August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Die Mehrzahl der Prostituierten wird diesem Gewerbe in einem Alter in die Arme getrieben, in dem sie kaum als urteilsfähig angesehen werden kann. »Von den in den Jahren 1878 bis 1887 in Paris arretierten heimlichen Prostituierten waren 12.615 = 46,7 Prozent minorenn, in den Jahren 1888 bis 1898 waren minorenn 14.072 = 48,8 Prozent. Eine ebenso lakonische wie traurige Zusammenfassung Le Pilleurs stellt für die Mehrzahl der Pariser Dirnen das Schema auf: defloriert mit 16 Jahren, prostituiert mit 17 Jahren, syphilitisch mit 18 Jahren Professor S. Bettmann, Die ärztliche Überwachung der Prostituierten. »Handbuch der sozialen Medizin«. 8. Band, S. 82. Jena 1905. . In Berlin fanden sich 1898 unter den 846 neu eingeschriebenen Prostituierten 229 Minderjährige, und zwar:

7 im Alter von 15 Jahren
21 im Alter von 16 Jahren
33 im Alter von 17 Jahren
59 im Alter von 18 Jahren
49 im Alter von 19 Jahren
66 im Alter von 20 Jahren S. Bettmann, a.a.O., S. 794.

Im September 1894 spielte sich in Budapest eine Skandalaffäre ersten Ranges ab, bei der sich herausstellte, daß an 400 zwölf bis fünfzehn Jahre alte Mädchen einer Schar reicher Wüstlinge zum Opfer fielen. Auch die Söhne unserer »besitzenden und gebildeten Klassen« sehen es vielfach als ein ihnen zustehendes Recht an, die Töchter des Volkes zu verführen, und lassen sie dann im Stiche. Nur zu leicht fallen die leicht vertrauenden, lebens- und erfahrungsunkundigen, meist freud- und freundlosen Töchter des Volkes der Verführung zum Opfer, die sich ihnen in glänzender, einschmeichelnder Gestalt naht. Enttäuschungen und Jammer und schließlich Verbrechen sind die Folge. Unter 2.060.973 im Jahre 1907 in Deutschland geborenen Kindern waren 179.178 unehelich geboren. Man stelle sich das Maß von Sorge und Herzeleid vor, das einem großen Teil dieser Mütter die Geburt ihres unehelichen Kindes bereitet, auch wenn man annimmt, daß später ein Teil dieser Kinder durch ihre Väter legitimiert wird. Die Frauenselbstmorde und Kindermorde sind vielfach in der Not und dem Elend verlassener Frauen zu suchen. Die Gerichtsverhandlungen wegen Kindsmorden geben darüber ein düsteres, lehrreiches Bild. So wurde im Herbst 1894 vom Schwurgericht in Krems (Niederösterreich) ein junges Mädchen, das acht Tage nach seiner Entbindung aus der Entbindungsanstalt in Wien mit seinem Kinde mittellos auf die Straße gestellt worden war und dieses in seiner Verzweiflung tötete, zum Tode mit dem Strange verurteilt. Von dem Schuft von Vater vernahm man nichts. Und im Frühjahr 1899 wurde aus Posen gemeldet: »Unter der Anklage des Mordes stand am Montag die 22jährige Arbeiterin Katharina Gorbacki aus Alexanderruh bei Neustadt a. W. vor dem Schwurgericht zu Posen. Die Angeklagte war in den Jahren 1897 und 1898 bei dem Probst Merkel in Neustadt bedienstet. Aus dem intimen Umgang mit jenem genas sie im Juni vorigen Jahres eines Mädchens, das bei Verwandten in Pflege gegeben wurde. Der Probst zahlte die beiden ersten Monate je 7½ Mark Kostgeld für das Kind, wollte aber anscheinend weitere Aufwendungen nicht machen, wenigstens stellte es die Gorbacki so dar. Da diese für das Kind die Wäsche waschen mußte, auch Ausgaben hatte, beschloß sie, das Kind zu beseitigen. Eines Sonntags im September vorigen Jahres erstickte sie das Kind in einem Kissen. Die Geschworenen erklärten sie der vorsätzlichen Tötung ohne Überlegung für schuldig und billigten mildernde Umstände zu. Der Staatsanwalt beantragte die höchste Strafe von fünf Jahren Gefängnis. Der Gerichtshof erkannte wegen Totschlags auf drei Jahre Gefängnis.« So greift das verführte, schmählich verlassene, in Verzweiflung und Schande hilflos gestoßene Weib zum Äußersten, es tötet seine Leibesfrucht, wird prozessiert und erhält Zuchthaus oder wird mit dem Tode bestraft. Der gewissenlose eigentliche Mörder – geht straflos aus, er heiratet vielleicht kurz darauf die Tochter einer »honetten, rechtschaffenen« Familie und wird ein sehr geehrter und frommer Mann. Es läuft mancher in Ehren und Würden umher, der in solcher Weise seine Ehre und sein Gewissen besudelte. Hätten die Frauen ein Wort in der Gesetzgebung mitzusprechen, in dieser Richtung würde manches anders. Offenbar werden viele Kindesmorde gar nicht entdeckt. Ende Juli 1899 wurde in Frankenthal a. Rh. ein Dienstmädchen unter Anklage gestellt, ihr neugeborenes uneheliches Kind im Rhein ertränkt zu haben. Die Staatsanwaltschaft forderte sämtliche Polizeibehörden von Ludwigshafen rheinabwärts bis an die holländische Grenze auf, zu berichten, ob innerhalb einer bestimmten Zeit eine Kindesleiche gelandet sei. Das überraschende Resultat dieser Aufforderung war, daß die Behörden in der betreffenden Zeit nicht weniger als 38 Kindesleichen, die aus dem Rhein gezogen worden waren, meldeten, deren Mütter aber bis dahin nicht ermittelt werden konnten.

Am grausamsten verfährt, wie schon erwähnt, die französische Gesetzgebung, welche die Frage nach der Vaterschaft verbietet, dafür aber die Findelhäuser gründete. Der bezügliche Beschluß des Konventes vom 28. Juni 1793 lautet: »La nation se charge de l'éducation physique et morale des enfants abandonnés. Désormais, ils seronts designés sous le seul nom d'orphelins. Aucune autre qualification ne sera permis.« (Die physische und moralische Erziehung der verlassenen Kinder ist Sache der Nation. Sie werden von Stund an unter dem einzigen Namen Waisen bezeichnet werden. Keine andere Bezeichnung ist erlaubt.) Das war für die Männerwelt sehr bequem, die damit die Verpflichtung des einzelnen auf die Gesamtheit abwälzte, um ihn öffentlich und vor seiner Frau nicht bloßzustellen. Man errichtete Landeswaisen- und Findelhäuser. Die Zahl der Waisen und Findlinge belief sich im Jahre 1833 auf 130.945; jedes zehnte Kind wurde als ein eheliches geschätzt, das die Eltern los sein wollten. Aber diese Kinder empfingen keine besondere Pflege, und so war ihre Sterblichkeit sehr groß. Es starben zu jener Zeit im ersten Lebensjahr volle 59 Prozent, also über die Hälfte; bis zum zwölften Lebensjahr starben 78 Prozent, so daß von je 100 nur 22 ein Alter von zwölf Jahren erreichten. Anfangs der sechziger Jahre existierten noch 175 Findelhäuser, 1861 wurden daselbst 42.194 enfants trouvés (Findlinge) eingeliefert, dazu kam 26.156 enfants abandonnés (verlassene Kinder) und 9.716 Waisen, zusammen 78.066 Kinder, die auf öffentliche Kosten verpflegt wurden. Im Jahre 1905 waren 3.348 Findlinge verzeichnet. Die Zahl der verlassenen Kinder betrug 84.271. Im ganzen ist die Zahl der verlassenen Kinder in den letzten Dezennien kaum vermindert.

In Österreich und Italien wurden ebenfalls Findelhäuser gegründet, deren Unterhalt der Staat übernimmt. »Ici on fait mourir les enfants« (hier tötet man die Kinder) soll ein Monarch als passende Inschrift für die Findelhäuser empfohlen haben. Aber in Österreich verschwinden diese allmählich; es gibt gegenwärtig deren nur noch 8, in welchen selbst anfangs der neunziger Jahre über 9.000 Kinder verpflegt wurden, während über 30.000 außerhalb der Anstalt untergebracht waren. Der Aufwand für dieselben belief sich auf gegen zwei Millionen Gulden. In den letzten Jahren hat die Zahl der Findelkinder eine bedeutende Abnahme erfahren, denn noch im Jahre 1888 wurden in Österreich einschließlich Galiziens 40.865 Kinder verpflegt, von denen 10.466 in Anstalten, 30.399 in Privatpflege untergebracht waren und einen Aufwand von 1.817.372 Gulden erforderten. Die Sterblichkeit war in den Anstalten geringer als bei den in Privatpflege untergebrachten Kindern, namentlich in Galizien. Hier starben im Jahre 1888 in den Anstalten 31,25 Prozent der Kinder, mithin mehr als in den Anstalten der anderen Länder; aber in der Privatpflege starben 84,21 Prozent, ein wahrhafter Massenmord. Es scheint, als sehe es die polnische Schlachzizenwirtschaft darauf ab, diese armen Würmer möglichst rasch ums Leben zu bringen.

In ganz Italien wurden während der Jahre 1894 bis 1896 aufgenommen 118.531 Kinder. Jährlicher Durchschnitt 29.633: Knaben 58.901, Mädchen 59.630; unehelich 113.141, ehelich 5.390 (nur 5 Prozent). Wie groß die Sterblichkeit war, ist aus der folgenden Zusammenstellung ersichtlich S. Turcsanyi und S. Engel, Das italienische Findelwesen. Vierteljahrshefte für öffentliche Gesundheitspflege 1903. 35. Band, S. 771. :

  1890 – 1892 1893 – 1896 1897
Zahl der Kinder, welche aufgenommen werden 91.549 109.899 26.661
Davon starben im ersten Lebensjahr 34.186 41.386 9.711
Dies gibt pro Hundert 37,3 37,6 36,4
Sterblichkeit der unehelichen Kinder in Italien 25,0 27,2 23,4
Sterblichkeit der ehelichen Kinder 18,0 17,5 15,9

Den Rekord schoß das Findelhaus Santa Cosa dell'Annunziata in Neapel, in dem im Jahre 1896 von 853 Säuglingen 850 starben. Noch im Jahre 1907 nahmen die Findelhäuser 18.896 Kinder auf. Für die Jahre 1902 bis 1906 betrug die Sterblichkeit dieser unglücklichen Würmer 37,5 Prozent, das heißt mehr als ein Drittel der unterstützten Kinder stirbt innerhalb des ersten Lebensjahres Handwörterbuch der Staatswissenschaften. 3. Auflage. 4. Band. 1909. Artikel Findelhäuser oder Findelanstalten. .

Es ist überhaupt eine allgemein anerkannte Tatsache, daß die unehelich geborenen Kinder in weit höherem Prozentsatz sterben als die ehelich geborenen. Nach der preußischen Statistik starben von je 10.000 Lebendgeborenen:

  1881 – 1885 1886 – 1890 1891 – 1895 1896 – 1900 1904
Eheliche Stadt 211 210 203 195 179
Land 186 187 187 185 172
Uneheliche Stadt 398 395 385 374 333
Land 319 332 336 336 306

»Es ist charakteristisch und für den engen Zusammenhang zwischen Prostitution und der traurigen Lage der Dienstboten und des ländlichen Gesindes ein entscheidender Beweis, daß von 94.779 unehelich Geborenen im Jahre 1906 nach dem Erwerbszweig ihrer Mütter beruflich zugehörig waren: zu den häuslichen Dienstboten 21.164, zu dem ländlichen Gesinde 18.869, also zusammen 40.033 oder 42 Prozent. Faßt man ländliches Gesinde und ländliche Taglöhnerinnen und Arbeiterinnen zusammen, so stellt sich deren Beteiligung auf 30 Prozent, während die Abhängigen in Industrie und Handwerk mit 14 Prozent (13.460) beteiligt sind« G. v. Mayr, a.a.O., S. 140. .

Die Differenz in den Todesfällen zwischen ehelichen und unehelichen Kindern macht sich namentlich im ersten Lebensmonat bemerkbar; in diesem ist durchschnittlich die Sterblichkeit der unehelich Geborenen dreimal so groß als die der ehelich Geborenen. Mangelnde Pflege während der Schwangerschaft, schwächliche Geburt und schlechte Pflege nach derselben sind die einfachen Ursachen. Die berüchtigte »Engelmacherei« und die Mißhandlungen helfen die Opfer vermehren. Auch die Zahl der totgeborenen Kinder ist bei den unehelich geborenen größer als bei den ehelichen, hauptsächlich wohl durch die Versuche eines Teiles der Mütter, schon während der Schwangerschaft den Tod des Kindes herbeizuführen. Dazu kommen noch die Kindesmorde, die sich der Kenntnis entziehen, weil das getötete Kind unter den Totgeborenen verborgen wird. »Den 205 Kindesmorden, welche die gerichtlichen Dokumente in Frankreich aufführen, sind sonach – meint Bertillon – noch wenigstens 1.500 angebliche Totgeburten hinzuzuzählen und 1.400 Fälle absichtlicher Tötung durch Aushungerung« Schnapper-Amdt, a.a.O., S. 181. .

Es kamen auf 100 Geborene Totgeborene:

  In den Jahren Ehelich Unehelich
Deutschland 1891 – 1900 3,15 4,25
Preußen 1900 – 1902 3,02 4,41
Sachsen 1891 – 1900 3,31 4,24
Bayern 1891 – 1900 2,98 3,61
Württemberg 1891 – 1900 3,30 3,48
Baden 1891 – 1900 2,62 3,35
Österreich 1895 – 1900 2,64 3,86
Schweiz 1897 – 1903 3,40 6,14
Frankreich 1891 – 1895 4,40 7,54
Niederlande 1891 – 1900 4,38 8,13
Dänemark 1893 – 1894 2,40 3,20
Schweden 1891 – 1895 2,46 3,30
Norwegen 1891 – 1900 2,47 4,06
Finnland 1891 – 1900 2,54 4,43
Italien 1891 – 1896 3,89 5,16 F. Prinzing, Die Ursachen der Totgeburten. Allgemeines Statistisches Archiv 1907. 7. Band, S. 43 bis 44.

Die Überlebenden rächen sich an der Gesellschaft für die ihnen widerfahrene Mißhandlung, indem sie einen ungewöhnlich großen Prozentsatz zu den Verbrechern aller Grade stellen.


 << zurück weiter >>