August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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5. Aufhebung des Gegensatzes zwischen Kopfarbeit und Handarbeit

Ein in der Menschennatur tief begründetes Bedürfnis ist das nach Freiheit der Wahl und die Möglichkeit der Abwechslung der Beschäftigung. Wie beständige Wiederholung schließlich die beste Speise widerlich macht, so ist es mit einer sich täglich tretmühlenartig wiederholenden Tätigkeit; sie stumpft ab und erschlafft. Der Mensch arbeitet nur mechanisch, was er muß, aber ohne höheren Schwung und Genuß. Es liegen in jedem Menschen eine Reihe von Fähigkeiten und Trieben, die nur geweckt und entwickelt zu werden brauchen, um, in Betätigung gesetzt, die schönsten Wirkungen zu erzeugen. Der Mensch wird jetzt erst ein vollkommener Mensch. Diesem Abwechslungsbedürfnis zu genügen, dazu wird die sozialistische Gesellschaft die vollste Gelegenheit bieten. Die gewaltige Steigerung der Produktivkräfte, verbunden mit immer größerer Vereinfachung des Arbeitsprozesses, ermöglicht nicht nur bedeutende Einschränkung der Arbeitszeit, sondern erleichtert auch die Erlernung der verschiedensten Fertigkeiten.

Das alte Lehrsystem hat sich bereits überlebt, es existiert nur noch und ist nur noch möglich in rückständigen, veralteten Produktionsformen, wie sie das Kleinhandwerk repräsentiert. Da aber dieses in der neuen Gesellschaft verschwindet, verschwinden damit auch alle ihm eigentümlichen Einrichtungen und Formen. Neue treten an ihre Stelle. Schon gegenwärtig zeigt jede Fabrik, wie wenig Arbeiter sie besitzt, die noch den handwerksmäßig erlernten Beruf verfolgen. Die Arbeiter gehören den verschiedensten Berufen an, meist genügt kurze Zeit, um sie für eine Teilarbeit einzuüben, in der sie dann, entsprechend dem herrschenden Ausbeutungssystem, bei langer Arbeitszeit, ohne Abwechslung und ohne Rücksicht auf ihre Neigung, angespannt sind und an der Maschine selbst zur Maschine werden »Die große Masse der Arbeiter hat in England, wie in den meisten anderen Ländern, so wenig freie Wahl bei ihrer Beschäftigung oder ihrem Aufenthalt, sie ist, praktisch genommen, so abhängig von festen Regeln und fremdem Willen, wie es nur bei irgendeinem System, mit Ausnahme wirklicher Sklaverei, sein kann.« John Stuart Mill, Politische Ökonomie. Hamburg 1864. . Auch dieser Zustand wird bei veränderter Organisation der Gesellschaft aufgehoben. Für Handfertigkeiten und kunstgewerbliche Übungen ist Zeit in Menge vorhanden. Große, mit allem Komfort, technisch aufs Vollendetste eingerichtete Lehrwerkstätten erleichtern Jungen und Alten die Erlernung einer Tätigkeit. Chemische und physikalische Laboratorien, entsprechend allen Anforderungen an den Stand dieser Wissenschaften, werden vorhanden sein und nicht minder ausreichende Lehrkräfte. Jetzt erst wird man kennenlernen, welch eine Welt von Trieben und Fähigkeiten das kapitalistische Produktionssystem unterdrückte oder in falscher Weise zur Entwicklung kommen ließ Ein französischer Arbeiter, aus San Franzisko heimkehrend, schreibt: »Ich hätte nie geglaubt, daß ich fähig wäre, alle die Gewerbe auszuüben, die ich in Kalifornien betrieben habe. Ich war fest überzeugt, daß ich außer der Buchdruckerei zu nichts gut sei.... Einmal in der Mitte dieser Welt von Abenteurern, welche ihr Handwerk leichter wechseln als ihr Hemd, meiner Treu! ich tat wie die anderen. Da das Geschäft der Minenarbeit sich nicht einträglich genug erwies, verließ ich es und zog in die Stadt, wo ich der Reihe nach Typograph, Dachdecker, Bleigießer usw. wurde. Infolge dieser Erfahrung, zu allen Arbeiten tauglich zu sein, fühle ich mich weniger als Molluske und mehr als Mensch.« Karl Marx, Das Kapital, 1. Band. .

Es besteht aber nicht nur die Möglichkeit, dem Abwechslungsbedürfnis Rechnung zu tragen, es muß der Zweck der Gesellschaft sein, seine Befriedigung zu verwirklichen, weil mit darauf die harmonische Ausbildung des Menschen beruht. Die Berufsphysiognomien, die heute unsere Gesellschaft aufweist – bestehe dieser Beruf in bestimmten einseitigen Leistungen irgendeiner Art oder in der Faulenzerei –, werden allmählich verschwinden. Es gibt gegenwärtig außerordentlich wenig Menschen, die eine Abwechslungsmöglichkeit in ihrer Tätigkeit besitzen. Manchmal finden sich durch besondere Verhältnisse Begünstigte, die sich dem Einerlei des Tagesberufs entziehen, und nachdem sie der physischen Arbeit ihren Tribut gezollt, sich bei geistiger erholen. Umgekehrt finden wir ab und zu geistig Arbeitende, die sich mit irgendeiner Handwerkstätigkeit, mit Gartenbau usw. beschäftigen. Die wohltätige Wirkung einer Tätigkeit, die auf der Abwechslung von geistiger und körperlicher Arbeit beruht, wird jeder Hygieniker bestätigen, sie allein ist naturgemäß. Voraussetzung ist, daß jede Tätigkeit mit Maß geübt wird und den individuellen Kräften entspricht.

In seiner Schrift »Die Bedeutung der Wissenschaft und der Kunst« geißelt Graf Leo Tolstoi den hypertrophischen und unnatürlichen Charakter, den bei der Unnatur unserer Gesellschaft Kunst und Wissenschaft angenommen haben. Er verurteilt aufs schärfste die Verachtung der physischen Arbeit, die in der heutigen Gesellschaft Platz gegriffen hat, und empfiehlt die Rückkehr zu natürlichen Verhältnissen. Es gelte für jeden Menschen, der naturgemäß und mit Genuß leben wolle, den Tag zu verbringen erstens mit körperlicher Arbeit im Ackerbau, zweitens mit handwerksmäßiger Arbeit, drittens mit geistiger Arbeit, viertens mit gebildetem geselligen Verkehr. Mehr als acht Stunden physische Arbeit sollte der Mensch nicht leisten. Tolstoi, der diese Lebensweise praktisch übt und seitdem er sie übt, wie er sagt, sich erst als Mensch fühlt, übersieht nur, daß, was für ihn, den unabhängigen Mann, möglich ist, für die große Masse der Menschen unter den heutigen Verhältnissen unmöglich ist. Ein Mensch, der täglich zehn bis zwölf und manchmal mehr Stunden schwer arbeiten muß, um die kümmerlichste Existenz sich zu sichern und in Unwissenheit erzogen wurde, kann sich die Tolstoische Lebensweise nicht verschaffen. Das können auch alle diejenigen nicht, die im Kampfe um die Existenz stehen und deren Anforderungen sich fügen müssen, und die wenigen, die es gleich Tolstoi könnten, haben in ihrer Mehrzahl kein Bedürfnis dazu. Es ist eine jener Illusionen, der Tolstoi sich hingibt, zu glauben, durch Predigt und Beispiel Gesellschaften umändern zu können. Die Erfahrungen, die Tolstoi mit seiner Lebensweise macht, beweisen, wie rationell sie ist, aber um diese Lebensweise als allgemeine Sitte einführen zu können, bedarf es anderer gesellschaftlicher Verhältnisse, einer neuen Gesellschaft.

Die künftige Gesellschaft wird diese Verhältnisse haben, sie wird Gelehrte und Künstler jeder Art in ungezählter Menge besitzen, aber jeder derselben wird einen Teil des Tages physisch arbeiten und in der übrigen Zeit nach Geschmack seinen Studien und Künsten und geselligem Umgang obliegen Was aus Menschen unter günstigen Entwicklungsbedingungen werden kann, sehen wir beispielsweise an Leonardo da Vinci, der ein ausgezeichneter Maler, berühmter Bildhauer, gesuchter Architekt und Ingenieur, ein vortrefflicher Kriegsbaumeister, Musiker und Improvisator war. Benvenuto Cellini war ein berühmter Goldschmied, ausgezeichneter Modelleur, guter Bildhauer, anerkannter Kriegsbaumeister, vortrefflicher Soldat und tüchtiger Musiker. Abraham Lincoln war Holzfäller, Ackerbauer, Bootsmann, Ladengehilfe und Advokat, bis er den Präsidentenstuhl der Vereinigten Staaten bestieg. Man kann ohne Übertreibung sagen, die meisten Menschen haben einen Beruf, der ihren Fähigkeiten nicht entspricht, weil nicht freier Wille, sondern Zwang der Verhältnisse ihnen die Bahn anwies. Mancher schlechte Professor würde als Schuhmacher sehr Tüchtiges leisten und mancher tüchtige Schuhmacher auch ein tüchtiger Professor sein. .

Der bestehende Gegensatz zwischen Kopfarbeit und Handarbeit, ein Gegensatz, den die herrschenden Klassen nach Möglichkeit verschärfen, um sich auch die geistigen Mittel zur Herrschaft zu sichern, wird also aufgehoben werden müssen.


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