Unfruchtbarkeit verschuldete Unter den Insassen der Blindenanstalten waren nämlich erblindet durch Infektion bei der Geburt in Berlin 21,3, Wien 31, Breslau 35,1, Budapest 47,9, München 73,8. Th. Weyl, Soziale Hygiene. S. 62. Jena 1904. . Tatsächlich ist es erschreckend, wie groß die Zahl der kinderlosen Ehen ist, und dieselben nehmen zu. Auch schwachsinnige oder blödsinnige Kinder haben häufig ihr Gebrechen derselben Ursache zuzuschreiben, und was für Unheil durch ein winziges Tröpfchen syphilitischen Blutes bei der Pockenimpfung angerichtet werden kann, dafür gibt es krasse Beispiele.

Die große Zahl der an Geschlechtskrankheiten Leidenden hat wiederholt Anregungen veranlaßt, ein Reichsgesetz zu erlassen, das speziell die Behandlung Geschlechtskranker vorschreibt. Bis jetzt hat man sich zu einem solchen Schritte noch nicht entschließen können, wahrscheinlich aus Furcht vor der Größe der dann zutage tretenden Übel. In den fachmännischen Kreisen ist man allgemein zu der Überzeugung gekommen, daß der früher als harmlos angesehene Tripper mit die gefährlichste Krankheitserscheinung ist. Scheinbar geheilt wirkt derselbe im menschlichen Körper fort, so daß, wie Dr. Blaschko in einem Vortrag in Berlin am 20. Februar 1898 mitteilte, bei den sittenpolizeilichen Untersuchungen in Berlin nur ein Viertel bis höchstens ein Drittel der tripperkranken Prostituierten als solche erkannt werden. Tatsächlich ist aber der weitaus überwiegende Teil der Prostituierten tripperkrank, was also bei der Kontrolle nur bei einem kleinen Bruchteil festgestellt wird. Und da von diesem letzteren wiederum nur ein kleiner Teil geheilt wird, so befindet sich die Gesellschaft hier einem Übel gegenüber, für das sie vorläufig kein Heilmittel hat, das aber namentlich den weiblichen Teil der Bevölkerung mit schweren Gefahren bedroht.


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