August Bebel
Die Frau und der Sozialismus
August Bebel

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Ferner sind die häuslichen Einrichtungen der weitaus größten Zahl der Kinder so dürftige, daß sie weder die nötige Bequemlichkeit, noch die Ordnung, noch die Ruhe finden, ihre Schularbeiten zu Hause zu verrichten oder angemessene Unterstützung finden. Oft fehlt dazu alles Notwendige. Die Wohnung ist mangelhaft und überfüllt, alle bewegen sich auf dem engsten Raume; das Mobiliar ist dürftig und bietet dem Kinde, das arbeiten will, nicht die geringste Bequemlichkeit. Nicht selten fehlen Licht, Luft und Wärme; die Lehr- und Arbeitsmaterialien sind, wenn überhaupt vorhanden, von der schlechtesten Qualität; häufig wühlt auch der Hunger in den Eingeweiden der Kleinen und raubt ihnen Sinn und Lust für ihre Tätigkeit. Außerdem werden viele Hunderttausende von Kindern zu allen möglichen häuslichen und gewerblichen Arbeiten herangezogen, die ihnen die Jugend vergällen und sie zur Erledigung ihrer so geringen Bildungsaufgaben unfähig machen. Auch haben oft die Kinder den Widerstand beschränkter Eltern zu überwinden, wenn sie sich die Zeit für ihre Schulaufgaben oder für das Spiel nehmen wollen. Kurz, der Hemmnisse sind so unendlich viele, daß man sich nur wundern muß, daß die Jugend noch so gut erzogen ist. Ein Beweis für die Gesundheit der Menschennatur und den ihr innewohnenden Drang nach Fortschritt und Vervollkommnung.

Die bürgerliche Gesellschaft erkennt selbst einen Teil dieser Übel an, indem sie dadurch die Jugenderziehung erleichtert, daß sie die Unentgeltlichkeit des Schulunterrichtes einführt und hier und da auch die Lehrmittel unentgeltlich gewährt, zwei Dinge, die noch Mitte der Achtziger Jahre der damalige sächsische Kultusminister gegenüber den sozialistischen Landtagsabgeordneten als »sozialdemokratische Forderungen« bezeichnete. In Frankreich, in dem nach langer Vernachlässigung die Volkserziehung um so größere Fortschritte machte, ist man, wenigstens in Paris, noch weitergegangen und gewährt die gemeinsame Speisung der Kinder auf Gemeindekosten. Die Armen erhalten das Essen unentgeltlich, und die Kinder bessersituierter Eltern haben dafür einen geringen Betrag an die Gemeindekasse zu bezahlen. Das ist also bereits eine kommunistische Einrichtung, die sich zur Zufriedenheit der Eltern und Kinder aufs beste bewährte.

Für die Unzulänglichkeit des heutigen Schulwesens – es kann öfter nicht die mäßigen Aufgaben, die es sich gestellt, erfüllen – spricht weiter, daß Tausende und aber Tausende von Kindern infolge mangelhafter Nahrung unfähig sind, ihren Schulpflichten zu genügen. Es vergeht kein Winter, in dem in unseren Städten nicht Tausende von Kindern vorhanden sind, die, ohne ein Frühstück genossen zu haben, in die Schule kommen. Die Ernährung von Hunderttausenden anderen ist ungenügend. Für alle diese Kinder wäre die öffentliche Verpflegung wie die Bekleidung eine große Wohltat; sie werden in einem Gemeinwesen, das sie durch ordentliche Verpflegung und Bekleidung lehrt, was es heißt, ein Mensch zu sein, kein »Zuchthaus« erblicken. Die bürgerliche Gesellschaft kann dieses Elend nicht leugnen, und so vereinigen sich mitleidige Seelen zur Gründung von Frühstücks- und Suppenanstalten, um auf dem Wege der Wohltätigkeit einigermaßen zu erfüllen, was Pflicht der Gesellschaft wäre. Auch greifen neuerdings eine Anzahl Gemeinden ein und gewähren armen Kindern die nötigste Verpflegung aus Gemeindemitteln. Alles, alles das ist unzulänglich und wird als Wohltat gewährt, was ein Recht sein sollte »Gegenwärtig bestehen in 20 Pariser Stadtteilen Schulkantinen, in denen Mittagskost – Fleisch und Gemüse – gereicht wird. Nur diese ist obligatorisch, doch gewähren mehrere Stadtviertel auch Frühstück und Vesper.« Helene Simon, Schule und Brot. S. 44. Hamburg 1907. Der Initiative der Arbeiterpartei ist es zu danken, daß in England eine Vorlage zur Regelung der Schulspeisung im Jahre 1906 einer Kommission überwiesen ist. .

Mit Recht werden in unseren Schulen die sogenannten häuslichen Schularbeiten möglichst beschränkt, weil man die Unzulänglichkeit der in der elterlichen Wohnung vollendeten Schularbeiten erkannte. Der Schüler wohlhabender Eltern ist gegen den ärmeren nicht nur durch die äußere Lage bevorzugt, sondern auch dadurch, daß öfter Bonnen oder Hauslehrer zur Verfügung stehen, die ihn unterstützen. Dagegen wird bei dem reichen Schüler Faulheit und Liederlichkeit dadurch begünstigt, daß der Reichtum der Eltern ihm das Lernen als überflüssig erscheinen lassen, ihm oft die moralisch verwerflichsten Beispiele vor Augen kommen und ihm die Verführung besonders nahetritt. Wer täglich und stündlich hört und sieht, wie Rang, Stand und Reichtum alles bedeuten, erlangt absonderliche Begriffe von dem Menschen und seinen Pflichten und von staatlichen und gesellschaftlichen Einrichtungen.

Streng genommen hat die bürgerliche Gesellschaft keine Ursache, sich über die kommunistische Kindererziehung, welche die Sozialisten erstreben, zu entrüsten, denn sie hat diese für bevorrechtete Kreise teilweise selbst eingeführt, nur in verzerrter Weise. Wir erinnern an die Kadettenhäuser, Militärwaisenhäuser, Alumnate, Seminarien, Priesterschulen usw. In diesen werden viele Tausend von Kindern, zum Teil aus den höchsten Ständen, in der einseitigsten und verkehrtesten Weise und in strengster klösterlicher Klausur erzogen und für bestimmte Berufe ausgebildet. Auch geben viele Angehörige der bessersituierten Klassen, die als Ärzte, Geistliche, Beamte, Fabrikherren, Gutsbesitzer, Großbauern usw. auf dem Lande oder in kleinen Orten wohnen, wo höhere Bildungsanstalten fehlen, ihre Kinder nach den größeren Städten in Pension und bekommen sie während des ganzen Jahres höchstens in den Ferien zu sehen.

Es ist also ein Widerspruch, wenn unsere Widersacher sich über eine kommunistische Kindererziehung und über Entfremdung der Kinder von den Eltern entrüsten, und selbst eine ähnliche Erziehung, nur in verhunzter, falscher und unzulänglicher Weise für ihre eigenen Kinder eingeführt haben. Auch über die Erziehung der Kinder der wohlhabenden Klassen durch Ammen, Bonnen, Gouvernanten, Hauslehrer ließe sich ein eigenes Kapitel schreiben, das seltsame Streiflichter auf ihr Familienleben werfen würde. Es würde sich zeigen, daß auch hier vielfach die Heuchelei herrscht und nichts weniger als ein Idealzustand, weder für die Lehrenden noch die Lernenden.

Entsprechend dem total veränderten Erziehungssystem, das die körperliche wie die geistige Entwicklung und Ausbildung der Jugend im Auge hat, muß die Zahl der Lehrkräfte wachsen. Für die Erziehung des Nachwuchses der Gesellschaft sollte in ähnlicher Weise gesorgt werden wie im Militärwesen für die Ausbildung der Soldaten, bei dem ein Unteroffizier auf acht bis zehn Gemeine kommt. Wird künftig eine ähnliche Schülerzahl von einem Lehrer unterrichtet, so ist erreicht, was erreicht werden muß. Auch wird die Einführung in die mechanischen Tätigkeiten, in den aufs vollkommenste eingerichteten Lehrwerkstätten, in die Garten- und Feldarbeiten, einen wesentlichen Teil der Jugenderziehung bilden. Man wird das alles mit Abwechslung und ohne Überanstrengung durchzuführen wissen, um möglichst vollkommen ausgebildete Menschen zu erziehen.

Die Erziehung muß ferner für beide Geschlechter gleich und gemeinsam sein. Die Trennung derselben rechtfertigt sich nur in den Fällen, wo die Verschiedenheit des Geschlechts sie zur absoluten Notwendigkeit macht. In dieser Art Erziehung sind uns bereits die Vereinigten Staaten weit voraus. Dort ist die Erziehung der beiden Geschlechter von der Primärschule bis zu den Universitäten eine gemeinsame. Nicht nur ist der Unterricht, sondern auch die Lehrmittel sind unentgeltlich, einschließlich der Gegenstände für die Handarbeit und den Kochunterricht, für den Unterricht in der Chemie und Physik und die Gegenstände, die der Schüler am Experimentier- und Arbeitstisch nötig hat. Mit den meisten Schulen sind Turnhallen, Badeeinrichtungen, Schwimmbassins, Spielhallen verbunden. In den höheren Schulen wird auch das weibliche Geschlecht im Turnen, Schwimmen, Rudern, Marschieren ausgebildet Professor Dr. Emil Hausknecht, Amerikanisches Bildungswesen. Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht der zweiten Städtischen Realschule zu Berlin. Ostern 1894. Gärtners Verlag. .

Das sozialistische Erziehungssystem wird noch Höheres leisten. Gehörig geregelt und geordnet und unter ausreichende Kontrolle gestellt, währt es bis zu dem Alter, in dem die Gesellschaft ihre Jugend für mündig erklärt. Nunmehr sind beide Geschlechter im vollsten Maße befähigt, allen Rechten und Pflichten in jeder Richtung zu genügen. Jetzt hat die Gesellschaft die Sicherheit, nur tüchtige, nach allen Seiten entwickelte Glieder erzogen zu haben, Menschen, denen nichts Menschliches fremd ist, die ebenso vertraut mit ihrer eigenen Natur und ihrem eigenen Wesen sind, wie mit dem Wesen und dem Zustand der Gesellschaft, in der sie als Vollberechtigte eintreten.

So werden die täglich sich mehrenden Auswüchse bei unserer heutigen Jugend, welche die natürliche Folge des in Fäulnis und Zersetzung begriffenen Gesellschaftszustandes sind, verschwinden. Ungebärdigkeit, Disziplinlosigkeit, Immoralität und rohe Genußsucht, wie sie insbesondere bei der Jugend unserer höheren Bildungsanstalten, auf unseren Gymnasien, Polytechniken, Universitäten usw. sich zeigen, Untugenden, die durch die Zerfahrenheit und Unruhe des häuslichen Lebens und die vergiftenden Einflüsse des sozialen Lebens hervorgerufen und gestärkt werden. Ebenso werden die üblen Einwirkungen des Fabriksystems, der Wohnungsmißverhältnisse, der Ungebundenheit und Selbständigkeit der Jugend in einem Alter, in dem der Mensch am meisten der Zügel und der Erziehung zur Selbstzucht und Selbstbeherrschung bedarf, ihr Ende erreichen. Alle diese Übel wird die künftige Gesellschaft, ohne daß sie nötig hat, zu Zwangsmitteln zu greifen, vermeiden. Die gesellschaftlichen Einrichtungen und die daraus hervorgehende und die Gesellschaft beherrschende geistige Atmosphäre machen sie unmöglich. Wie in der Natur nur Krankheiten und Zerstörung von Organismen eintreten können, wo ein Zersetzungsprozeß vorhanden ist, so auch in der Gesellschaft.

Niemand wird bestreiten wollen, daß unser heutiges Bildungs- und Erziehungswesen an großen und gefährlichen Übelständen krankt, und zwar sind davon mehr die höheren Schulen und Bildungsanstalten betroffen als die niederen. Eine Dorfschule ist ein Muster moralischer Gesundheit gegen ein Gymnasium, eine weibliche Handarbeitsschule für ärmere Kinder ein Muster an Moralität gegenüber einer großen Zahl vornehmer Pensionate. Der Grund ist nicht weit zu suchen. In den oberen Klassen der Gesellschaft ist jedes Streben nach höheren Zielen erstickt, sie haben keine Ideale mehr. Infolge des Mangels an Idealen und höherer zielbewußter Tätigkeit greift die Genußsucht und der Hang zur Ausschweifung mit ihren physischen und moralischen Auswüchsen um sich. Wie kann die Jugend, die in dieser Atmosphäre aufwächst, anders sein? Materieller Lebensgenuß ohne Maß und Grenze ist, was sie sieht und kennenlernt. Warum streben, wenn der Eltern Reichtum das Streben überflüssig erscheinen läßt? Das Bildungs maximum der großen Mehrzahl der Söhne unserer Bourgeoisie besteht in der Ablegung des Einjährig-Freiwilligenexamens. Ist dieses erreicht, so glauben sie, den Pelion und Ossa erstiegen zu haben und fühlen sich als Halbgötter. Haben sie ein Reserveoffizierspatent in der Tasche, so kennt ihr Stolz und Hochmut kaum noch eine Grenze. Den Einfluß, den diese in den meisten ihrer Glieder an Charakter und Wissen schwache, aber an Gesinnungstüchtigkeit und Strebertum starke Generation ausübt, kennzeichnet die gegenwärtige Periode als das Reserveoffizierszeitalter. Seine Eigentümlichkeit ist, viel Gesinnung, aber keinen Charakter und wenig Wissen zu haben. Man ist servil nach oben, hochmütig und brutal nach unten.

Die Töchter der höheren Klassen werden zu einem guten Teile zu Zierpuppen, Modenärrinnen und Salondamen erzogen, die von Genuß zu Genuß jagen und schließlich übersättigt an Langeweile und an allen möglichen eingebildeten und wirklichen Krankheiten leiden. Alt geworden, werden sie frömmelnde Betschwestern, Spiritisten und Gesundbeter, die über die Verderbtheit der Welt die Augen verdrehen und die Askese predigen. Für die unteren Schichten macht man Versuche, das Bildungsniveau herabzusetzen. Der Proletarier möchte zu klug werden, das Knechtschaftsverhältnis satt bekommen und sich wider seine irdischen Götter empören. Je dümmer die Masse ist, je leichter läßt sie sich beherrschen und regieren. »Der dümmste Arbeiter ist uns der liebste«, erklärten wiederholt ostelbische Großgrundbesitzer auf ihren Versammlungen. In diesem einen Satze liegt ein ganzes Programm.

So steht in bezug auf die Bildungs- und Erziehungsfrage die heutige Gesellschaft ebenso ziellos und ratlos da, wie in allen anderen sozialen Fragen. Was tut sie? Sie ruft nach dem Stocke und predigt Religion, das heißt Ergebenheit und Zufriedenheit denen, die nur allzu ergeben und zufrieden sind; sie lehrt Enthaltsamkeit dort, wo man sich schon des Notwendigsten enthalten muß, weil man es nicht besitzt. Die in ihrer Roheit sich auflehnen, bringt man in sogenannte Besserungsanstalten, die unter pietistischem Einfluß stehen. Damit ist die pädagogische Weisheit unserer Gesellschaft zu Ende. Die ganze Verderbtheit der Erziehungsmethoden für heruntergekommene Proletarierkinder zeigen die zahlreichen Mißhandlungsfälle, die von den leitenden Persönlichkeiten in den sogenannten Erziehungsheimen begangen werden und zu Strafprozessen gegen dieselben führen. Hier wurde enthüllt, wie ein religiöses Muckertum fanatischster Art mit sadistischer Freude Mißhandlungen haarsträubendster Art sich zuschulden kommen läßt. Und wie viel des Schrecklichen mag der Öffentlichkeit verborgen bleiben!


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