August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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Dreizehntes Kapitel
Die Erwerbsstellung der Frau

1. Entwicklung und Verbreitung der Frauenarbeit

Das Streben der Frau nach selbständigem Erwerb und persönlicher Unabhängigkeit wird bis zu einem gewissen Grade von der bürgerlichen Gesellschaft als berechtigt anerkannt, ähnlich wie das Bestreben der Arbeiter nach freier Bewegung. Der Hauptgrund für dieses Entgegenkommen liegt in dem Klasseninteresse der Bourgeoisie. Die Bourgeoisie braucht die volle Freigabe der männlichen und weiblichen Arbeitskräfte, um die Produktion aufs höchste entwickeln zu können. In dem Maße, wie Maschinerie und Technik sich vervollkommnen, der Arbeitsprozeß in immer mehr Einzelverrichtungen sich teilt und geringere technische Ausbildung und Kraft erfordert, andererseits die Konkurrenz der Industriellen untereinander und der Konkurrenzkampf ganzer Produktionsgebiete – Land gegen Land, Erdteil gegen Erdteil – sich steigert, wird die Arbeitskraft der Frau immer mehr gesucht.

Die speziellen Ursachen, die zu dieser stets steigenden Anwendung der Frau in einer stets steigenden Anzahl von Erwerbszweigen führen, sind schon oben ausführlicher dargelegt worden. Die Frau findet neben dem Manne oder an seiner Stelle auch immer häufiger Beschäftigung, weil ihre materiellen Forderungen geringer sind als jene des Mannes. Ein aus ihrer Natur als Geschlechtswesen hervorgehender Umstand zwingt sie, sich billiger anzubieten; sie ist durchschnittlich öfter als der Mann körperlichen Störungen unterworfen, die eine Unterbrechung der Arbeit herbeiführen und bei der Kombination und Organisation der Arbeitskräfte, die in der Großindustrie besteht, leicht Arbeitsunterbrechungen erzeugen. Schwangerschaft und Wochenbett verlängern solche Pausen Nach den vom Fabrikinspektor Schuler angefertigten Listen zahlreicher Krankenkassen bezifferte sich die Zahl der jährlich auf den Kopf fallenden Krankheitstage für die weiblichen Krankenkassenmitglieder auf 7,17, für die männlichen nur auf 4,78. Die Dauer der einzelnen Erkrankungen betrug bei den weiblichen Mitgliedern 24,8, bei den männlichen 21,2 Tage. O. Schwarz, Die Folgen der Beschäftigung verheirateter Frauen in Fabriken vom Standpunkt der öffentlichen Gesundheitspflege. Deutsche Vierteljahreshefte für öffentliche Gesundheitspflege 1903. 35. Band, S. 424. . Der Unternehmer nutzt diesen Umstand aus und findet für die Unannehmlichkeiten, die er aus solchen Störungen hat, einen doppelten Ersatz in der Zahlung erheblich geringerer Löhne. Auch ist die Frau an den Ort ihres Aufenthaltes oder dessen nächste Umgebung gebunden; sie kann nicht, wie in den meisten Fällen der Männer, ihren Aufenthaltsort wechseln.

Weiter hat die Arbeit, namentlich der verheirateten Frauen – wie aus dem Zitat auf aus Marx' »Kapital« zu ersehen ist –, noch ihren besonderen Anreiz für den Unternehmer. Als Arbeiterin ist die verheiratete Frau »viel aufmerksamer und gelehriger« als die unverheiratete; die Rücksicht auf ihre Kinder nötigt sie zur äußersten Anstrengung ihrer Kräfte, um den notwendigsten Lebensunterhalt zu erwerben, und so läßt sie sich manches bieten, was sich die unverheiratete Frau nicht bieten läßt und erst recht nicht der Arbeiter. Im allgemeinen wagt die Arbeiterin noch selten, sich mit ihren Arbeitsgenossen zur Erlangung besserer Arbeitsbedingungen zu verbinden. Auch das erhöht in den Augen des Unternehmers ihren Wert; oft bildet sie sogar in seinen Händen einen guten Trumpf gegen widerspenstige männliche Arbeiter; sie besitzt ferner größere Geduld, gewandtere Fingerfertigkeit, einen entwickelteren Geschmackssinn, Eigenschaften, die sie für eine Menge Arbeiten geschickter machen als den Mann.

Diese weiblichen Tugenden weiß der tugendhafte Kapitalist voll zu würdigen, und so findet die Frau mit der Entwicklung unserer Industrie von Jahr zu Jahr ein immer größeres Anwendungsgebiet, aber – und das ist das Entscheidende – ohne ihre soziale Lage merkbar zu verbessern. Wird weibliche Arbeitskraft angewandt, so setzt sie häufig männliche Arbeitskraft frei. Aber die verdrängte männliche Arbeitskraft will leben, sie bietet sich zu einem geringeren Lohn an, und dieses Angebot drückt wieder auf die Löhne der Arbeiterin. Das Herabdrücken des Lohnes wird zu einer Schraube, die durch die stets in der Umwälzung begriffene Technik des Arbeitsprozesses in Bewegung gesetzt wird, namentlich da dieser Umwälzungsprozeß auch weibliche Arbeiter, durch Ersparnis von Arbeitskräften, freisetzt, was abermals das Angebot von »Händen« vermehrt. Neu auftauchende Industriezweige wirken dieser beständigen Erzeugung von relativ überschüssiger Arbeitskraft einigermaßen entgegen, aber nicht stark genug, um dauernd bessere Arbeitsbedingungen zu erzielen. Wird doch in diesen Industrien, wie zum Beispiel in der elektrotechnischen, die männliche Arbeitskraft von der weiblichen verdrängt. So werden in der gesamten Kleinmotorenfabrik der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft die meisten Arbeitsmaschinen von Mädchen bedient. Jedes Steigen des Lohnes über ein gewisses Maß veranlaßt den Unternehmer, auf weitere Verbesserung seiner Maschinen zu sehen, die willenlose, automatische Maschine an Stelle von menschlichen Händen und menschlichem Hirn zu setzen. Im Beginn der kapitalistischen Produktion steht auf dem Arbeitsmarkt der männliche Arbeiter fast nur dem männlichen Arbeiter gegenüber, jetzt wird Geschlecht gegen Geschlecht und in der Reihe weiter Alter gegen Alter ausgespielt. Die Frau verdrängt den Mann, und die Frau wird wieder durch die Arbeit der jungen Leute und der Kinder verdrängt. Das ist die »sittliche Ordnung« in der modernen Industrie.

Dieser Zustand würde schließlich unerträglich, wirkte nicht die Macht der Organisation der Arbeiter in ihren Gewerkschaften demselben mit aller Macht entgegen. Diesen Organisationen sich anzuschließen, ist auch speziell für die Arbeiterin ein Gebot der Notwendigkeit, weil sie als einzelne noch weit weniger widerstandsfähig gegenüber dem Unternehmer ist als der Arbeiter. Allmählich begreifen das auch die Arbeiterinnen. So waren den freien Gewerkschaften angeschlossen in Deutschland 1892 4.355, 1899 19.280, 1900 22.884, 1905 74.411, 1907 136.929, 1908 138.443 In allen deutschen Gewerkschaften 168.111. . Im Jahre 1892 waren es nur 1,8 Prozent aller Mitglieder der Gewerkschaften, im Jahre 1908 7,6 Prozent. Nach dem fünften internationalen Bericht über die Gewerkschaftsbewegung betrug die Zahl der weiblichen Mitglieder in Großbritannien 201.709, Frankreich 88.906, Österreich 46.401.

Das Bestreben der Unternehmer, den Arbeitstag zu verlängern, um größeren Mehrwert aus ihren Arbeitern zu pumpen, wird durch die geringere Widerstandskraft der Arbeiterinnen erleichtert. Daher die Erscheinung, daß zum Beispiel in der Textilindustrie, in der die Frauen weit über die Hälfte der Gesamtzahl der Arbeitskräfte stellen, überall die Arbeitszeit am längsten ist, weshalb auch gerade hier der staatliche Schutz durch gesetzliche Beschränkung der Arbeitszeit einsetzen mußte. Durch die häusliche Tätigkeit daran gewöhnt, daß es für sie kein Zeitmaß für die Arbeit gibt, läßt sie die gesteigerten Anforderungen über sich ergehen, ohne Widerstand zu leisten.

In anderen Erwerbszweigen, wie der Putzmacherei, der Blumenfabrikation usw »Ganz besonders in den Konfektionsbetrieben. Aber auch in anderen Fabriken. So in den Sonneberger Spielwarenfabriken, in Wäschefabriken, Zigarettenfabriken, Schuhfabriken, Papierwarenfabriken.« R. Wilbrandt, Arbeiterinnenschutz und Heimarbeit, S. 84. Jena 1906. , verderben sie sich Löhne und Arbeitszeit dadurch, daß sie Extraarbeiten mit nach Hause nehmen und nicht beachten, daß sie dadurch nur sich selbst Konkurrenz machen und bei sechzehnstündiger Arbeitszeit nicht mehr verdienen, als sie bei geregelter zehnstündiger Arbeitszeit verdienen würden.

Welche Bedeutung die gewerbliche Beschäftigung des weiblichen Geschlechts in den verschiedenen Kulturstaaten erlangt hat, darüber gibt die folgende Tabelle Aufschluß. Sowohl in bezug auf die Erwerbstätigen nach dem Geschlecht als auch im Verhältnis zur Bevölkerung Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 2. Band, S. 832. 3. Auflage. F. Zahn, Beruf und Berufsstatistik. .

Die Erwerbstätigen unter der Bevölkerung

Staaten Zäh-
lungs-
jahr
Gesamtbevölkerung Erwerbstätige Erwerbstätige in
Prozent der
männlich weiblich überhaupt männlich weiblich überhaupt männl. weibl. Gesamt
Bevölkerung
Deutsches Reich 1907 30.461.100 31.259.429 61.720.529 18.599.236 9.492.881 28.092.117 61,1 30,4 45,5
Österreich 1900 12.852.693 13.298.015 26.150.708 8.257.294 5.850.158 14.107.452 64,2 44,0 53,9
Ungarn 1900 9.582.152 9.672.407 19.254.559 6.162.298 2.668.697 8.830.995 64,3 27,6 45,9
Rußland 1897 62.477.348 63.162.673 125.640.021 25.995.237 5.276.112 31.271.349 Ausschließlich der unselbständigen erwerbstätigen Angehörigen. 41,6 8,4 24,9
Italien 1901 16.155.130 16.320.123 32.475.253 10.988.462 5.284.064 16.272.526 68,0 32,4 50,1
Schweiz 1900 1.627.025 1.688.418 3.315.443 1.057.817 498.760 1.556.577 65,0 29,5 46,9
Frankreich 1901 18.916.889 19.533.899 38.450.788 12.910.565 6.804.510 19.715.075 68,2 34,8 51,3
Belgien 1900 3.324.834 3.368.714 6.693.548 2.123.072 948.229 3.071.301 63,8 28,1 45,9
Niederlande 1899 2.520.603 2.583.535 5.104.138 1.497.159 433.548 1.930.707 59,4 16,8 37,8
Dänemark 1901 1.193.448 1.256.092 2.449.540 752.559 353.980 1.106.539 63,1 28,2 45,2
Schweden 1900 2.506.436 2.630.005 5.136.441 1.422.979 551.021 1.974.000 56,8 21,0 38,4
Norwegen 1900 1.066.693 1.154.784 2.221.477 599.057 277.613 876.670 56,1 24,0 39,5
England und Wales 1901 15.728.613 16.799.230 32.527.843 10.156.976 4.171.751 14.328.727 64,6 24,8 44,1
Schottland 1901 2.173.755 2.298.348 4.472.103 1.391.188 591.624 1.982.812 64,0 25,8 44,3
Irland 1901 2.200.040 2.258.735 4.458.775 1.413.943 549.874 1.963.817 64,3 24,3 44,0
Großbritannien und Irland 1901 20.102.408 21.356.313 41.458.721 12.962.107 5.313.249 18.275.356 64,5 24,9 44,1
Ver. St. v. Amerika Diese Zahlen enthalten 91.219 Personen des Heeres und der Marine, die am Tage der Zählung außerhalb des Landes waren. 1900 39.059.242 37.244.145 76.303.387 23.956.115 5.329.807 29.285.922 61,3 14,3 38,4

Dieselbe Tabelle zeigt ferner, daß die Zahl der erwerbstätigen Frauen in allen Kulturstaaten einen sehr erheblichen Prozentsatz von der Gesamtbevölkerung in Anspruch nimmt. In Österreich, Frankreich und Italien am meisten – vermutlich liegt dieses, insbesondere für Österreich und Italien, an der Art der Zählung, insofern nicht nur die in einem Hauptberuf beschäftigten, sondern auch die im Nebenberuf beschäftigten weiblichen Personen gezählt wurden –, in den Vereinigten Staaten am geringsten. Wichtig ist aber auch ein Vergleich über das Wachstum der erwerbstätigen Bevölkerung zu früheren Perioden. Nehmen wir zuerst Deutschland.

Zählungs-
jahr
Gesamtbevölkerung Erwerbstätige Erwerbstätige
in Prozent der
Von 100 Erwerbstätigen waren
männlich weiblich männlich weiblich männl. weibl. männl. weibl.
Bevölkerung
1882 22.150.749 23.071.364 13.415.415 5.541.517 60,57 24,02 71,24 28,76
1895 25.409.161 26.361.123 15.531.841 6.578.350 61,13 24,96 70,25 29,75
1907 30.461.100 31.259.429 18.599.236 9.492.881 61,06 30,37 66,21 33,79

Die Tabelle ergibt, daß der Kreis der Erwerbstätigen weit über die Bevölkerungszunahme hinausgeht, daß das Zuströmen weiblicher Arbeitskräfte zur Erwerbsarbeit diesen Steigerungsgrad noch mehr überflügelt, daß die Zahl der männlichen erwerbstätigen Bevölkerung relativ stationär bleibt, indem die weibliche erwerbstätige Bevölkerung relativ und absolut wächst, daß die Frauenarbeit je weiter, desto mehr die männliche Arbeit verdrängt.

Die Zahl der Erwerbstätigen ist von 1882 bis 1895 um 16,6 Prozent und von 1895 bis 1907 um 19,34 Prozent gestiegen, und zwar die der erwerbstätigen Männer um 15,8 resp. 19,35 Prozent, die der erwerbstätigen Frauen aber um 18,7 Prozent von 1882 bis 1895 und um 44,44 Prozent von 1895 bis 1907! Da die Steigerung der Bevölkerung von 1882 bis 1895 nur 19.8 und von 1895 bis 1907 nur 19,34 Prozent betrug, so ist die Zahl der erwerbstätigen Personen überhaupt gewachsen, aber indem das Wachstum der Zahl der erwerbstätigen Männer relativ Schritt hielt mit dem Wachstum der Gesamtbevölkerung, ist die Zahl der weiblichen am stärksten gewachsen, was dafür spricht, daß der Kampf ums Dasein größere Anstrengungen als früher erfordert.


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